Anstossfinanzierung: Entspricht das Betreuungsangebot der Nachfrage?

Die Anstossfinanzierung leistet einen wichtigen Beitrag an den Ausbau der familienergänzenden Kinderbetreuung. Trotz des Erfolgs gibt es allerdings immer noch erwähnenswerte Diskrepanzen zwischen dem aktuellen Angebot und der Nachfrage der Eltern.
Oliver Bieri, Andreas Balthasar, Christina Felfe
  |  02. März 2018
    Forschung und Statistik
  • Familie
  • Gesellschaft
  • Gleichstellung

Das Bundesgesetz über Finanzhilfen für familienergänzende Kinderbetreuung trat 2003 in Kraft und hat die Schaffung zusätzlicher Plätze für die Tagesbetreuung von Kindern zum Ziel (sog. Anstossfinanzierung und neue Finanzhilfen, mit denen die Erhöhung der kantonalen und kommunalen Subventionen angestrebt wird und die das Parlament Mitte Juni 2017 beschlossen hat). Interface Politikstudien Forschung Beratung Luzern hat gemeinsam mit dem Schweizerischen Institut für Empirische Wirtschaftsforschung der Universität St. Gallen im Auftrag des Bundesamts für Sozialver­sicherungen (BSV) untersucht, ob das aktuelle Angebot an familienergänzender Kinderbetreuung die Nachfrage jener Eltern zu decken vermag, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, eine solche aufnehmen möchten oder sich in Ausbildung befinden. Dazu wurden Angaben zum Betreuungsangebot für Kinder im Vorschul- und im Schulalter sowie Informationen zur Nachfrage gesammelt. Ein zentrales Element der Studie war die Befragung von Haushalten mit Kindern im Alter von 0 bis 16 Jahren (vgl. Infobox). Dabei konnten sich die Eltern zu den aktuellen Betreuungsformen sowie zu ihrem Betreuungsbedarf äussern.

Aktuelles Angebot an familienergänzender Kinderbetreuung Auf der Basis von Angaben der Kantone und Hochrechnungen kommt die Studie zum Schluss, dass es derzeit rund 62 500 Betreuungsplätze für Kinder im Vorschulalter gibt. Für Schulkinder sind rund 81 000 Plätze am Mittag vorhanden; am Morgen, aber auch am Nachmittag ist das Angebot deutlich kleiner. Damit steht für 18 Prozent der Kinder im Vorschulalter ein Vollzeitplatz und für 13 Prozent der Schulkinder eine Mittagsbetreuung zur Verfügung. Der Versorgungsgrad ist in der Westschweiz und in urbanen Gebieten am höchsten. Zusätzlich betreuen schätzungsweise 8200 bis 9600 Tagesfamilien Kinder aller Altersstufen .

Untersuchungsdesign

Ausgehend von einer Stichprobe mit 2572 Haushalten aus 30 Gemeinden (unterschiedliche Sprachregionen, Grössen und Urbanisierungsgrade) konnten sich Eltern zu ihren aktuellen Betreuungsformen und zu ihrem Betreuungsbedarf äussern. Die Befragung fand im Frühjahr 2017 statt und lieferte Daten zur Kinderbetreuung in 1181 Haushalten mit 1897 Kindern. Die Antworten wurden primär über einen Online-Fragebogen erfasst. Wurde dieser nicht ausgefüllt, erfolgte eine telefonische Kontaktnahme. Es wurde eine Rücklaufquote von 46 Prozent erreicht. Folgende Fallstudiengemeinden wurden in der Befragung berücksichtigt:

Deutsches Sprachgebiet: Adliswil (ZH), Pfäffikon (ZH), Köniz (BE), Schwarzenburg (BE), Escholzmatt-Marbach (LU), Hünenberg (ZG), Herisau (AR), Basel (BS), Schaffhausen (SH), Grenchen (SO), St. Gallen (SG), Mels (SG), Unterentfelden (AG), Romanshorn (TG), Bischofszell (TG)

Französisches Sprachgebiet: Romont (FR), Avenches (VD), Lausanne (VD), Renens (VD), Vevey (VD), Saint-Léonard (VS), La Chaux-de-Fonds (NE), Val-de-Ruz (NE), Le Grand-Saconnex (GE), Porrentruy (JU)

Italienisches Sprachgebiet: Roveredo (GR), Bellinzona (TI), Minusio (TI), Tenero-­Contra (TI), Lugano (TI)

Hohe Bedeutung der informellen familien­ergänzenden Kinderbetreuung Die Angaben aus der Elternbefragung ermöglichen ein differenziertes Bild der Nutzung verschiedener Formen der Kinderbetreuung durch Kinder im Vorschul- und im Schulalter, differenziert nach Städten, Agglomerationsgemeinden und kleineren, ländlichen Gemeinden.

Die Untersuchung zeigt, dass in den Fallstudiengemeinden 34,4 Prozent der Kinder im Vorschulalter abgesehen von den Eltern ausschliesslich informell, das heisst durch Gross­eltern, andere Verwandte, Bekannte, Freunde oder Nachbarn betreut werden. Demgegenüber besuchen 19,4 Prozent der Kinder im Vorschulalter ausschliesslich formelle Strukturen wie Kindertagesstätten, Tagesfamilien usw. Weitere 15,5 Prozent werden sowohl formell als auch informell, die restlichen Vorschulkinder (30,7 Prozent) ausschliesslich durch die Eltern betreut. Die Befragung weist darauf hin, dass Eltern in den Fallstudiengemeinden der Westschweiz häufiger auf eine Betreuung in Kindertagesstätten zurückgreifen als Eltern in der deutsch- und der italienischsprachigen Schweiz. Während in der Westschweiz der Anteil der Vorschulkinder, die in einer Kindertagesstätte betreut werden, 43,1 Prozent beträgt, liegt ihr Anteil in der Deutschschweiz bei 23,9 Prozent und in der italienischsprachigen Schweiz bei 23,5 Prozent. Differenziert nach Gemeindetyp liegt der Anteil der durch Tagesfamilien betreuten Kinder in kleineren, ländlichen Gemeinden höher als in grösseren Gemeinden oder einer urbanen Umgebung. Dasselbe trifft auf die Betreuung durch Verwandte zu: In kleineren, ländlichen Gemeinden ist der Anteil der Kinder, die durch Gross­eltern und andere Verwandte betreut werden, überdurchschnittlich hoch.

Abgesehen von der Obhut durch die Eltern ist auch für Kinder im Schulalter die Betreuung durch Grosseltern und andere Verwandte die häufigste Form der familienergänzenden Kinderbetreuung. Daneben rücken erwartungsgemäss verschiedene Formen der schulergänzenden Betreuung in den Fokus. Westschweizer Schulkinder gehen häufiger in eine Kindertagesstätte oder eine Tagesfamilie als ihre Altersgenossen im Tessin oder in der Deutschschweiz. Mittagstische und Tageschulen werden im italienischen Sprachgebiet überdurchschnittlich oft genutzt.

Gründe für die Wahl der formellen Kinder­betreuung Der wichtigste Grund für die Beanspruchung formeller Kinderbetreuung ist die Erwerbstätigkeit der Eltern (68,1 % der Nennungen). Weiter wird die fehlende Möglichkeit der informellen Betreuung relativ häufig als Grund für die Beanspruchung formeller Kinderbetreuung genannt (19,7 % der Nennungen). Es folgen weitere Gründe wie Qualität der Betreuungsform betreffend Personal, Räumlichkeiten und/oder Organisation der Betreuung/Angebote (19,1 % der Nennungen), die Lage, das heisst die Nähe der Betreuungseinrichtung zum Wohn- beziehungsweise Arbeitsort (18,0 % der Nennungen) und der Preis (11,6 % der Nennungen).

Ungedeckter Bedarf bei rund einem Fünftel der Kinder Aus den Ergebnissen der Elternbefragung liess sich der gedeckte und der ungedeckte Betreuungsbedarf differenziert nach Vorschul- und Schulalter ermitteln (vgl. Grafik G1).

Es zeigt sich, dass die Eltern von 22,6 Prozent der Kinder im Vorschulalter und von 29,6 Prozent der Kinder im Schulalter weder eine formelle noch eine informelle Betreuung benötigen. 53,8 Prozent der Kinder im Vorschulalter und 49,2 Prozent der Kinder im Schulalter sind bedarfsgemäss, d. h. in der von den Eltern gewünschten Form und im gewünschten Umfang betreut. Weiter haben die Eltern für 3,7 Prozent der Kinder im Vorschulalter und 3,2 Prozent der Kinder im Schulalter angegeben, dass sie sich weniger Betreuung wünschen. Die Gründe dafür sind nicht bekannt. Möglicherweise können diese Eltern nicht teilzeitlich arbeiten oder die Kindertagesstätte definiert einen minimalen Betreuungsumfang. Schliesslich melden die Eltern von 19,9 Prozent der Kinder im Vorschulalter und von 18,0 Prozent der Kinder im Schulalter zusätzlichen Betreuungsbedarf an. Bei der Beurteilung der ungedeckten Nachfrage gilt es indes zu berücksichtigen, dass sich der Bedarf schnell ändern kann, wenn sich strukturelle und/oder individuelle Faktoren ändern. Dazu gehören beispielsweise das verfügbare Angebot oder die Tarife der Kinderbetreuung, aber auch Veränderungen beim privaten Betreuungsnetz.

Ungedeckten Bedarf in Städten und Agglomerationsgemeinden Der ungedeckte Bedarf von Familien mit Kindern im Vorschulalter liegt in den Fallstudiengemeinden der deutschsprachigen Schweiz bei 21,7 Prozent, in jenen der Westschweiz bei 16,5 Prozent und in jenen der italienischsprachigen Schweiz bei 19,1 Prozent. In den untersuchten Städten und vor allem in den Agglomerationsgemeinden der französisch- und deutschsprachigen Schweiz liegt er überdies höher als in den dortigen ländlichen Fallstudiengemeinden. Für die italienischsprachige Schweiz lässt sich dazu keine Aussage machen.

Auch bei Kindern im Schulalter ist der zusätzliche Betreuungsbedarf in der deutschsprachigen (22,4 %) höher als in der französischsprachigen (13,3 %) und der italienischsprachigen (13,5 %) Schweiz. Ebenso ist die ungedeckte Nachfrage in den Städten und Agglomerationsgemeinden der Deutsch- und Westschweiz grösser als in den dort untersuchten ländlichen Gemeinden.

Während die Eltern von Kindern im Vorschulalter ihren ungedeckten Betreuungsbedarf vor allem durch eine Kindertagesstätte sowie durch die Grosseltern und andere Verwandte abdecken möchten, wünschen sich Eltern von Schulkindern am Mittag sowie nach der Unterrichtszeit schulergänzende Betreuungsformen.

Bei Eltern mit zusätzlichem Betreuungs­­bedarf ist der Preis der wichtigste Grund für die Nichtinanspruchnahme von Kinder­betreuung Eltern, die keine familienergänzende Kinderbetreuung nutzen, obschon sie Betreuungsbedarf hätten, wurden gebeten, ihren Verzicht auf der Basis von vorgegebenen Antworten näher darzulegen (vgl. Tabelle T1).

Die Eltern von 43,1 Prozent der Vorschul- und von 25,2 Prozent der Schulkinder begründeten ihren Verzicht auf familienergänzende Kinderbetreuung mit dem Preis der Betreuung. Dieser war insbesondere für Familien in den grossen und mittelgrossen Deutschschweizer Gemeinden der Hauptgrund, auf die gewünschte Kinderbetreuung zu verzichten. Bei 10,3 Prozent der Kinder im Vorschulalter bzw. 11,9 Prozent der Kinder im Schulalter verweisen die Eltern auf nicht vorhandene formelle Angebote, während für 10,3 Prozent der Eltern von Vorschulkindern und 17,0 Prozent der Eltern von Schulkindern das fehlende informelle Angebot den Ausschlag gab, auf eine Kinderbetreuung zu verzichten. Mit einem Anteil von jeweils lediglich 3 bis 6 Prozent fielen die weiteren Antwortoptionen, wie eingeschränkte Öffnungszeiten, Personal oder Räumlichkeiten deutlich weniger ins Gewicht.

Fazit: Angebot und Nachfrage sind nicht ­überall ausgeglichen Obschon die Anstossfinanzierung wesentlich zum Ausbau der familienergänzenden Kinderbetreuung beigetragen hat, bestehen weiterhin regionale und lokale Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage. Um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiter zu fördern, erscheint es daher zweckmässig, die bisherige An­­stossfinanzierung auf nationaler Ebene über den Januar 2019 hinaus weiterzuführen. Kantone und Gemeinden, deren Angebot an familienergänzender Kinderbetreuung aktuell besonders klein ist, sollten die neuen Finanzhilfen des Bundes, mit denen die Erhöhung der kantonalen und kommunalen Subventionen angestrebt wird, nutzen, um die Elterntarife zu senken. Zudem erscheint es sinnvoll, das Potenzial von Tagesfamilien, die in Vereine oder in Netzwerke eingebunden sind, besser auszuschöpfen. Tagesfamilien sind flexibel und können räumlich nahe Betreuungslösungen auch in weniger dicht besiedelten Regionen anbieten. Damit sich die Entwicklung der familienergänzenden Kinderbetreuung und die Wirksamkeit der getroffenen Massnahmen besser bewerten lassen, wäre es schliesslich sinnvoll, geeignete gesetzlichen Grundlagen für eine entsprechende gesamtschweizerische Statistik zu schaffen.

Dr. phil. I, Bereichsleiter Soziales und demografischer Wandel, Interface Politikstudien Forschung Beratung GmbH.
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Prof. Dr., Titularprofessor für Politikwissenschaft, Universität Luzern; Senior Consultant, Interface Politikstudien Forschung Beratung GmbH.
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PhD, professeure-assistante au Schweizerisches Institut für Empirische Wirtschaftsforschung, Université de Saint-Gall.
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