Auf einen Blick
- Das heutige System der sozialen Sicherheit ist während des Zweiten Weltkriegs aus Verbandsausgleichskassen hervorgegangen.
- Ein Meilenstein war die Einführung der AHV im Jahr 1948.
- Seit der Jahrtausendwende hat die Zahl der Ausgleichskassen abgenommen.
Die ersten Ausgleichskassen sind in der Zwischenkriegszeit in der Romandie als Familienausgleichskassen entstanden. Sie waren dazu gedacht, die Mehrausgaben von Arbeitnehmenden mit familiären Pflichten zumindest teilweise zu kompensieren. Heute gibt es in der ganzen Schweiz zahlreiche Familienausgleichskassen.
Diese ersten Durchführungsorgane ebneten den Weg für die Ausgleichskassen der ersten Säule – der AHV (Alters- und Hinterbliebenenversicherung). Doch während bei den Familienausgleichskassen die Beitragssätze und Leistungen je nach Kasse und Kanton unterschiedlich sind, gelten in der ersten Säule in der ganzen Schweiz die gleichen Beitragssätze und Leistungen.
Im Jahr 1939 schuf der Bundesrat die Grundlage für das heutige System, als er zur finanziellen Absicherung der Soldaten im Aktivdienst die Lohnausfallsentschädigung für Wehrmänner (LEO) einführte. Ein Jahr später wurde diese Entschädigung als Lohn- und Verdienstersatzordnung (LVEO) auf Selbstständigerwerbende ausgeweitet. Der Zentralverband schweizerischer Arbeitgeberverbände gründete daraufhin ein knappes Dutzend Ausgleichskassen, die von Arbeitgeber- oder Branchenverbänden verwaltet wurden.
Bis 1948 wurde die LVEO über Lohnbeiträge in der Höhe von 8 Prozent finanziert. Je 2 Prozent wurden von den Arbeitnehmenden und den Arbeitgebern, die restlichen 4 Prozent von Bund (2/3) und Kantonen (1/3) übernommen. Alle Erwerbstätigen waren beitragspflichtig, auch Frauen und ausländische Staatsangehörige. Je nach vorherigem Verdienst und familiärer Situation deckte die LVEO zwischen 50 Prozent und 90 Prozent des Einkommens der Wehrmänner. Die Mehreinnahmen aus den Beiträgen flossen in einen Reservefonds.
Zunächst waren grösstenteils die bestehenden Ausgleichskassen der Verbände für die Versicherung zuständig. Später kamen öffentliche Ausgleichskassen von Kantonen und Bund hinzu. Sie versicherten Personen, die keiner Verbandsausgleichskasse angeschlossen waren.
Entstehung der AHV
Im Jahr 1948 trat das Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung in Kraft. Die AHV richtet Alters-, Witwen- und Waisenrenten aus und ist für alle Personen, die in der Schweiz lebten oder arbeiteten, obligatorisch. Die Sozialversicherung übernahm dabei das System der im Zweiten Weltkrieg eingeführten LVEO, und alle Kantone waren verpflichtet, ihre eigene AHV-Ausgleichskasse zu führen. Von 1948 bis 1963 erhielt die AHV von Bund (2/3) und Kantonen (1/3) jährlich 160 Millionen Franken zugesprochen. Ab 1964 wurden die Beiträge der öffentlichen Hand nicht mehr als Fixbetrag ausgezahlt, sondern als prozentualer Anteil der AHV-Ausgaben.
Der nicht verwendete Reservefonds aus den seit 1940 entrichteten LVEO-Beiträgen ging mehrheitlich an die AHV. Der Rest kam der aus der LVEO hervorgegangenen Erwerbsersatzordnung (EO) zugute, die dadurch bis 1960 ohne zusätzliche Finanzierung auskam.
In den darauffolgenden Jahren wurde der AHV-Lohnbeitrag wiederholt heraufgesetzt. Zwischen 1948 und 1975 stieg er von 4 Prozent auf 8,4 Prozent, und im Jahr 2020 wurde er schliesslich auf 8,7 Prozent angehoben.
Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung bei einer kantonalen Ausgleichskasse versichert ist, verwalteten die Verbandsausgleichskassen im vergangenen Jahr 55 Prozent aller AHV-/IV-/EO-Beiträge, da bei ihnen viele Grossunternehmen angeschlossen sind. Weil die kantonalen Kassen eine wesentlich höhere Dossierzahl bearbeiten müssen als Verbandsausgleichskassen, fallen höhere Verwaltungskosten an. Zudem haben sie es mit verschiedenen Versichertenprofilen zu tun, während die Verbandsausgleichsklassen relativ einheitliche Versichertenprofile aufweisen.
Ausbau des Sozialstaats und der Kassen
Der ursprüngliche Zweck der Ausgleichskassen bestand darin, Leistungen zu entrichten (AHV und EO) und die AHV-Beiträge zu erheben. Sie wurden aber schon bald mit weiteren Aufgaben betraut. 1953 erhielten die kantonalen Ausgleichskassen den Auftrag, die Familienzulagen in der Landwirtschaft (FL) zu entrichten. 1960 trat das Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG) in Kraft. Die Ausgleichskassen übernahmen dabei die Erhebung der zusätzlichen Lohnbeiträge zur Finanzierung der von ihnen ausbezahlten IV-Renten (+0,4 %). Im gleichen Jahr wurde für die EO ein Lohnbeitrag eingeführt, da die seit 1948 verwendeten Reserven aufgebraucht waren.
Im Jahr 1966 wurden die Ergänzungsleistungen (EL) eingeführt. Sie waren zunächst als existenzsichernde Übergangslösung gedacht, deren Aufgabe später von der AHV und der IV übernommen werden sollte. Die meisten Kantone übertrugen die Verwaltung der EL an ihre kantonalen Ausgleichskassen. Seit 2010 sind die EL ein fester Bestandteil der sozialen Sicherheit in der Schweiz.
Anfang der 1970er-Jahre lösten der Ölschock und die Aufhebung der Goldbindung des Dollars eine Wirtschaftskrise aus. Im Jahr 1977 führte der Bund daher die Arbeitslosenversicherung (ALV) ein. Die Erhebung der zur Finanzierung der Versicherung nötigen Lohnbeiträge (0,8 %) oblag den Ausgleichskassen, die Ausrichtung der Leistungen hingegen den Arbeitslosenkassen.
Im Jahr 2005 wurde die EO um die Mutterschaftsentschädigung, im Jahr 2021 um die Vaterschaftsentschädigung sowie die Betreuungsentschädigung und schliesslich im Jahr 2023 um die Adoptionsentschädigung erweitert.
Die Ausgleichskassen erledigen ihre Aufgaben zentral, aber mit einem separaten Fonds für jeden Versicherungszweig (AHV, IV, EO). Diese Zentralisierung hat praktische Gründe: Dadurch muss der Arbeitgeber seine Lohnmasse nur einmal und nicht für jede Sozialversicherung separat melden.
Nebst konjunkturellen Einflüssen prägten auch gesellschaftliche Entwicklungen die Beitragssätze: Während 1948 lediglich 4 Lohnprozente erhoben wurden, sind es heute für die gesamte erste Säule 12,8 Prozent. Neben der Erhöhung der AHV-Beiträge von 4 Prozent auf 8,7 Prozent nahmen auch die Beitragssätze für die anderen Sozialwerke mehr oder weniger stark zu.
Schwindende Anzahl Ausgleichskassen
Bis in die 1990er-Jahre war die Zahl der Verbandsausgleichskassen relativ stabil. Zwischen 1991 und 2022 sank sie jedoch von 77 auf 45 Verbandsausgleichskassen. Das entspricht einem Rückgang von 41 Prozent (siehe Grafik). Dafür verantwortlich sind in erster Linie Fusionen sowie seltener auch Liquidationen, wie dies etwa 2012 bei der Ausgleichskasse der Tabakproduzenten und -händler «Tabac» der Fall war. Nach der Jahrtausendwende beschleunigte sich der Rückwärtstrend, unter anderem aufgrund von 5 Fusionen und 3 Liquidationen.
Bei den kantonalen Ausgleichskassen gab es seit 1948 hingegen nur eine einzige Änderung: Mit der Gründung des Kantons Jura im Jahr 1979 erhöhte sich die Zahl der kantonalen Kassen von 25 auf 26. Heute gibt es in der Schweiz somit 71 Verbands- und kantonale Ausgleichskassen. 2022 erhoben sie AHV/IV/EO-Beiträge in Höhe von knapp 40 Milliarden Franken.
Kontinuierliche Entwicklung
Zusammenfassend lässt sich sagen: Beim Aufbau des schweizerischen Sozialsystems spielten die Verbandsausgleichskassen eine Vorreiterrolle und auch heute noch bieten sie ihren Mitgliedern dank der guten Kenntnisse der Versichertenprofile unbestrittene Vorteile. Auf der anderen Seite decken die kantonalen Kassen einen erheblichen Anteil der Bevölkerung ab: die Arbeitgeber und Selbstständigerwerbenden, die keiner Verbandsausgleichskasse angeschlossen sind; die Versicherten, die eine Erwerbstätigkeit ausüben, für die der Arbeitgeber nicht beitragspflichtig ist; die im jeweiligen Kanton wohnhaften Erwerbslosen sowie die Arbeitgeber von landwirtschaftlichen Arbeitnehmenden im Sinne des Bundesgesetzes über die Familienzulagen in der Landwirtschaft. Damit ergänzen sich die Verbandsausgleichskassen und die kantonalen Kassen gegenseitig.
Die Funktionsweise der Ausgleichskassen ist seit 1948 – etwa im Zuge der neuen Technologien und des gesellschaftlichen Wandels – komplexer geworden. Zudem mussten sich die Kassen mit der Einführung neuer Leistungen wie der Mutterschafts- und der Betreuungsentschädigung den neuen Bedürfnissen der Bevölkerung anpassen. Während die Aufgaben der Ausgleichskassen vielfältiger geworden sind und ihre Versichertenzahl gestiegen ist, verringerte sich die Zahl der Verbandsausgleichskassen. Dadurch nahmen die Transaktionen und Kontrollen zu und es ist mehr Geld im Spiel.
Somit sind die Ausgleichskassen ein wichtiges Zahnrad im dezentralen Sozialversicherungssystem der Schweiz.