Auswirkungen einer längerfristigen Tiefzinsperiode auf die berufliche Vorsorge

Stéphane Riesen, Marc Fournier
  |  21. Juni 2022
    Forschung und Statistik
  • Berufliche Vorsorge
KEYSTONE/CHROMORANGE/Martin Schroeder

Seit der Einführung des BVG im Jahr 1985 hat sich das Umfeld der Pensionskassen stark verändert. Oft werden die steigende Lebenserwartung und die Höhe des Umwandlungssatzes als wichtigste Herausforderungen der beruflichen Vorsorge genannt. Die grösste Schwierigkeit für das Renten- und Versicherungssystem stellt in der Schweiz und den Industrieländern seit vielen Jahren jedoch das anhaltende Tiefzinsumfeld dar.

Auf einen Blick

  • Eine aktuelle Studie befasst sich mit den Auswirkungen der Zinsentwicklung auf die Finanzkraft der schweizerischen beruflichen Vorsorge.
  • Die seit 1985 anhaltend tiefen Zinsen haben die Finanzperformance der 2. Säule gestärkt. Insgesamt haben die Versicherten von den dadurch erzielten Erträgen profitiert.
  • Anhand verschiedener Szenarien zur Zinsentwicklung wurde zudem die Stabilität der 2. Säule analysiert. Es hat sich gezeigt, dass das System der kapitalgedeckten Finanzierung angemessen ist.
  • Insgesamt weisen die Sammelstiftungen, insbesondere die grossen, und die öffentlich-rechtlichen Vorsorgeeinrichtungen mit Vollkapitalisierung das signifikanteste Risiko auf.
  • Ausserdem gibt die Studie Empfehlungen zu den gesetzlichen Anlagevorschriften, zur Aufsicht und für nachhaltige Investitionen ab.

Das Hauptziel der Studie «Effets d’une longue période de faibles taux d’intérêt sur la prévoyance professionnelle» (2022)

war, die direkten und indirekten Auswirkungen der Zinsentwicklung auf die Finanzkraft und die Stabilität der 2. Säule aufzuzeigen. Überdies wurden die Anlagevorschriften dahingehend analysiert, ob sie einer nachhaltigen Anlagepolitik entgegenstehen.

Die Arbeiten zur Studie wurden Anfang 2021 aufgenommen, als die Pensionskassen mit einem Tiefzinsumfeld konfrontiert waren. Seither hat sich das wirtschaftliche und finanzielle Umfeld verändert; die Inflation ist stark angestiegen und in der Ukraine herrscht Krieg. Trotz dieser unerwarteten Entwicklung behalten die Erkenntnisse der Studie ihre Gültigkeit. Denn die Studie stützt sich auf Wirtschaftsszenarien, die die Auswirkungen verschiedener möglicher Entwicklungen auf die finanzielle Stabilität der 2. Säule aufzuzeigen.

Verwendete Daten und analysierte Kohorten

Die Studienergebnisse wurden für die 2. Säule allgemein sowie nach Art der Vorsorgeeinrichtung (betriebsgebundene Stiftungen, Sammelstiftungen, Gemeinschaftsstiftungen und öffentlich-rechtliche Vorsorgeeinrichtungen ohne Staatsgarantie) analysiert (siehe https://www.oak-bv.admin.ch/de/themen/erhebung-finanzielle-lage). Als Grundlage dienten die Einzeldaten der Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge (OAK BV) aus deren jährlicher Erhebung. Einige Vorsorgeeinrichtungen wurden aufgrund ihrer Spezifität von der Analyse ausgeschlossen (beispielsweise Einrichtungen mit Leistungsprimat). Danach belief sich die Anzahl der analysierten Vorsorgeeinrichtungen auf 1179 mit Verpflichtungen von insgesamt 758,1 Milliarden Franken (75 % der gesamtschweizerischen Vorsorgeverpflichtungen).

Tiefe Zinsen stärken Finanzperformance

Ein wichtiger Teil der Finanzperformance der vergangenen Jahre ist auf ausserordentliche Kapitalerträge aufgrund der tiefen Zinsen zurückzuführen, die wiederum ein Ergebnis der äusserst vorteilhaften Geldpolitik sind. Ein Ende dieser Geldpolitik und ein Zinsanstieg hätten tiefere Bewertungen zur Folge und würden die erwartete künftige Performance deutlich senken.

In Bezug auf die Vorsorgeleistungen konnten die Vorsorgeeinrichtungen die Versicherten seit 1985 von Zinsgutschriften profitieren lassen, die im Durchschnitt über dem gesetzlichen BVG-Mindestzinssatz lagen. Zudem waren die Zinsgutschriften auch höher als die nominale Lohnerhöhung (zwischen 1985 und 2020: durchschnittlich 1,5 Prozentpunkte darüber). Damit lagen die Leistungen dank Kapitaldeckungsverfahren und drittem Beitragszahler über dem Niveau zum Erhalt der Kaufkraft der Versicherten und über der goldenen Regel, wonach Zinsgutschriften auf Altersguthaben der nominalen Lohnerhöhung entsprechen sollen. Da die tatsächlichen Leistungen über der goldenen Regel liegen, wird das vom Gesetzgeber vorgesehene Rentenziel von 34 % des koordinierten Lohns somit übertroffen. In der Praxis wird dieses Rentenziel nicht in jedem Einzelfall erreicht, was hauptsächlich an systemfremden Faktoren liegt. Mögliche Faktoren sind ein Kapitalbezug während der Erwerbslaufbahn oder eine unvollständige Beitragsdauer bei Pensionierung aufgrund der Arbeitsmarktsituation oder der familiären Situation.

Des Weiteren zeigt die Studie, dass die verschiedenen Kategorien von Vorsorgeeinrichtungen sehr ähnliche Entwicklungen aufweisen, wobei bei den Sammelstiftungen ein signifikanter Unterschied festzustellen ist. Ihre Wertschwankungsreserven liegen im Vergleich zum festgelegten Ziel insgesamt tiefer als bei den anderen Stiftungen. Durch die deutliche Zunahme ihrer Verpflichtungen, die auf die erhebliche Anzahl an Neuversicherten zurückzuführen ist, haben sich ihre Reserven und ihr Deckungsgrad verringert.

Vier Grundlagen- und drei Stress-Szenarien

Die finanzielle Stabilität der 2. Säule wurde anhand von vier grundlegenden Wirtschaftsszenarien analysiert, die sich auf den Zeitraum von fünf oder zehn Jahren beziehen: 1) Das Szenario «Normalisierung» befasst sich mit den Auswirkungen einer Normalisierung der (Zins-)Situation. 2) Das Szenario «Status quo» geht davon aus, dass die Ausgangssituation mit Negativzinsen weiter anhält. 3) Das Szenario «Fortsetzung» sieht vor, dass sich die in den letzten Jahren beobachteten Trends fortsetzen (kontinuierlicher Zinsrückgang). 4). Das Szenario «Zinseskalation, dann Normalisierung» befasst sich mit den Folgen eines schockartigen Zinsanstiegs. In sogenannten Stress-Szenarien wurde zudem die Stabilität der 2. Säule geprüft.

Für jedes Wirtschaftsszenario wurden gestützt auf den «Building Blocks»-Ansatz Ertragserwartungen berechnet. Dieser in der Finanzbranche übliche Ansatz beruht auf akademischen Referenzen und wird auch von Forschungs-, Bank- und Wirtschaftsinstituten verwendet. 

Danach wurde für jede in der Studie berücksichtigte Vorsorgeeinrichtung eine auf den Zeithorizont von zehn Jahren ausgerichtete individuelle Modellrechnung erstellt. Die Bilanzprognose (Aktiven/Passiven) basiert auf den Daten der OAK BV von Ende 2020 und berücksichtigt die finanzielle Situation und die Merkmale der einzelnen Vorsorgeeinrichtungen. 

Kein Ausfall der 2. Säule – Sammelstiftungen risikoanfälliger

Die Ergebnisse der Prognosen zeigen, dass das Kapitaldeckungsverfahren der 2. Säule insgesamt stabil funktioniert (Grafik G1).

Angesichts des sehr geringen Anteils an Vorsorgeeinrichtungen, deren Deckungsgrad nach zehn Jahren unter 90 % liegt, besteht für die 2. Säule kein Ausfallrisiko. Die finanzielle Stabilität der 2. Säule könnte sich in zehn Jahren im Vergleich zur heutigen Situation allerdings potenziell verschlechtern, insbesondere im Szenario mit einem schrittweisen Zinsanstieg (Szenario «Normalisierung»). In diesem Szenario würden bis ins Jahr 2023 insgesamt 20 % der Vorsorgeeinrichtungen, die gemeinsam über 35 % der Verpflichtungen halten, eine Unterdeckung aufweisen. Der Vergleich dieser beiden Werte verdeutlicht, dass die Grösse der Vorsorgeeinrichtung für diese Entwicklung eine wichtige Rolle spielt.

Eine vertiefte Analyse der Ergebnisse aus dem Szenario «Normalisierung» zeigt, welche Kategorien von Vorsorgeeinrichtungen in den nächsten zehn Jahren die grössten Risiken aufweisen (Grafik 2).

G2 Risikokonstellation nach Kategorien

Basierend auf dieser Risiko-Analyse-Karte und den vertieften Analysen des Szenarios «Normalisierung» ergeben sich die folgenden Schlüsse:

  • Haupteinflussfaktor für die prognostizierte finanzielle Stabilität ist der anfängliche Deckungsgrad. Der zweite Einflussfaktor ist der angewendete Umwandlungssatz, insbesondere, wenn dieser über 6,0 % liegt.
  • Bei Sammelstiftungen und öffentlich-rechtlichen Vorsorgeeinrichtungen ist die Verschlechterung der finanziellen Situation ausgeprägter als bei anderen Stiftungen.
  • Die Grösse der Vorsorgeeinrichtung hat einen massgebenden Einfluss auf die finanzielle Situation. Somit stellt das auf grossen Vorsorgeeinrichtungen lastende Risiko eine zentrale Herausforderung dar. 

Mit Blick auf die gewonnenen Erkenntnisse sind die folgenden Ansätze zur Verbesserung der finanziellen Stabilität der 2. Säule prüfenswert:

  • Strukturell angemessene Finanzierung der erbrachten Leistungen sicherstellen, die eher über Beiträge als über die Performance zu beschaffen ist. Ein BVG-Umwandlungssatz von 6,8 % oder auch von 6,0 % setzt die gesamte berufliche Vorsorge finanziell unter Druck, dem durch eine zusätzliche Finanzierung begegnet werden müsste.
  • Massnahmen gegen eine Verwässerung des Deckungsgrads bei Neuanschlüssen (Sammelstiftungen) analysieren. Der Konzentrationsprozess in der 2. Säule und die damit einhergehende Verwässerung des Deckungsgrads sind eine grosse Herausforderung für die Stabilität der 2. Säule.

Nachhaltige Investitionen

Die Flexibilität des geltenden Rechtsrahmens beitet den Vorsorgeeinrichtungen angemessenen Zugang zur beinahe vollständigen Finanzproduktepalette und damit auch zu nachhaltigen Investitionen. Die Einführung einschränkender Kriterien, insbesondere bei den nachhaltigen Investitionen, sind nicht mit der derzeitigen Verantwortung der leitenden Organe vereinbar, die rechtlich für den Anlageprozess verantwortlich sind. Eine Änderung der Anlageeinschränkungen ist weder nötig noch angezeigt.

Um institutionelle Anleger gegebenenfalls für die ethischen, nachhaltigen und Good-Governance-Elemente ihrer Anlagen zu sensibilisieren, wird empfohlen, die Nachhaltigkeit der Portfolios transparenter darzulegen. Ein möglicher Ansatz hierfür könnte die regelmässige Veröffentlichung von Schlüsselindikatoren für Nachhaltigkeit sein – analog zum Vorgehen bei den Vermögensverwaltungskosten.

Das Risikomanagement im Anlageprozess könnte besser überwacht werden, indem eine unabhängige Stelle bezeichnet würde, welche die Angemessenheit der Vermögensaufteilung (Asset Allocation) prüft. Dies ist, sowohl beim versicherungstechnischen als auch beim buchhalterischen Teil der Fall (durch Pensionskassen-Expert/innen bzw. die Revisionsstellen).

Bibliographie

Oberaufsichtskommission BV (2021) : «Bericht zur finanziellen Lage der Vorsorgeeinrichtungen 2021». Bern: OAK BV

Fournier, Marc ; Kern, Olivier ; Riesen, Stéphane ; Scaillet Olivier (2022) : Effets d’une longue période de faibles taux d’intérêt sur la prévoyance professionnelle (auf Französisch, mit Zusammenfassung auf Deutsch); [Bern : BSV]. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 07/22.

Geschäftsleiter Pittet Associés, BVG-Experte, Aktuar SAV
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Direktor Pittet Associés, BVG-Experte, Aktuar SAV.
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