Auf einen Blick
- Angebote der beruflichen Aus- und Weiterbildung sind in der Schweiz oftmals nicht barrierefrei.
- Lernende mit Behinderungen sind derzeit meist auf individuelle Unterstützung angewiesen, da inklusive Strukturen fehlen.
- Bildungsorganisationen sollten Barrierefreiheit als Standard verankern und Lehrpersonen besser unterstützen.
Die Schweizer Bildungspolitik strebt an, dass 95 Prozent der 25-Jährigen einen Abschluss auf Sekundarstufe II erreichen. Dazu zählen auch Lernende mit Behinderungen, für die ein Abschluss oftmals mit besonderen Herausforderungen verbunden ist.
Die Bundesverfassung und die UNO-Behindertenrechtskonvention verpflichten die Schweiz, Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen und ihre volle Teilhabe zu fördern. Bildungsorganisationen sollen Bildung ohne Barrieren gestalten und Technologien zur Kompensation von Einschränkungen nutzen (Kempf 2013:17–19).
Für Lernende mit Behinderungen bietet die Digitalisierung Chancen: Digitale Technologien können ihnen neue Möglichkeiten eröffnen (so beispielsweise über die digitale Verfügbarkeit von Fachbüchern, Übungsmöglichkeiten auf Lernplattformen, Onlineunterricht, Sprachausgabe oder Steuerung per Tastenkombination) und erlauben eine flexiblere Gestaltung des Bildungsalltags (Bühler 2012:27–57), vorausgesetzt, die digitalen Lehr- und Lernmedien sind barrierefrei gestaltet und somit zugänglich.
Im Forschungsprojekt E-Inclusion wurde untersucht, was die digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der beruflichen Aus- und Weiterbildung fördert oder hemmt. Das Projekt ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms «Digitale Transformation» (NFP 77). Dieser Beitrag richtet ein besonderes Augenmerk auf organisationsinterne und externe Einflussfaktoren sowie die Rolle individueller Ressourcen.
Interviews und nationale Onlinebefragung
Behinderung verstehen wir als Ergebnis der Wechselwirkung zwischen einer Person mit Beeinträchtigung und ihrer Umwelt (WHO 2002); Teilhabe als umfassendes Eingebundensein in eine Lebenssituation, indem alle Aspekte einer sozialen Rolle wahrgenommen werden (Piškur et al. 2014) – im Bereich der Bildung also beispielsweise als Teilnehmende, Mitglieder einer Lerngruppe oder Prüfungskandidatinnen.
Die Daten stammen aus den drei Schweizer Sprachregionen und beziehen sich auf berufsqualifizierende Aus- und Weiterbildungen der Sekundarstufe II, der Tertiärstufe sowie der praktischen Ausbildung. Die Datenerhebung kombiniert qualitative und quantitative Methoden. Sie umfasst unter anderem 43 Interviews mit Lernenden mit Behinderungen, darunter Personen mit Hör- und Sehbeeinträchtigungen, mit Einschränkungen der Mobilität, mit motorischen, psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen sowie Personen, die von Blindheit, Gehörlosigkeit oder chronischen Erkrankungen betroffen sind. Daneben wurden 10 Interviews mit Fachpersonen aus dem Feld, 11 Interviews mit Verantwortlichen aus Bildungsorganisationen zur Implementierung digitaler Teilhabe sowie eine nationale Onlinebefragung von Bildungsorganisationen (431 Teilnehmende aus 289 verschiedenen Bildungsorganisationen) durchgeführt. Hinzu kommen E-Accessibility-Tests der Lernumgebungen in Bildungsorganisationen sowie von Lern-Apps und weiteren Plattformen.
Die Analyse organisationsinterner Einflussfaktoren stützt sich auf den Index für Inklusion von Booth und Ainscow (2010), der die Ebenen Kultur, Strukturen und Praxen unterscheidet. Er wurde hinsichtlich der digitalen Teilhabe ergänzt (vgl. Steiner und Kaiser 2023).
Sensibilisierung ist wichtig
Auf der Ebene der organisationalen Kultur – also in Bezug auf Haltungen, Einstellungen und Werte –ist die Sensibilisierung der Lehr- und insbesondere der Leitungspersonen zentral dafür, dass eine Bildungsorganisation sich digitaler Teilhabe widmet. Unseren Ergebnissen zufolge basiert diese allerdings meist auf einem persönlichen Bezug zum Thema, z. B. durch eine Person mit Behinderung im privaten Umfeld, und weniger auf fachlicher Auseinandersetzung mit inklusiver Bildung.
Obwohl drei Viertel der Befragten die Bedeutung des Themas «Lernen mit Behinderung» hervorheben, wird dies auf der Ebene von Strukturen kaum sichtbar. So sind Unterstützungsangebote für Lehrkräfte und Lernende mit Behinderungen, Inklusionsstrategien, Massnahmen für Barrierefreiheit kaum vorhanden. Zwar verfügen 70 Prozent der Bildungsorganisationen über ein Digitalisierungskonzept, doch lediglich ein Drittel davon behandelt behinderungsspezifische Themen. Lücken bestehen insbesondere bei standardisierten Abläufen wie der Gewährung von Nachteilsausgleichen und der Beschaffung digitaler Infrastruktur sowie bei Austauschgefässen und der internen Weiterbildung. Die Ursachen dafür finden sich nicht nur bei den Bildungsorganisationen, sondern auch bei Trägerschaften, Aufsichtsorganen und politisch gesteuerten Finanzierungsmechanismen, die Zugänglichkeit als Standard weder überprüfen noch konsequent durchsetzen.
«Wir hatten nie einen strategischen Plan, sei es vom Kanton oder intern, der uns klar sagte: Passt bei der Wahl der digitalen Instrumente auf diesen Aspekt auf.»
Direktion einer Berufsbildungsorganisation in der Romandie
Im Unterricht oder bei der Unterstützung von Lernenden mit Behinderungen – also auf der Ebene organisationaler Praxen – zeigt sich: Viele der Betroffenen betonen, dass digital verfügbare Lerninhalte die Zugänglichkeit verbessern. Dennoch fehlen in der beruflichen Bildung inklusive Strukturen, sodass es individuelle Unterstützung braucht – eine Aufgabe, die vor allem Lehrkräfte übernehmen. Allerdings erhalten sie in nur knapp der Hälfte der befragten Organisationen Hilfestellungen oder klare Vorgaben zum Einsatz digitaler Medien. Fast alle befragten Lehrpersonen (97%) nehmen die Erstellung barrierefreier Inhalte als Zusatzaufwand wahr, der jedoch kaum durch entsprechende Ressourcen gedeckt ist. Dies wirkt sich negativ auf die Motivation aus. So sagte beispielsweise eine Fachstellenverantwortliche Person einer Fachhochschule in der Deutschschweiz: «Und alles, was irgendwie über den Normalaufwand hinausgeht, ist einfach nicht bezahlt. Das ist nicht gut. Also das ist auf jeden Fall etwas, das Widerstände erzeugt.»
Die durchgeführten Accessibility-Tests zeigen erhebliche Defizite in der Zugänglichkeit digitaler Systeme, Inhalte und Applikationen. Auch Lernende mit Behinderungen berichten von digitalen Barrieren.
«Aber wie genau, wenn ich mich jetzt für Kurse einschreiben muss, wie ich mich einloggen müsste und der Weg bis dahin ... keine Ahnung.»
Bachelor-Student mit einer Sehbeeinträchtigung an einer Fachhochschule
Der zunehmende Einsatz digitaler Medien, Strategien wie «Bring Your Own Device» und der oft fehlende institutionelle Support bei privaten Geräten führt zu Unterstützungsbedarf bei allen Lernenden. Lehrkräfte sind dadurch zusätzlich belastet, was ihre Kapazität einschränkt, die digitale Teilhabe von Lernenden mit Behinderungen zu fördern.
Insgesamt dominieren in Bildungsorganisationen individuelle Ad-hoc-Lösungen gegenüber konzeptionellen und strukturellen Ansätzen. Je weniger Barrieren jedoch in Standardprozessen wie Information, Lernen, Prüfen bestehen, desto weniger nachgelagerte individuelle Massnahmen sind notwendig. Der UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen empfiehlt entsprechend, beide Ansätze zu kombinieren, um digitale Teilhabe nachhaltig zu verbessern.
Externe Akteure in der Pflicht
Auch externe Akteure können massgeblich zur digitalen Teilhabe von Lernenden mit Behinderungen beitragen. So können bildungspolitische Organe durch gezielte Strategien und Ressourcen eine wirksame Umsetzung unterstützen. Dabei ist zentral, digitale Teilhabe als grundlegenden Wert zu verankern, anstatt sie lediglich als Reaktion auf individuelle Bedürfnisse zu betrachten.
Ein weiterer Hebel sind Lernplattformen, Anwendungen und Bildungsinhalte von Softwareanbietern, Verlagen sowie Branchen- und Berufsverbänden. Derzeit sind diese noch kaum barrierefrei. Dies erschwert die digitale Teilhabe von Lernenden mit Behinderungen und verursacht einen Zusatzaufwand. Branchen- und Berufsverbände organisieren zudem (höhere) Berufsprüfungen, für die Nachteilsausgleiche jeweils erneut beantragt werden müssen. Dies ist aus Sicht von Bildungsorganisationen und Lernenden mit Behinderungen mit einem hohen Aufwand verbunden. Unflexible Regelungen kommen erschwerend hinzu.
Externe Fachstellen und Behindertenorganisationen schliesslich werden mit ihrem Know-how und ihren Dienstleistungen für Lernende mit Behinderungen als entlastend und unterstützend wahrgenommen.
Individuelle Ressourcen mitentscheidend
Um verbesserte Teilhabemöglichkeiten und Lösungen zu erhalten, müssen Lernende mit Behinderungen vielfach auf Verantwortliche zugehen. In den Gesprächen wurde deutlich, wie viel Zeit und Energie sie in die Überwindung digitaler Barrieren wie beispielsweise ungenügender Maschinenlesbarkeit oder fehlender Untertitelung von Videos investieren. Dadurch bleibt ihnen weniger Zeit für bildungsrelevante Lernaktivitäten. Viele Lernende mit Behinderungen nehmen dies jedoch in Kauf, da sie sich für die Kompensation ihrer Beeinträchtigung verantwortlich fühlen, nicht auffallen wollen und Stigmatisierung fürchten.
Besonders eingeschränkt sind die Teilhabemöglichkeiten von Lernenden mit Behinderungen, wenn sowohl digitale Kompetenzen als auch Unterstützung im schulischen oder privaten Umfeld fehlen.
«Aber die [Mutter] konnte dann auch nicht viel machen, oder mein Vater konnte auch nicht viel machen, und die Grossmutter kommt sowieso nicht draus beim PC, und in der Schule konnten sie auch nicht viel machen.»
Lernende einer praktischen Ausbildung (PrA) einer Berufsbildungsorganisation für Personen mit Behinderungen
Barrierefreiheit als Prinzip
Aus den Ergebnissen ergeben sich unter anderem folgende Empfehlungen (ein umfassender «Orientierungsrahmen Digitale Teilhabe» wird 2025 auf der Website des Projekts publiziert).
Erstens muss die Zugänglichkeit von Bildungsangeboten als Standard etabliert werden: Bildungsorganisationen sollten Barrierefreiheit in Digitalisierungsstrategien integrieren und interne Strukturen (Kompetenzzentrum digitale Zugänglichkeit, zentrale Prüfstelle für Barrierefreiheit) aufbauen. Anzustreben sind klare Verantwortlichkeiten, institutionalisierte Lösungen und Barrierefreiheit als verbindliches Beschaffungskriterium. Lernende mit Behinderungen und Mitarbeitende bei der Gestaltung inklusiver Bildungssettings einzubinden, fördert kontinuierliche Verbesserungen.
Zweitens gilt es die individuelle Belastung von Lernenden mit Behinderungen zu senken: Informationen und Prozesse in Bildungsorganisationen sind so zu gestalten, dass Lernende mit Behinderungen ohne zusätzliche Belastung und Zeitaufwand lernen können beziehungsweise Unterstützung erhalten. Erwerb und Erweiterung grundlegender digitaler Kompetenzen sollten Bestandteil der beruflichen Aus- und Weiterbildung sein, damit sich (sozioökonomische) Ungleichheiten nicht verschärfen.
Drittens sollte das Thema «Digitale Teilhabe» stärker in der Aus- und Weiterbildung von Lehr- und Leitungspersonen integriert werden. Dies verbessert die Zugänglichkeit von Bildungsangeboten, stärkt die Akzeptanz digitaler Medien und Hilfsmittel und sensibilisiert für die digitalen Bedürfnisse aller Lernenden.
Die systematische Verankerung von Barrierefreiheit und digitaler Teilhabe in der Berufsbildung ist sowohl eine rechtliche und ethische Verpflichtung als auch eine Investition in ein Bildungssystem, das allen Lernenden gleiche Chancen auf einen Abschluss ermöglicht und das Fachkräftepotenzial optimal nutzt. Hoffnung weckt die 2024 lancierte Allianz Digitale Inklusion Schweiz (ADIS), die sich für eine barrierefreie, inklusive digitale Schweiz einsetzt. Welche Auswirkungen dies auf den Bildungsbereich haben wird, bleibt abzuwarten.
Das Projektteam von E-Inclusion an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW setzte sich neben der Autorin aus Silvano Ackermann, Gabriela Antener, Anton Bolfing, Julia Garibovic Bannwart, Fabienne Kaiser und Olivier Steiner zusammen.
Literaturverzeichnis
Bühler, Christian (2012). Sieben Fragen zur inklusiven Medienbildung. In: Bosse, Ingo (Hg.) Medienbildung im Zeitalter der Inklusion. LfM-Dokumentation, Bd. 45, 27–57.
Booth, Tony; Ainscow, Mel (2017). Index für Inklusion. Ein Leitfaden für Schulentwicklung. Herausgeber/innen und Adaption der deutschsprachigen Ausgabe: Achermann, Bruno; Amirpur, Donja; Braunsteiner, Maria-Luise; Demo, Heidrun; Plate, Elisabeth; Platte, Andrea.
Kempf, Matthias (2013). Digitale Teilhabe und UN-Behindertenrechtskonvention. In: SIEGEN: SOZIAL. Analysen, Berichte, Kontroversen. 18 (1), 16–23.
Piškur, Barbara; Daniëls, Ramon; Jongmans, Marian; Ketelaar, Marjolijn; Smeets, Rob J.; Norton, Meghan; Beurskens, Anna J. (2014). Participation and Social Participation: Are They Distinct Concepts? In: Clinical Rehabilitation, 28(3), 211–220.
Steiner, Olivier; Kaiser, Fabienne (2023). E-Inclusion of People with Disabilities in Vocational and Professional Education and Further Training Organisations in Switzerland: First Results of a Quantitative Survey. In: Antona, Margeritha; Stephanidis, Constantine (Hg.). Universal Access in Human-Computer Interaction. Proceedings Part II HCI 2023, 417–433.