Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) befindet sich in einem Hochhaus mit 13 Stöcken. An Ihrem ersten Arbeitstag haben Sie jede Etage besucht. Wie haben Sie das erlebt?
Das war für mich ein super Einstieg, weil ich viele Leute kennenlernen konnte. Je nach Stock fand ich andere Atmosphären vor. So macht es beispielsweise einen Unterschied, ob die Bürotüren offen oder geschlossen sind. Grundsätzlich erschwert die Architektur hier an der Effingerstrasse die Zusammenarbeit, denn man muss immer das Stockwerk wechseln. Umso wichtiger ist, dass wir die Zusammenarbeit weiter fördern.
Wie werden Sie das machen?
In erster Linie gilt es das Silodenken zu überwinden, das typisch ist für öffentliche Verwaltungen. Hilfreich sind gemeinsame Werte und ein guter Informationsfluss. Es braucht den Willen, sich über die Geschäftsfelder hinweg auszutauschen. Jede und jeder soll wissen, was im Stock oben oder unten gemacht wird. Ich möchte auch das themenübergreifende Arbeiten fördern: Teamarbeit, Projektarbeit bis hin zu Jobrotation innerhalb des Amts.
An welche gemeinsamen Werte denken Sie?
Für mich ist werteorientierte Führung wichtig – also das Betonen von Wertvorstellungen. Zentral ist der Dienstleistungsgedanke: Wir erbringen Dienstleistungen für das Parlament, das Departement und die Öffentlichkeit, aber auch innerhalb des BSV untereinander. Diesen Teamgeist habe ich in meinen ersten Wochen im BSV bereits erlebt. Daneben ist für mich auch die Verantwortung beim Einsatz von öffentlichen Geldern – von Steuergeldern oder Lohnbeiträgen – wichtig. Und schliesslich müssen wir versuchen zu antizipieren, indem wir uns fragen: Was kommt auf uns zu?
Wie lassen sich diese Ideen angesichts der beschränkten Ressourcen des Bundes umsetzen?
Mit dieser Situation sind alle Verwaltungseinheiten konfrontiert. Das bedingt, dass an effizienten Abläufen gearbeitet wird, dass man Unnützes weglässt und Prioritäten setzt. Ein besonderer Effort ist von den Führungskräften gefragt.
Inwiefern?
Als Führungskraft muss man manchmal auch unangenehme Entscheide treffen. Etwa, wenn man zum Schluss kommt, dass auf bestimmte Aufgaben verzichtet werden kann.
Seit der Pandemie ist Homeoffice auch beim Bund verbreitet. Wie sehen Sie diesen Trend?
Für viele Menschen ist Homeoffice wichtig für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, aber auch für die Lebensqualität. Es ist aber anspruchsvoll in der Führung. Vorgesetzte müssen mehr in die Teambildung investieren, um die Identifikation mit der Arbeit hochhalten zu können. Es bedingt auch das Hinterfragen des eigenen Führungsstils.
Das BSV vereinigt neben den Sozialversicherungen auch familien- und gesellschaftspolitische Themen auf sich. Welche Herausforderungen bringt diese Themenvielfalt mit sich?
Inhaltlich sind die gesellschaftspolitischen Themen und die Sozialversicherungen verbunden: Es geht stets um das gemeinsame Zusammenleben. Die Herausforderung liegt in der Gesellschaftspolitik jedoch darin, dass die Kompetenzordnung und die Finanzierung weniger klar geregelt sind als bei den Sozialversicherungen. So sind in der Schweiz für sozialpolitische Anliegen in erster Linie die Kantone und die Gemeinden zuständig, gleichzeitig hat die Politik dem Bund gewisse Aufgaben übertragen. Und diese Aufgaben sind häufig nicht genügend ausfinanziert.
Können Sie ein Beispiel geben?
Etwa der Umgang von Kindern und Jugendlichen mit digitalen Medien. Hier ist die Kompetenzlage nur schwach geregelt, und entsprechend sind die Mittel, die der Bund dafür einsetzen kann, relativ bescheiden. Gleichzeitig ist der politische Druck, hier präsenter zu sein, hoch, weil der Umgang mit digitalen Medien viele Familien in der Schweiz beschäftigt. Da sind Antworten gefordert – auch vom Bund.
«Beim Umgang von Jugendlichen mit digitalen Medien sind Antworten gefordert – auch vom Bund»
Welche weiteren gesellschaftspolitischen Themen stehen für Sie im Fokus?
Ein wichtiges Thema ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, wo eine enge Verbindung zu den Sozialversicherungen besteht: Indem wir die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern, können wir zum Beispiel den «Gender Pension Gap» verringern – also die Unterschiede in der Rentensituation zwischen Frauen und Männern. Denn Mutterschaft geht oft mit einem Einkommensverlust einher, der sich auf die Altersvorsorge auswirkt.
Mit welchen Massnahmen lässt sich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern?
Da passiert bereits einiges. Das Parlament hat mit der Anstossfinanzierung für Kitas und Tagesschulen einen wichtigen Grundstein gelegt – dadurch konnte das Angebot an Betreuungsplätzen ausgebaut werden. Jetzt geht es vor allem darum, dass dieses Angebot auch finanzierbar bleibt. Eine wirkungsvolle Massnahme sind die Betreuungszulagen, die aktuell im Parlament diskutiert werden.
Haben Sie weitere Prioritäten?
Einen weiteren Fokus möchte ich auf die alternde Gesellschaft legen – insbesondere auf die Wohn- und Betreuungssituation älterer Menschen. Auch das hat mit Vereinbarkeit zu tun, denn es geht um Betreuungsarbeit, die meist von Frauen übernommen wurde, die heute aber viel stärker im Erwerbsleben stehen. Hier braucht es gute Betreuungsangebote für eine wachsende Zahl von Menschen.
Auch dafür sind in erster Linie die Kantone zuständig.
Absolut – aber die Sozialversicherungen spielen eine zentrale Rolle bei der Finanzierung der Betreuung. Sei es über die AHV und die berufliche Vorsorge oder – gerade für Menschen mit bescheidenen finanziellen Mitteln – über die Ergänzungsleistungen. Wir dürfen nicht vergessen: Für die Finanzierung der Pflege im Heim sind die Ergänzungsleistungen entscheidend. Ohne diese könnten viele die Heimkosten gar nicht tragen.
In der zweiten Säule ist die BVG-Reform letztes Jahr deutlich gescheitert. Grosse Reformen scheinen schwierig.
Ja, schon drei Reformversuche sind gescheitert. Wir befinden uns in der zweiten Säule in einem Dilemma: Wenn man die Vorsorge für tiefe Einkommen verbessern will, kommt man um eine Anpassung des Mindestumwandlungssatzes nicht herum. Aber genau diese Anpassung erfordert Kompensationsmassnahmen – und die sind teuer, gerade für tiefe Einkommen. Das wiederum findet politisch kaum Mehrheiten.
Was ist zu tun?
Am erfolgversprechendsten in der beruflichen Vorsorge scheinen mir strukturelle Reformen. Die Mehrheit der Versicherten ist mittlerweile in Sammeleinrichtungen versichert. Denn viele Unternehmen haben ihre berufliche Vorsorge an solche Einrichtungen ausgelagert, die untereinander im Wettbewerb stehen. Diese neue Marktstruktur muss aber weiterhin als Teil der Sozialversicherung verstanden werden – und nicht als Geschäftsmodell. Hier braucht es aus meiner Sicht eine gesetzliche Klärung und so die stärkere Ausrichtung als Sozialversicherung.
Die gescheiterte BVG-Reform setzte etwa auf einen tieferen Koordinationsabzug, um die Vorsorge für kleine Einkommen zu verbessern. Wie beurteilen Sie das?
Eine Ausweitung des Obligatoriums führt zu höheren Lohnkosten für die Unternehmen – und zu tieferen Nettolöhnen für die Arbeitnehmenden. Beides sind Massnahmen, die nicht besonders beliebt sind. Die Branchen, die sich das leisten können, haben den Koordinationsabzug in den letzten Jahren ohnehin schon gesenkt. Dementsprechend ist auch der Druck für eine Gesetzesanpassung nicht mehr so gross. Kommt hinzu: Für tiefe Einkommen ist die AHV die effizientere Absicherung, weil sie im Gegensatz zur zweiten Säule solidarisch finanziert ist. Das ist in unserem Mehrsäulensystem auch so gewollt: Die AHV funktioniert besonders gut für tiefe Einkommen, während die Stärken der zweiten Säule bei höheren Einkommen zum Tragen kommen.
«Für tiefe Einkommen ist die AHV die effizientere Absicherung»
In der ersten Säule läuft im Moment politisch viel – denken wir an die 13. AHV-Rente, die Witwenrenten, die Mitte-Initiative und die Reform AHV 2030. Wie bringt man hier wieder Ordnung rein?
Für mich steht die Finanzierung der 13. AHV-Rente an erster Stelle. Ohne eine Zusatzfinanzierung drohen der AHV schwierige Jahre. Da muss ich darauf vertrauen, dass das Parlament zu einer tragfähigen Lösung kommt. Was die anderen Reformprojekte betrifft: Es ist wichtig, dass die Reformprojekte den heutigen Lebensrealitäten der Menschen entsprechen. Die finanzielle Stabilität der AHV hat oberste Priorität.
Lässt sich das Referenzalter langfristig bei 65 Jahren halten?
Das Referenzalter wurde erst mit der jüngsten AHV-Reform im Jahr 2024 eingeführt. Es betont die Flexibilität beim Rentenbezug zwischen 63 Jahren und 70 Jahren. Nun gilt es Erfahrungen zu sammeln: Führen die neuen Instrumente dazu, dass Menschen, die noch motiviert und leistungsfähig sind, über 65 Jahre hinaus arbeiten? Denn das ist matchentscheidend für künftige Diskussionen über eine allfällige Erhöhung des Referenzalters. Ohne diese gelebte Realität wird es schwierig, dafür eine Mehrheit zu finden. Was man aber bereits sagen kann: Die Diskussion rund um das Referenzalter hat auch der Frage nach der Lebensarbeitszeit neuen Schub gegeben. Je nach Beruf und körperlicher Belastung sind individuellere Abstufungen denkbar.
In der Invalidenversicherung plant der Bundesrat ebenfalls eine Revision. Warum?
Bei der IV stehen wir finanziell vor einer sehr schwierigen Situation. Es gibt eine klare Unterfinanzierung, und gleichzeitig gelingt es der IV nicht, ihre Schulden gegenüber der AHV abzubauen – über 10 Milliarden Franken sind da offen. Gleichzeitig verzeichnen wir eine Zunahme von Neurenten in allen Alterskategorien, aber insbesondere bei jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen. Das ist auch gesellschaftspolitisch bedenklich: Eine frühe IV-Rente bietet für junge Menschen wenig Perspektiven. Unser Ziel muss sein, ihnen eine Chance auf Erwerbstätigkeit zu geben – mit einer echten Integration in den Arbeitsmarkt. Bereits die letzte IV-Reform hat dazu neue Instrumente geschaffen, deren Wirkung sich nun entfalten muss. Die Rente darf nur die letzte Option sein, wenn gar nichts anderes mehr geht.
«Die IV-Rente darf nur die letzte Option sein»
In welche Richtung könnte es hier gehen?
Eine der Ideen, die der Bundesrat derzeit prüft, ist, die Rentenzusprache bei jungen Erwachsenen zu verzögern und stattdessen eine noch stärkere individuelle Unterstützung anzubieten, eine gezielte finanzielle Hilfe für den Integrationsprozess.
Wie wollen Sie die IV finanziell entlasten?
Im Vordergrund steht die Lebensperspektive der jungen Menschen: Eine Erwerbstätigkeit kann ein wichtiger Schritt zur Genesung sein – zur besseren Gesundheit und zu mehr Selbstständigkeit. Wenn wir es schaffen, die Zahl der Neurenten zu stabilisieren, hat das langfristig positive Auswirkungen auf die Finanzen der IV. Aber es ist klar: Eine verstärkte Integration ist nicht umsonst zu haben. Um zusätzliche Einnahmen kommen wir wohl nicht herum.
Eine Eigenschaft des schweizerischen Systems ist der Föderalismus. Wie erleben Sie diese Zusammenarbeit über die Staatsebenen hinweg?
Der Föderalismus bietet in der Sozialpolitik viele Vorteile. Er schafft Bürgernähe und ermöglicht Vielfalt – quasi ein Laboratorium für neue Ansätze. So können in einzelnen Kantonen Innovationen entstehen, die andernorts kaum möglich wären. Davon können andere Kantone oder der Bund lernen. Das bedingt natürlich eine enge Vernetzung – und ich spüre, dass das BSV hier sehr gut aufgestellt ist. Der Austausch funktioniert.
Haben Sie ein positives Beispiel aus einem Kanton?
In der Armutsbekämpfung sind einige Kantone sehr proaktiv unterwegs. Zum Beispiel bei den Ergänzungsleistungen für armutsbetroffene Familien. Ein anderes Beispiel ist der Vaterschaftsurlaub: Auch hier haben einige Kantone vorgelegt, und der Bund hat später nachgezogen.
«Es braucht nun den digitalen Zugang zur ersten Säule»
Im September hat das Stimmvolk die E-ID knapp angenommen. Löst dies nun einen Digitalisierungsschub in den Sozialversicherungen aus?
Die E-ID hilft sicher, sie ist aber nicht zwingend für die Digitalisierung der Sozialversicherungen. Was wir brauchen, sind einfachere Verfahren, mehr Transparenz und bessere Informationsmöglichkeiten – sowohl für die Versicherten als auch für die Unternehmen. Mit dem neuen Bundesgesetz über Informationssysteme in den Sozialversicherungen, das der Bundesrat im September verabschiedet hat, sind wir in der ersten Säule einen Schritt weiter. Damit kann bald eine Plattform für die erste Säule entstehen – also eine digitale Lösung, über die sich Versicherte unkompliziert über ihre eigene Situation informieren können.
Wird es dereinst eine Plattform geben, die alle drei Säulen umfasst?
Ich hoffe es. Das Parlament hat in der Herbstsession eine Motion überwiesen, die in diese Richtung geht. Eine Übersicht über die eigene Rentensituation macht aus Sicht der Versicherten durchaus Sinn. Dazu braucht es nun den digitalen Zugang zur ersten Säule. Denn die zweite und die dritte Säule sind heute schon weitgehend digitalisiert. Anschliessend können die Informationen miteinander verknüpft werden.
Doris Bianchi
Die 50-jährige Doris Bianchi ist seit September 2025 Direktorin des Bundesamts für Sozialversicherungen. Zuvor leitete die promovierte Juristin die Pensionskasse des Bundes Publica, war persönliche Mitarbeiterin von Alt-Bundesrat Alain Berset und geschäftsführende Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds.