Armut in der Schweiz: Kinder häufig betroffen

Kinderarmut beeinträchtigt die Chancengerechtigkeit und kann von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden – auch in der Schweiz. Um Gegensteuer zu geben, sollten die kantonalen Massnahmen verstärkt werden.
Salomon Bennour
  |  05. März 2024
    Forschung und Statistik
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Fast ein Drittel der Sozialhilfebezüger in der Schweiz sind Kinder. (Foto: Martin Bichsel / BSV)

Auf einen Blick

  • In der Schweiz ist durchschnittlich ein Kind pro Schulklasse von Armut betroffen.
  • Kinder sind die Altersgruppe mit der höchsten Sozialhilfequote.
  • In den Kantonen sind bereits verschiedene Initiativen zur Unterstützung von armutsbetroffenen Familien und Kindern erfolgreich umgesetzt worden.

Im Jahr 1997 ist die Schweiz der Kinderrechtskonvention der UNO beigetreten, die Kindern ein sicheres, würdiges Leben ermöglichen soll. Demnach haben Kinder das Recht, gesund und sicher aufzuwachsen, gehört und gerecht behandelt zu werden.

Armut kann diese Rechte gefährden. So sind in der Schweiz rund 134 000 Kinder von Armut betroffen – im Durchschnitt lebt ein Kind pro Schulklasse in einer armutsbetroffenen Familie. Oft geht vergessen, dass fast ein Drittel der Sozialhilfebeziehenden Kinder sind: Im Jahr 2022 wiesen Minderjährige mit 4,8 Prozent die höchste Sozialhilfequote auf – verglichen mit 2,9 Prozent der Gesamtbevölkerung (BFS 2023a).

Die Sozialhilfequoten von Minderjährigen sind von Kanton zu Kanton verschieden: An der Spitze steht Neuenburg mit einer Quote von 9,6 Prozent (siehe Grafik 1). Bei 8-Jährigen beträgt die Sozialhilfequote hier sogar 12 Prozent. Auch Genf (8,9%) und Basel-Stadt (8,3%) verzeichnen hohe Sozialhilfequoten bei Minderjährigen. Diese drei Kantone weisen auch insgesamt die höchste Sozialhilfequote auf.

Demgegenüber sind im Thurgau nur 1,8 Prozent der Kinder und Jugendlichen auf Sozialhilfe angewiesen. In absoluten Zahlen ausgedrückt, wohnt die Hälfte der minderjährigen Sozialhilfebeziehenden in den Kantonen Zürich, Bern, Waadt und Genf.

Familienspezifische Armutsfaktoren

Da solche Durchschnittswerte und absoluten Zahlen wenig über die individuellen Armutsfaktoren von Familien aussagen, suchen wir nachfolgend nach familienspezifischen Merkmalen. Nicht familienspezifische Faktoren, wie Ausbildung und Beschäftigungsgrad der Eltern (und damit das Einkommen), klammern wir dabei aus.

Ein erster Faktor, der das Armutsrisiko von Familien beeinflusst, ist die Familienkonstellation. Besonders gefährdet sind Einelternhaushalte, die 4,7 Prozent aller schweizerischen Haushalte ausmachen: Im Jahr 2022 befanden sich 26,2 Prozent aller Einelternhaushalte in prekären finanziellen Verhältnissen (BFS 2023b). Auch kinderreiche Familien (mit drei oder mehr Kindern) weisen mit einem Prekaritätsanteil von 20,6 Prozent ein höheres Armutsrisiko auf.

Ein zweiter Risikofaktor ist das Alter der Kinder. Armutsgefährdet sind vor allem Familien mit Kleinkindern im Alter von 0 bis 3 Jahren (19,9%). Im Gegensatz dazu ist das Armutsrisiko in Familien mit volljährigen Kindern deutlich geringer. Dem höchsten Armutsrisiko (34,5%) ausgesetzt sind Einelternhaushalte mit minderjährigen Kindern.

Auch das Alter der Eltern spielt eine wichtige Rolle beim Armutsrisiko: Jüngere Eltern leben tendenziell in prekären Verhältnissen und bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit eines Sozialhilfebezugs höher (EKFF 2020).

Armut ist übertragbar

Wie wirkt sich Armut auf den Alltag von Kindern aus? Hinweise darauf liefert die Erhebung des Bundesamtes für Statistik über die Einkommen und die Lebensbedingungen (SILC): Im Jahr 2021 mussten 5,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz aus finanziellen Gründen auf kostenpflichtige Freizeitbeschäftigungen verzichten, und 6,1 Prozent konnten keine Ferienwoche ausserhalb des eigenen Zuhauses verbringen (BFS 2023c). Solche Entbehrungen beeinträchtigen die Chancen auf eine soziale Integration erheblich. In der Schweiz liegt die Quote der kinderspezifischen Deprivation bei 6,4 Prozent, in Europa beträgt sie durchschnittlich 13 Prozent. Deprivation bedeutet 3Entbehrungen aus 17 bewerteten Bereichen, wie beispielsweise der Besitz von neuen Kleidern oder altersgerechten Büchern.

Die soziale Herkunft beeinflusst die Schullaufbahn stark (Stamm et al. 2009). Kinder, die in Armut aufwachsen, haben geringere Chancen auf eine höhere Bildung. Somit ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass Armut von Generation zu Generation weitergegeben wird. In der Schweiz dauert es im Schnitt fünf Generationen, bis die Nachkommen des ärmsten Dezils der Bevölkerung in die Mittelschicht aufsteigen (OECD 2018). Die Zahlen verdeutlichen, wie wichtig es ist, Familien und Kinder, die in finanziell prekären Verhältnissen leben, zu unterstützen und dadurch zu verhindern, dass die Armut über Generationen hinweg fortbesteht.

Politische Handlungsmöglichkeiten

In der Schweiz braucht es politische Massnahmen, die auf mehr Inklusion und Chancengleichheit für Kinder aus Familien in prekären Lebensverhältnissen abzielen. Laut der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen (EKFF) lohnen sich Investitionen in individuelle Fördermassnahmen für Familien in prekären Verhältnissen auch volkswirtschaftlich, sofern man diese Investitionen in Relation zu den Kosten einer permanenten, langfristigen finanziellen Unterstützung setzt (EKFF 2020).

Eine Pionierrolle bei der systematischen Bekämpfung von Familienarmut nimmt das Projekt GUSTAF (Guter Start ins Familienleben) aus dem Kanton Nidwalden ein. Das vom Sozialdienst des Zentralschweizer Kantons konzipierte Projekt unterstützt mehrfach belastete Familien: Ziel ist der Aufbau eines Netzwerks, das die Familie ins Zentrum rückt und die verschiedenen Fachdienste aus dem Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich zusammenbringt. Die bessere und engere interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen Hebammen, Kinderärztinnen und -ärzten, Sozialarbeitenden sowie Kita-Mitarbeitenden hat die Unterstützung und Begleitung von Familien in prekären Verhältnissen nachweislich verbessert.

Nach Ansicht der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) sind auch Ergänzungsleistungen (EL) für Familien ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung der Familienarmut und ein Ausweg aus der Sozialhilfeabhängigkeit. Bisher haben die Kantone Genf, Solothurn, Tessin und Waadt sogenannte Familienergänzungsleistungen eingeführt. Das Ergebnis ist vielsprechend: Die Familienarmut ist rückläufig und die Situation der Familien hat sich verbessert (Heusser et al. 2022).

Angesichts solcher vielversprechenden kantonalen Initiativen, die Familien und Kinder in prekären Situationen mit Strukturen und Leistungen unterstützen, kann festgehalten werden: Es ist an der Zeit, dass Kinderarmut schweizweit umfassender und besser angegangen wird, um den nächsten Generationen eine Zukunft ohne prekäre Lebensverhältnisse zu garantieren.

Literaturverzeichnis

BFS (2023a). WSH: Sozialhilfebeziehende der wirtschaftlichen Sozialhilfe nach Kanton und Alter, 18. Dezember.

BFS (2023b). Armutsgefährdung, nach verschiedenen soziodemografischen Merkmalen, 2. Mai.

BFS (2023c). Deprivation und Gesundheit der Kinder. Medienmitteilung, 11. November.

EKFF (2020). Armut und Existenzsicherung von Familien. Policy Brief 02.

Heusser, Caroline; Stutz, Heidi; König, Anja (2022). Auswertung der BSV-Kantonsbefragung zur Bekämpfung von Kinderarmut; Studie im Auftrag des BSV. Bern: Büro BASS.

OECD (2018). Broken Social Elevator?: How to Promote Social Mobility. Paris: OECD-Publishing.

Stamm, Magrit; Reinwand, Vanessa; Burger, Kaspar; Schmid, Karin; Viehhauser, Martin; Muheim, Verena (2009). Frühkindliche Bildung in der Schweiz. Eine Grundlagenstudie im Auftrag der UNESCO-Kommission Schweiz. Bern: CNSU.

Dieser Artikel erscheint gleichzeitig und leicht überarbeitet in der Zeitschrift ZESO der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe. Anlass ist die Bieler Tagung der SKOS vom 21. März 2024, die sich mit Kindern in der Sozialhilfe befasst.

Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fachbereich Grundlagen, Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS)
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