Aussichtsreiche Therapien für Kinder mit frühkindlichem Autismus

Sind intensive Frühinterventionen bei frühkindlichem Autismus wirksam und dazu geeignet, die Situation der betroffenen Kinder und Familien zu verbessern? Führen sie sogar zu ­Kosteneinsparungen? Das wollte das BSV in einem Pilotversuch wissen. Der Beitrag referiert zentrale Erkenntnisse aus dem Schlussbericht der ZHAW.
Christian Liesen, Beate Krieger, Heidrun Becker (†)
  |  07. Juni 2019
    Forschung und Statistik
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Die ersten Anzeichen einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zeigen sich oft bereits in der frühen Kindheit. Die schwerste Form von ASS, der sogenannte frühkindliche Autismus, kann schon bei Kindern unter drei Jahren festgestellt werden: Die Sprachentwicklung und Mimik sind reduziert bis kaum vorhanden, die sozialen Interaktionen begrenzt. Die vorhandene Lernbeeinträchtigung führt zu kognitiven Einschränkungen. Auch Schlaf-, Ess- und Verdauungsstörungen, Epilepsie und in schweren Fällen Aggression und Selbstaggression können dabei auftreten. Schätzungen zufolge sind in der Schweiz jedes Jahr mindestens 120 Kinder neu von dieser Diagnose betroffen (Gundelfinger 2013; Liesen et al. 2018).

Zur Behandlung von frühkindlichem Autismus wurden in den USA früh einsetzende intensive verhaltensthera­peutische Interventionen entwickelt. In der Schweiz ist heute zwar eine Vielzahl von Behandlungsmethoden ver­fügbar, die als wirksame medizinische Massnahmen anerkannt sind. Die intensiven Frühinterventionen zählen jedoch nicht dazu.

Das BSV startete 2014 ein fünfjähriges Pilotprojekt mit dem Ziel, die Wirksamkeit dieser Behandlungen zu überprüfen. Dazu förderte es die intensive Frühintervention mit 45 000 Franken pro Kind in fünf Schweizer Autismuszentren, namentlich in Aesch (BL), Muttenz (BL), Genf, Sorengo (TI) und Zürich. Insgesamt wurden 134 Kinder behandelt. Bei der Aufnahme in den Pilotversuch waren sie zwischen zwei und vier Jahre alt.

Eine interdisziplinäre Forschungsgruppe aus zwei Instituten der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) wurde mit der Auswertung des Pilotprojekts beauftragt. Folgende Fragen sollten geklärt werden:

  • Welche wissenschaftlichen Belege gibt es für die Wirksamkeit von intensiven Frühinterventionen bei frühkindlichem Autismus?
  • Welche Faktoren spielen bei der Implementierung der Behandlungen eine Rolle?
  • Welche Kosten ziehen die Therapieprogramme mit sich?

Wirksame Behandlungskonzepte Die Forschungsgruppe ermittelte und analysierte zunächst 43 Metaanalysen und systematische Literaturübersichten, die seit 2007 zum Thema veröffentlicht wurden. Denn zum frühkindlichen Autismus wird mit vielfältigen Fragestellungen intensiv geforscht. Die Beiträge umfassten rund 1290 einzelne Interventionsstudien mit insgesamt 12 650 Kindern (Überlappungen sind nicht auszuschliessen). Darin wurden spezifische Behandlungsmodelle und -methoden und ihre Auswirkungen auf definierte Ergebnisparameter untersucht. Bei den Kindern waren dies zum Beispiel der gemeinsame Blickbezug, der Spracherwerb oder das Ess- und Schlafverhalten. Auf der Elternseite wurden unter anderem die Eltern-Kind-Interaktionen oder die Lebensqualität in der Familie analysiert.

Was die wissenschaftlichen Belege zur Wirksamkeit intensiver Frühinterventionen betrifft, wurde festgestellt, dass sich in einem Zeitraum von zwei Jahren und mit einer durchschnittlichen Intensität von 25 Therapiestunden pro Woche deutliche Verbesserungen in der Situation der Kinder und der Lebensqualität der Eltern erzielen lassen. Zudem verringern sich der spätere pädagogische Aufwand und die volkswirtschaftlichen Folgekosten.

Viele Fragen können zwar anhand der Forschungsliteratur noch nicht zufriedenstellend beantwortet werden – die Wirkmechanismen sind nicht im Einzelnen herausgearbeitet, die Effektgrössen lassen sich nicht beziffern und die Langzeiteffekte bedürfen noch weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen –, doch wird die kurz- und mittelfristige Wirksamkeit intensiver Frühinterventionen angesichts der Evidenzlage von keinem der analysierten Reviews in Zweifel gezogen.

Ausserdem sammelte die Pilotprojektgruppe Daten zur Entwicklung der Kinder in der Therapie und auch dort zeigten die Datenauswertungen klar positive Veränderungen. Die Wirkungsdokumentation wurde im Pilotversuch aber nicht konsequent genug vereinbart, finanziert und durchgeführt, was zu Lücken in den Datenreihen führte. Es wurden unterschiedliche Assessments verwendet und auch über die Bedeutsamkeit der Ergebnisparameter liesse sich disku­tieren. Die Schlussfolgerungen aus dem Pilotprojekt sind deshalb nicht so zuverlässig wie die Befunde aus der internationalen Forschungsliteratur.

Gute Programme können unterschiedlich ­aufgebaut sein Interventionsprogramme können unterschiedlich aufgebaut sein, es gibt jedoch empfehlenswerte und weniger empfehlenswerte Varianten. Die Reviews sind sich auch in diesem Punkt einig: Vorzuziehen sind umfassende Interventionsmodelle, die nicht einzelne Funktionsbereiche in den Blick nehmen, sondern breit angelegt sind. Interventionsprogramme in diesem Sinn beziehen die Eltern ein, unterstützen die Entwicklung von Spiel- und Verhaltenskompetenzen beim Kind und fördern sozial-kommunikative Fähigkeiten. Verhaltenstherapeutische und entwicklungsbezogene Komponenten werden nach medizinischen und pä­­dagogischen Grundsätzen miteinander kombiniert. Verhaltenstherapeutische Ansätze beziehen sich dabei eher auf die Lerntheorie, entwicklungsorientierte Ansätze eher auf die Entwicklungstheorie.

Alle fünf Schweizer Zentren im Pilotversuch des BSV entsprechen diesen Kriterien. Jedes Zentrum hat unabhängig voneinander und mit viel individuellem Engagement Pionierarbeit geleistet und im Laufe der Zeit einen eigenen Ansatz und Programmstil gefunden, die gut in den jeweiligen Kontext passen (Standortkanton, Umfeld, wichtige Netzwerke). Jedes Zentrum hat ein konsistentes Interventionsprogramm gestaltet, das die geschilderten Anforderungen erfüllt. Es führt Eins-zu-eins-Interventionen mit gut ausgebildeten Fachpersonen durch, bezieht die Eltern mit ein und entspricht der empfohlenen, umfassenden Ausrichtung und Intensität der Interventionen, das heisst lern- und entwicklungstheoretische Anteile sind miteinander verknüpft.

Als Folge gibt es aber auch wichtige und deutliche Unterschiede zwischen den Interventionsprogrammen. Hier einige Beispiele:

  • Genf und Zürich setzen auf manualisierte, d. h. konkret anleitende und langjährig etablierte Interventionsprogramme (ESDM bzw. ABA), die in einer verhaltenstherapeutischen Tradition stehen und die sie kind- und familienorientiert angepasst haben. Aesch und Sorengo verwenden dieselbe autismusspezifische Grundlage, gestalten sie aber zu integrativen und interdisziplinären Settings um, an denen u. a. Logopädie, Ergotherapie und heilpädagogische Früherziehung in grossem Umfang beteiligt sind. Muttenz stellt ein systemisches Verständnis der Kernfamilie in den Mittelpunkt und arbeitet daher stets mit und im Familiensystem des betroffenen Kindes.
  • Aesch und Zürich kombinieren die Behandlung im Zentrum mit einer Behandlung zu Hause. Sorengo kombiniert die Behandlung im Zentrum mit Interventionen im Kindergarten- und Schulkontext. Genf und Muttenz arbeiten ausschliesslich zentrumsbasiert.
  • In Genf muss mindestens ein Elternteil Französisch oder Englisch sprechen, in Zürich und Muttenz Deutsch oder Englisch. In Aesch und in Sorengo ist die Familiensprache kein Kriterium.
  • In Genf, Zürich und Sorengo bleibt die Wochenstundenzahl der Therapie über zwei Jahre annähernd gleich. Demgegenüber verfolgen Aesch und Muttenz ein gestaffeltes Konzept mit anfänglich höheren Interventionsphasen und späterem gestaffeltem Monitoring und Follow-up. In Muttenz beträgt die intensive Interventionszeit sogar nur drei Wochen: Die gesamte Familie zieht für diese Zeit ins Zentrum, es folgt dann eine zweijährige, von der Intensität her gestaffelte Nachsorge.

Aufgrund der vorhandenen Daten kann keinem Zentrumsmodell der Vorzug gegeben werden. Für die Umsetzung heisst das: Es gilt, eine Vielzahl von autismusspezifischen Programmen und Programmkomponenten zu akzeptieren, wenn sie der Evidenzlage entsprechen.

Kosten müssen zwischen Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitswesen koordiniert werden Der Pilotversuch macht klar, dass die IV am innovativen Behandlungsansatz intensiver Frühinterventionen ernsthaft inte­ressiert ist. Kostendeckend ist die Pilotpauschale der IV freilich nicht – bei mindestens 20 Therapiestunden pro Woche über mindestens zwei Jahre liegt der tatsächliche Aufwand bei 200 000 Franken und mehr pro Kind. Keines der fünf Frühinterventionsprogramme in den Zentren wäre bislang ohne umfangreiche Spendengelder bzw. kantonale Beiträge denkbar.

Im Pilotversuch sollten die Kosten der Interventionen genauer bestimmt werden. Dafür wurde jedoch kein Kostenmodell vereinbart und schon programmbedingt sind die Aufwendungen nur schwer zu vergleichen: Die zu erfassenden Kostenangaben wurden deshalb sehr unterschiedlich verstanden. Direkte Therapieleistungen, Kosten für die Ausbildung, das Training und die Zertifizierung der Fachpersonen, die notwendige Infrastruktur, die Koordination und Administration, Beratung und Nachsorge, Belastungsfolgen und der Produktionsverlust der Eltern, Entwicklungskosten für den Aufbau leistungsfähiger Therapiezentren, Monitoring- und Evaluationskosten für die notwendige Steuerung, Skalierungseffekte (z. B. Schattenpreise, wenn eine bisher nur punktuell verfügbare Intervention schweizweit zur Verfügung stehen soll, aber das Personal dafür schwer zu bekommen ist) werden in der Literatur praktisch nicht angesprochen und waren auch im Pilotversuch nur teilweise zu erkennen.

Für das Pilotprojekt des BSV wurde in der Leistungsstatistik ein eigener Leistungscode 916 definiert («Intensivbehandlungen bei frühkindlichem Autismus») und per IV-Rundschreiben Nr. 344 darauf hingewiesen, dass die IV-Stelle bei der Verfügung der Intensivbehandlung zwingend diesen Leistungscode 916 verwenden muss. Dies ist nur bei 87 der 134 Kinder im Pilotprojekt erfolgt. Gleichzeitig gab es 19 Fehlcodierungen von Kindern, die sich gar nicht im Pilotprojekt befanden. Die Ergebnisse hatten daher nicht die gewünschte Aussagekraft.

Die Zahlen ergaben jedoch Indizien, dass die Hilflosenentschädigung durch die Frühintervention sinkt. Dies ist aufgrund der Datenqualität nur als anfängliche Vermutung einzuordnen. Trotzdem wäre damit eine Ergebnisgrösse definiert, die zwar unspezifisch, mit Blick auf die Familienbelastung und die Folgekosten jedoch aussagekräftig sein könnte.

Die Kosten intensiver Frühinterventionen werden in Tat und Wirklichkeit vom Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen getragen, aber auch von Stiftungen und Privaten. Durch diese Fragmentierung der Kostenträgerschaft gibt es wenig Anreize dafür, dass ein Träger Leistungen finanziert, die sich für einen anderen Träger kostensenkend auswirken.

Fazit und Empfehlungen Kinder mit frühkindlichem Autismus in der Schweiz wirksam und angemessen zu behandeln erfordert gemeinsame Anstrengungen. Denn von den intensiven Frühinterventionen wird erwartet, dass sie nicht nur auf einer einzigen, kindspezifischen Ebene wirksam sind, sondern bereichsübergreifend: beim konkreten Kind, bei den Eltern und im Familienalltag, im sozialen und erzieherischen Kontext von Kindergarten und Schule und mit einem entschiedenen Vorteil für den Bildungserfolg und die spätere berufliche Integration. Die intensiven Frühinterventionen sollen nicht nur die Entwicklung eines Kindes im frühen Kindesalter positiv beeinflussen, sondern seine Funktions- und Handlungsfähigkeit im späteren Leben nachhaltig verbessern.

Die zentralen Empfehlungen der Evaluation lauten daher zusammengefasst:

  • Intensive Frühinterventionen bei frühkindlichem Autismus können als wirksam und zweckmässig anerkannt werden.
  • Alle Beteiligten aus den Bereichen Gesundheit, Bildung und Soziales sollten
    • sich auf die Wirkungsziele verständigen, die sie von den intensiven Frühinterventionen erwarten. Im Bericht sind hierzu Hinweise enthalten. So könnte zum Beispiel ein Ergebnismodell, das die Familie mit autistischen Kindern ins Zentrum stellt, zu einer Verständigung über die Zielgrössen führen;
    • ein gemeinsames, bereichsübergreifendes Kostenmodell entwickeln, das alle Akteure benutzen können;
    • die Prinzipien ihrer Zusammenarbeit und Rahmenbedingungen formulieren, die für die Programme zur Frühintervention gelten. Neben Wirksamkeitskriterien wie Dauer, Interventionsart und Eintrittsalter nennt der Bericht auch den konsequenteren Einbezug der Eltern und die multiprofessionelle Zusammensetzung der Behandlungsteams als wichtige Punkte.

Für die Wirksamkeit der intensiven Frühinterventionen ist es somit sinnvoll, zu einer gemeinsamen Steuerung der Behandlung des frühkindlichen Autismus zu finden.

Dr. phil., Prof. am Institut für Sozialmanagement, Departement Soziale Arbeit der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW
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MScOT, cand. PhD Maastricht, Dozentin am Institut für Ergotherapie, Departement Gesundheit der ZHAW
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Dr. phil., Prof. am Institut für Ergotherapie, Departement Gesundheit der ZHAW
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