Evaluation Assistenzbeitrag 2012–2016

Der Assistenzbeitrag erhöht die Lebensqualität von Menschen mit einer Behinderung und ist für ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben im eigenen Zuhause wichtig. ­Obschon Angehörige entlastet werden, ist deren zeitliche Beanspruchung immer noch hoch. Für eine Mehrheit der Bezüger ist die Administration des Assistenzbeitrags eine Belastung.
Jürg Guggisberg
  |  01. Juni 2018
    Forschung und Statistik
  • Invalidenversicherung

Seit 2012 ermöglicht der Assistenzbeitrag Personen, die eine Hilflosenentschädigung (HE) beziehen, Assistenzpersonen anzustellen, welche die regelmässig benötigten Hilfeleistungen erbringen. Für die Evaluation der ersten fünf Jahre wurden einerseits die Registerdaten und andererseits die schriftliche Befragung aller Neubezügerinnen und -bezüger ausgewertet. Die Teilnahmequote lag bei 65 Prozent und kann als sehr hoch bezeichnet werden. Dieser Beitrag fokussiert sich mehrheitlich auf die erwachsenen Assistenzbezügerinnen und -bezüger. Detailliertere Ergebnisse zu den Minderjährigen finden sich im vom BSV herausgegeben Hauptbericht «Evaluation Assistenzbeitrag» (Guggisberg/Bischof 2017).

Entwicklung der Nachfrage Zwischen 2012 und 2016 bezogen insgesamt 2171 erwachsene Personen einen Assistenzbeitrag. Ihre Zahl nimmt seit der Lancierung relativ konstant um rund 400 Personen pro Jahr zu. Daneben sind 241 Abgänge (11 %) zu verzeichnen: Mehr als die Hälfte dieser Personen ist verstorben (149 Personen). Die restlichen 92 haben den Assistenzbeitrag aus eigener Entscheidung oder aufgrund fehlender Voraussetzungen nicht mehr in Anspruch genommen. Die meistgenannten Gründe für einen Ausstieg sind der Grundsatz der IV, Familienangehörige nicht als Assistenzpersonen anzuerkennen, die hohe Belastung durch die Administration des Beitrags, Schwierigkeiten bei der Rekrutierung geeigneter Assistenzpersonen sowie gesundheitliche Aspekte. In derselben Periode haben insgesamt 487 Minderjährige einen Assistenzbeitrag erhalten.

Mit 1747 Erwachsenen (ohne Übertritte in die AHV), die 2016 Assistenzleistungen bezogen, ist die Nachfrage im Vergleich zum prognostizierten Durchschnittswert von 3000 erwachsenen Bezügerinnen und Bezügern eher tief. Entwickelt sich der Bestand im bisherigen Tempo weiter, dürfte er bis 2020 auf rund 3000 Assistenzbeziehende anwachsen. Mit zunehmender Dauer ist jedoch mit einer jährlich steigenden Anzahl von Personen zu rechnen, die aus verschiedenen Gründen die Leistung nicht mehr beanspruchen werden (Versterben, Verschlechterung des Gesundheitszustands, Übertritte in die AHV, Übertritte in Heime etc.). Erst dann wird sich zeigen, ob sich der Bestand bei rund 3000 Personen einpendelt oder ob er darüber oder darunter liegt. Der effektive Bestand der minderjährigen Assistenzbeziehenden betrug im Jahre 2016 386 Personen.

Wer bezieht einen Assistenzbeitrag? Erwachsene Assistenzbezügerinnen und -bezüger mit einer Hilflosigkeit schweren Grades mit Anspruch auf eine HE verfügen deutlich häufiger über ein Assistenzbudget (10,1 %) als solche mit einer Hilflosigkeit mittleren (4,3 %) oder leichten Grades (3,1 %). Insbesondere in der Anfangsphase bezogen überdurchschnittlich viele Personen mit einer Hilflosigkeit schweren Grades einen Assistenzbeitrag (vgl. Grafik G1). Danach hat sich ihr Anteil an den jährlichen Neuzugängen reduziert, was auf eine Stabilisierung der Bezugsraten nach Hilflosigkeitsgruppen hindeutet.

Der Anteil der Bezüger und Bezügerinnen einer HE, die zugleich einen Assistenzbeitrag erhalten, variiert auch zwischen den Kantonen beträchtlich. Die Spannweite liegt zwischen 2,1 und 8,2 Prozent. Die kantonalen Unterschiede sind nur zu einem sehr geringen Teil mit der kantonal unterschiedlichen Verteilung der Bezüger und Bezügerinnen nach der Schwere ihrer Hilflosigkeit zu erklären. Gar kein Zusammenhang besteht mit dem Urbanisierungsgrad oder der Kantonsgrösse (Anzahl der Einwohner/-innen). Signifikant mehr Bezüge von Assistenzbeiträgen gibt es dagegen in Kantonen, die der Handlungsprämisse «Gespräch vor Akten» im Abklärungsprozess eine vergleichsweise hohe Priorität einräumen. In solchen IV-Stellen sind die Chancen, dass eine Person mit Hilflosigkeit einen Assistenzbeitrag bezieht, rund 50 Prozent höher als in allen anderen IV-Stellen.

Höhe und Inanspruchnahme des Assistenzbei­trags Im Erhebungszeitraum beträgt der Median des monatlich (maximal) zur Verfügung stehenden bzw. anerkannten Assistenzbeitrags bei den Erwachsenen 2175 Franken. Demnach hat die eine Hälfte der Bezügerinnen und Bezüger Anspruch auf einen Assistenzbeitrag von weniger, die andere Hälfte von mehr als 2175 Franken. Der Mittelwert liegt, bedingt durch einzelne sehr hohe Ansprüche, mit 2970 Franken deutlich über dem Median. Da der Anteil der Personen mit schwerer Hilflosigkeit im Beobachtungszeitraum zurückgegangen ist, ist der durchschnittlich zur Verfügung stehende Assistenzbeitrag für Erwachsene zwischen 2012 (3330 Franken) und 2016 (2306 Franken) deutlich gesunken.

Im Durchschnitt werden nur knapp vier Fünftel des zur Verfügung stehenden Assistenzbeitrags tatsächlich ausgeschöpft. Als wichtigster Grund hierfür wird die unbezahlte Hilfe der Partnerin oder des Partners beziehungsweise anderer Familienangehöriger genannt. Der Ausschöpfungsgrad älterer Bezügerinnen und Bezüger sowie der Personen mit einer Hilflosigkeit leichten Grades ist dagegen leicht höher (vgl. Grafik G2). Ebenso steigt er mit zunehmender Bezugsdauer an. Dies kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass die Umstellung vom vorangehenden Betreuungssetting auf das neue eine gewisse Zeit beansprucht.

Die Kostenrechnungen zum ersten Massnahmenpaket (S. 1872) der sechsten IV-Revision kalkulierten für die ersten 15 Jahre jährliche Durchschnittskosten von 47 Mio. Franken. Im Jahre 2016, fünf Jahre nach der Einführung der Leistung, war dieser Wert mit 44 Mio. Franken beinahe erreicht, obwohl die Nachfrage tiefer war als erwartet. Dies ist einerseits eine Folge davon, dass deutlich mehr Personen mit einer Hilflosigkeit schweren Grades und damit auch einem hohen Hilfebedarf einen Assistenzbeitrag beziehen als erwartet. Andererseits sind auch die durchschnittlich in Rechnung gestellten Beiträge für jeden Hilflosigkeitsgrad deutlich höher als prognostiziert.

Auswirkungen auf die Wohnsituation Bisher dürfte der Bezug eines Assistenzbeitrags relativ selten einen Heimeintritt vermieden haben oder Grund für einen Heim­austritt gewesen sein. Im Jahre 2016 hatten von den insgesamt 2171 Erwachsenen mit einem Assistenzbudget 107 vor dem erstmaligen Bezug in einem Heim gewohnt. Dies entspricht gut 5 Prozent aller Bezügerinnen und Bezüger. Von allen rund 12 900 Heimbewohnerinnen und -bewohnern mit HE entschieden sich in der gut fünfjährigen Laufzeit des Assistenzbeitrags 0,83 Prozent für einen Heimaustritt und den Bezug eines Assistenzbeitrags. Wie häufig der Assistenzbeitrag ursächlich einen Heimeintritt verhindert hat, lässt sich anhand der Befragungsergebnisse nicht exakt ermitteln. Die Antworten der Befragten lassen jedoch den Schluss zu, dass das Assistenzbudget einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, dass sich die Frage eines Heimeintritts für viele Betroffene nicht oder allenfalls erst mit einer zeitlichen Verzögerung stellt.

Hohe Zufriedenheit mit dem Assistenzbeitrag

Gemäss einer Mehrheit der befragten Assistenzbezügerinnen und -bezüger bzw. ihrer Erziehungsberechtigten/Eltern eignet sich das Assistenzbudget, die in der Botschaft genannten primären Ziele zu erreichen. Nicht nur fördert es die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung und erhöht die Chancen, trotz einer Behinderung eigenständig zu Hause zu wohnen, sondern es schafft auch bessere Möglichkeiten, sich in die Gesellschaft zu integrieren. So geben rund 80 Prozent der 1293 Erwachsenen, die an der Befragung teilgenommen haben, und 87 Prozent der an der Befragung teilnehmenden Eltern minderjähriger Bezügerinnen und Bezüger (n = 311) an, dass sie mit der neuen Leistung zufrieden oder sehr zufrieden sind. Für rund drei Viertel der Erwachsenen haben sich Lebensqualität und Selbstbestimmungsgrad durch den Assistenzbeitrag erhöht. Mehr als vier von fünf Eltern Minderjähriger sind der Meinung, dass sich die Lebensqualität ihres Kindes mit dem Assistenzbeitrag verbessert hat. Rund drei Viertel aller Befragten geben an, dass die Angehörigen bzw. sie als Eltern eines beitragsberechtigten Kindes mit dem Assistenzbudget entlastet werden. Die Rückmeldungen zur beruflichen Integration sechs Monate nach dem Erstbezug hingegen zeigen, dass zumindest kurzfristig kein oder nur ein sehr geringer positiver Einfluss auf die Erwerbstätigkeit erwartet werden kann.

Administrativer Aufwand und Verbesserungspotenzial Während sich die Suche nach einer geeigneten Assistenzperson für knapp die Hälfte der Befragten einfach oder sehr einfach gestaltet, ist sie für die andere Hälfte schwierig oder sehr schwierig. Denn vielen der eher spärlichen Stelleninteressenten sind die angebotenen Arbeitspensen zu tief und sie stören sich laut einem Drittel der Rückmeldungen an den unregelmässigen Arbeitszeiten und tiefen Löhnen. Zudem sind die Bewerberinnen und Bewerber oft schlecht qualifiziert.

Die Bewerbungsdichte für Assistenzstellen ist nicht überall gleich hoch. So ist es im ländlichen Raum signifikant einfacher, Assistenzpersonen zu finden, als in den Städten. Zudem ist die Rekrutierung in der Zentralschweiz einfacher als in den anderen Grossregionen.

Knapp drei Viertel der Befragten empfinden die Organisation der persönlichen Hilfe als belastend. Zwei Drittel stören sich am Zeitaufwand, der ihnen durch die monatliche Abrechnung entsteht. Fast alle Befragten (97 %) suchten während der Einführungszeit nach Informationen und Unterstützung. Während sich gut die Hälfte davon mit dem Angebot an Hilfe und Unterstützung gut zurechtfand, erachtete dies ein knappes Drittel als ungenügend. Für ein gutes Fünftel der Befragten war die Informationssuche sehr schwierig.

Auf mögliches Verbesserungspotenzial angesprochen, wünschen sich 49 Prozent der Befragten eine Vereinfachung des administrativen Ablaufs, 27 Prozent die Ausweitung des anerkannten Hilfebedarfs. Ein bedeutender Teil der Bezügerinnen und Bezüger möchte Familienangehörige (15 %) und weitere Verwandte (12 %) oder auch Mitarbeitende von Organisationen (3 %) als Assistenzpersonen anstellen können. Da im Rahmen des Evaluationsmandats keine Nicht-Bezüger befragt wurden, lässt sich mit den vorliegenden Daten nicht beantworten, ob die Nachfrage nach Assistenzbeiträgen mit der Zulassung von Familienangehörigen höher wäre.

Soziologe und Ökonom, Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS)
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