Die Zeiten als Kinderpsychiater zu besorgten Müttern, deren Kinder noch nicht sprechen konnten, sagten: «Ihr Kind ist nicht autistisch, es schaut mir in die Augen; sie müssen nur Geduld haben», scheinen endgültig der Vergangenheit anzugehören. Fachleute erkennen mittlerweile die Alarmzeichen, die eine diagnostische Abklärung erfordern, weil in der Praxis ein besseres Verständnis für Diagnoseinstrumente wie M-CHAT vorhanden ist (Modified Checklist for Autism in Toddlers, Robins et al. 2001).
Durch die häufigere Verwendung von Instrumenten wie ADOS (Autism Diagnostic Observation Schedule, Lord et al., 2008) und ADI (Autism Diagnostic Interview, Le Couteur et al. 2003) zur Erkennung von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) werden die Diagnostikverfahren bei Kleinkindern heute zunehmend standardisiert. Die Anpassung der Diagnosekriterien im DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, American Psychiatric Association, 2015) war heilsam: Die Diagnostiker versuchen inzwischen nicht mehr, nach typischem und atypischem Autismus zu unterscheiden. Sie suchen vielmehr nach Anzeichen einer ASS, die sich bekanntlich durch Abweichungen in der sozialen Interaktion und reziproken Kommunikation und durch eingeschränkte, repetitive Interessen und Aktivitäten, oft in Kombination mit einer atypischen Empfindlichkeit, äussert. Allerdings muss betont werden, dass die Kompetenzen und Kenntnisse in Sachen Autismus bei der Ärzteschaft weiterhin heterogen bleiben. Aktuellen Umfragen zufolge haben es Eltern in der Schweiz noch oft mit Kinderärztinnen und -ärzten zu tun, die ihnen raten abzuwarten, was zu einer nachteiligen Diagnoseverzögerung führt (Eckert 2015).
Für Psychiaterinnen und Psychiater, die bei Jugendlichen und Erwachsenen eine Diagnose stellen müssen, sind Kinder im Bereich des autistischen Spektrums ohne intellektuelle Einschränkungen und ohne nennenswerten Rückstand in der sprachlichen Entwicklung eine neue Herausforderung. Die Ärzteschaft ist diesbezüglich offenbar noch nicht genügend vorbereitet, wie folgende Anekdote einer kürzlich erhaltenen E-Mail-Nachricht veranschaulicht. Ein Psychiater teilte seinem Patienten folgendes Fazit mit: «Ginge man von den Fragebögen und Tests aus, wäre die Diagnose eine schwere autistische Störung. Das passt aber weder zu unseren persönlichen Beobachtungen, noch zu Ihrer Lebenssituation (B.d.R.: Der Patient besitzt ein Unternehmen, ein Haus, ist verheiratet und hat Kinder.). Die Ergebnisse der Tests sind folglich falsch; die Diagnose kann nicht gestellt werden.»
Die Frage bleibt, weshalb Autismus oft nicht früher erkannt wird. Eine Hypothese besagt, dass die Betroffenen oft Strategien zur Minderung ihrer Einschränkungen entwickelt haben. Erst die Feststellung von Autismus beim eigenen Kind oder ein persönlicher Schicksalsschlag bewirken schliesslich den Gang zum Psychiater. Weil eine klare Diagnose in Ermangelung von Zeugen aus der Kindheit (Eltern, Lehrkräfte) so schwer zu stellen ist, können die behandelnden Fachpersonen Autismus oft nicht erkennen. Ausserdem ist die Diagnose im Erwachsenenalter bei Frauen besonders schwierig.
Autismus bei Frauen Das Geschlechterverhältnis bei Autismus ist ein viel diskutiertes Thema. Eine aktuelle Metaanalyse ermittelte ein Verhältnis von 3,5 Männern zu 1 Frau (Loomes et al. 2017). Wie sich der Unterschied erklären lässt, ist unklar. Lange wurden biologische Gründe angeführt. Ferri et al. (2018) beispielsweise nennen diverse Mechanismen zur Erklärung der Prävalenz bei den Männern. Dazu gehören genetische Aspekte (X-Chromosom), hormonelle (Testosteron während der Schwangerschaft) oder neuroendokrine Effekte. Andere Forschende gehen zudem von einer Unterdiagnostik bei Frauen aus (siehe aktuelle Analyse von Carpenter et al. 2019). Offenbar müssen Frauen eine schwere Form von Autismus aufweisen, damit eine Autismusdiagnose gestellt wird; leichte Erscheinungsformen werden nicht erkannt. Vor diesem Hintergrund ist zu berücksichtigen, dass die biologische Forschung nur einen Teil des Spektrums abdeckt, nämlich jenen der Frauen mit ausgeprägten Autismussymptomen und bestätigter Diagnose.
Auch wenn Mädchen und Knaben im Kern die gleichen Autismussymptome aufweisen, kann sich die Störung leicht unterschiedlich zeigen. Soziale Schwierigkeiten beispielsweise lassen sich mit Tarnstrategien verbergen: Frauen imitieren andere Frauen und eignen sich ein typisches Verhalten an (Dean et al. 2017). In Bezug auf die Interessen und die Sensibilität der betroffenen Personen ist festzustellen, dass die eingeschränkten Interessen autistischer Frauen (Pferde, Stoffe, Frisuren) oft weniger als solche betrachtet werden, obwohl sie gleich funktionieren wie jene der Männer. So kann ein Mädchen stundenlang die Haare ihrer Puppe kämmen oder den Stammbaum seines Pferdes bis ins Detail kennen, ohne dass sich das Umfeld darüber wundert. Die Über- und Unterempfindlichkeiten, die in der neusten Ausgabe des DSM aufgelistet sind, könnten bei Frauen tatsächlich ausgeprägter sein und dennoch nicht auffallen. Lai et al. (2011) haben die Lebensumstände von 33 Männern und 29 Frauen untersucht. Dabei wurde nachgewiesen, dass Frauen mehr lebenslange Empfindlichkeitssymptome und weniger Auffälligkeiten im sozialen und kommunikativen Verhalten aufweisen als Männer. Milner et al. (2019) führten eine qualitative Studie mit einer Gruppe von über zwanzig von Autismus betroffenen Frauen durch. Die Frauen nannten v. a. grosse Schwierigkeiten bei der sozialen Anpassung, beispielsweise bei der Aufrechterhaltung freundschaftlicher Beziehungen, Hürden bei der Diagnosestellung, Über- oder Unterempfindlichkeiten, das Bedürfnis nach Zurückgezogenheit usw. Interessant ist die Tatsache, dass die Frauen auch positive Aspekte ihrer Störung nannten, wie die besondere Sicht auf die Welt oder das Gefühl der Einzigartigkeit.
Folgen für die Prävalenz von Autismus Die Verbesserung der Diagnosekriterien und der Diagnosestellung bei Frauen lassen vermuten, dass die Prävalenz von Autismus noch zunehmen wird. Aktuell entspricht zudem die Zahl der Kinder mit dieser Diagnose in den Sonderschulen der Westschweiz nicht den Prävalenzraten der Centers for Disease Control and Prevention in Nordamerika (Baio et al. 2018). Im Rahmen unserer Studien im ASS-Observatorium (Baggioni et al. 2017; Thommen et al. 2017) konnten wir Kinder mit Autismus identifizieren, die in den Kantonen der Westschweiz sonderpädagogisch betreut werden. Demnach liegt die Prävalenz in der Westschweiz bei 1 von 238 Kindern, während die neusten Daten aus den USA eine Rate von 1 zu 59 ergeben.
Eine Metaanalyse von Elsabbagh et al. (2012) beleuchtet die Entwicklung der Zahlen. Die Analyse der Daten nach Veröffentlichungszeitraum zeigt eine Zunahme der Prävalenz, die mit der Erweiterung der Diagnosekriterien korreliert. In früheren Untersuchungen, als noch nicht das gesamte Autismus-Spektrum berücksichtigt wurde, betrug die mittlere Prävalenz 1 zu 520. Seit 2006 fliesst grundsätzlich das gesamte Spektrum in die Erhebungen ein. Die Prävalenz schwankt seither zwischen 1 zu 320 und 1 zu 86 (Median: 1 zu 60). Die erheblichen Unterschiede sind auf die Methoden bei der Erfassung von Autismusfällen zurückzuführen (Hill et al. 2014). So führt die Suche nach Autismusdiagnosen in Patientendossiers zu weniger Fällen als eine systematische Untersuchung aller Kinder einer Altersgruppe.
In der Schweiz kann die Zahl der Autismusfälle, mit denen die öffentlichen Institutionen künftig zu tun haben werden, nur zunehmen – unabhängig davon, welche Quelle für die Prävalenz herangezogen wird. Grund dafür sind weder frühere statistische Fehler noch eine aktuelle Modeerscheinung, sondern vielmehr die Diagnosestellung bei Personen, die bisher nicht erfasst wurden. Dabei handelt es sich z. B. um Menschen, die keine geistigen Defizite oder kaum Sprachentwicklungsstörungen aufweisen, aber aufgrund ihrer Schwierigkeiten mit der sozialen Interaktion, ihren Interessen und ihrer Sensibilität stark beeinträchtigt sind.
Multiple neurologische Entwicklungsstörungen sind die Regel Die aktuellen Daten zu den Besonderheiten von ASS zeigen, dass die Störung praktisch immer mit anderen neurologischen Entwicklungsstörungen einhergeht (Aufmerksamkeitsstörung, motorische Koordinationsstörung, Lernstörung, Sprachstörung usw.). Die Studie von Posserud et al. (2018) ist diesbezüglich aufschlussreich: Nur zwei Prozent der in der Studie erfassten Kinder mit Autismus wiesen keine andere Auffälligkeit auf; bei 92 Prozent der Kinder mit ASS lagen mindestens zwei Komorbiditäten vor. Das Modell von Gillberg (2010) trägt genau dieser Komplexität neurologischer Entwicklungsstörungen Rechnung. Er entwickelte das ESSENCE-Konzept (Early Symptomatic Eliciting Neurodevelopmental Clinical Examinations) zur Beurteilung früher neurologischer Entwicklungsstörungen, das alle im frühen Kindesalter feststellbaren Auffälligkeiten erfasst und einer isolierten Betrachtung der Störungen vorbeugt. Komorbidität wird folglich mitberücksichtigt und gilt eher als Regel denn als Ausnahme. Das Konzept ist mit dem Ansatz der RDoC (Research Domain Criteria) von Insel et al. (2010) vergleichbar, der eine Loslösung von den DSM-Kategorien vorsieht, um Störungen in den verschiedenen Funktionsbereichen Rechnung zu tragen (dimensionaler Ansatz).
Dieser neue Ansatz zur Diagnose neurologischer Entwicklungsstörungen (Cuthbert/Insel 2013) hätte den grossen Vorteil, dass er die Schwierigkeiten des Kindes in unterschiedlichen Bereichen beschreiben und damit die Möglichkeit der Kompensation von Nachteilen eröffnen würde. Es ist unerlässlich, den Förderbedarf der von Autismus betroffenen Menschen zu erkennen, um ihre Beeinträchtigung zu reduzieren und folglich die Kosten für die Sozialversicherungen zu senken.
Spezifische Unterstützung im Einzelfall Auf die Unterstützungsbedürfnisse von autistischen Menschen (Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen) kann nur eingegangen werden, wenn auch die oft unsichtbaren Besonderheiten der Störung berücksichtigt werden. Wer denkt schon daran, dass das grelle Licht eines Klassenzimmers für ein lichtempflindliches Kind ein schmerzhaftes, schier unüberwindbares Hindernis ist, das es ihm verunmöglicht dem Unterricht zu folgen? Die Betreuung und Begleitung autistischer Kinder und Erwachsener setzt spezifische Kenntnisse voraus, die über die Grundausbildung der Sonderpädagogik, der Berufswahlpsychologie oder der Sozialarbeit hinausgehen.
Die Studie des ASS-Observatoriums der École d’études sociales et pédagogiques in Lausanne informiert über den aktuellen Stand in der Westschweiz (Thommen et al. 2017). Insgesamt wurden 695 Kinder im Alter zwischen 5 und 19 Jahren erfasst (130 Mädchen und 565 Jungen). Diese Kinder werden sonderpädagogisch betreut, die meisten von ihnen besuchen eine Sonderschule. Die theoretischen Grundlagen und Interventionsmethoden, basierend auf den internationalen Empfehlungen für Autismus (z. B. TEACCH, ABA, Denver), werden nur bei 56 Prozent der erfassten Fälle angewandt (n=266) und leider oft in Kombination mit nicht ASS-spezifischen (z. B. positive Pädagogik) oder nicht empfohlenen Methoden (z. B. psychoanalytischer Ansatz).
Eine besondere Erkenntnis der Studie betrifft die Integration autistischer Kinder in das reguläre Schulsystem. Es wurden Kinder mit folgendem Profil erfasst: keine geistige Beeinträchtigung, kaum Sprachstörungen und wenig Verhaltensauffälligkeiten (163 von 695 dokumentierten Fällen). Nur etwas mehr als die Hälfte dieser Kinder besuche eine Regelschule, 77 waren in einer Sonderschule (anderer Standort als die Regelschule). Ausserdem besuchten 59 weitere Kinder trotz erheblicher Schwierigkeiten die Regelschule. Für ein Viertel der in die Regelschule integrierten Kinder gibt es keine Massnahmen zur Erleichterung der Integration.
Diese Zahlen zeigen, dass der Unterstützungsbedarf für Menschen mit Autismus im Rahmen der Invalidenversicherung noch lange nicht abnehmen wird. Erst wenn Kinder mit Autismus frühzeitig im Einklang mit den internationalen Empfehlungen betreut werden, brauchen sie als Erwachsene voraussichtlich weniger Unterstützung. Bei der aktuellen Generation ist dies noch nicht der Fall. Noch kann sie in der Schule oder bei der Integration in die Arbeitswelt keine der empfohlenen Fördermassnahmen beanspruchen.
Die jüngsten Massnahmen des Bundes für eine bessere Betreuung und Begleitung von Menschen mit Autismus in der Schweiz sind ein vielversprechender Anfang zur Verbesserung der Situation (Bundesrat 2018).
- Literatur
- Carpenter, B.; Happé, F.; Egerton, J. (2019): Girls and Autism: Educational, Family and Personal Perspectives. London: Routledge.
- Milner, V. et al. (2019): «A Qualitative Exploration of the Female Experience of Autism Spectrum Disorder (ASD)», in Journal of Autism and Developmental Disorders 49.
- Baio, J. et al. (2018): «Prevalence of Autism Spectrum Disorder Among Children Aged 8 Years – Autism and Developmental Disabilities Monitoring Network, 11 Sites, United States, 2014», in Morbidity and Mortality Weekly Report, Surveillance Summaries 67 / April 27, 2018 / Nr. 6, S. 1–23.
- Bundesrat (2018): Bericht Autismus-Spektrum-Störungen. Massnahmen für die Verbesserung der Diagnostik, Behandlung und Begleitung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schweiz: www.bsv.admin.ch > Publikationen & Service > Bundesratsberichte > 2018 > Bericht Autismus-Spektrum-Störungen (PDF, 17.10.2018).
- Ferri, S. L. et al. (2018): «Sex differences in autism spectrum disorder: a review», in Current psychiatry reports 20, Nr. 2, S. 9.
- Baggioni, L. et al.: Actualités sur l’autisme. Veilles scientifiques de l’Observatoire des troubles du spectre de l’autisme, Lausanne: Editions EESP.
- Dean, M. et al. (2017): «The art of camouflage: Gender differences in the social behaviors of girls and boys with autism spectrum disorder», in Autism 21, Nr. 6, S. 678–689.
- Loomes, R. et al. (2017): «What is the male-to-female ratio in autism spectrum disorder? A systematic review and meta-analysis», in Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 56, Nr. 6, S. 466–474.
- Thommen, E. et al. (2017): «Focus sur la scolarisation des enfants avec un TSA en Suisse», in ANAE – Approche Neuropsychologique des Apprentissages chez l’Enfant 150, S. 623–631.
- American Psychiatric Association (2015): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen (DSM-5), Göttingen: Hogrefe.
- Eckert, A. (2015): Autismus-Spektrum-Störungen in der Schweiz: Lebenssituation und fachliche Begleitung, Bern: Edition SZH/CSPS.
- Hill, A. P. et al.(2014): «Epidemiology of autism spectrum disorders», in: F. R. Volkmar, S. J. Rogers, R. Paul, K. A. Pelphrey (éd.), Handbook of autism and pervasive developmental disorders. Diagnosis, development, and brain mechanisms, 42014, Vol. 1, New York: Wiley, S. 57–96.
- Cuthbert, B. N.; Insel, T. R. (2013): «Toward the future of psychiatric diagnosis: the seven pillars of RDoC», in BMC Medicine 11:126.
- Elsabbagh, M. et al. (2012): «Global prevalence of autism and other pervasive developmental disorders», in Autism Research 5, Nr. 3, S. 160–179.
- Lord, C. et al. (2012): Autism diagnostic observation schedule, (ADOS-2), Part 1: Modules 1–4 (2nd ed.), Los Angeles: Western Psychological Services.
- Lai, M. C. et al. (2011): «A behavioral comparison of male and female adults with high functioning autism spectrum conditions», in PloS one 6, Nr. 6, e20835.
- Gillberg, C. (2010): «The ESSENCE in child psychiatry: early symptomatic syndromes eliciting neurodevelopmental clinical examinations», in Research in Developmental Disabilities 31, Nr. 6, S. 1543–1551.
- Insel, T. et al. (2010): «Research Domain Criteria (RDoC): Toward a New Classification Framework for Research on Mental Disorders», in American Journal of Psychiatry 167, Nr. 7, S. 748–751.
- Rutter, M. et al. (2008). Autism Diagnostic Interview, Revised (ADI-R): WPS Edition manual, Los Angeles: Western Psychological Services.
- Le Couteur, A. et al. (2003): Autism diagnostic interview-revised, Los Angeles, CA: Western Psychological Services.
- Robins, D. L. et al. (2001): «The Modified Checklist for Autism in Toddlers: an initial study investigating the early detection of autism and pervasive developmental disorders», in Journal of Autism and Developmental Disorders, 31, Nr. 2, S. 131–144.