Betreuung im Alter integrativ gestalten

Bei der Betreuung älterer Menschen besteht Handlungsbedarf, wie eine neue Studie bestätigt. So sollte unter anderem die Koordination auf allen Staatsebenen strategisch verbessert werden. Zudem gilt es die Bedürfnisse und die spezifische Situation der Betroffenen konsequent ins Zentrum zu stellen.
Peter Stettler, Caroline Heusser
  |  28. November 2023
    Forschung und Statistik
  • Alter
  • Behinderung
  • Ergänzungsleistungen
  • Generationen
Betreuung als Unterstützungsform stellt die Beziehungsebene in den Vordergrund. (Keystone)

Auf einen Blick

  • Betreuung kann dazu beitragen, dass ältere Menschen die Sorge für sich selbst, die Selbstbestimmung und die soziale Teilhabe trotz bestehender Einschränkungen möglichst weitgehend und lange selber wahrnehmen können.
  • Angesichts des steigenden Betreuungsbedarfs unserer alternden Gesellschaft braucht es heute verstärkte und aufeinander abgestimmte Anstrengungen auf staatlicher und privater Ebene, die bestehenden Unterstützungssysteme weiter zu entwickeln und Zugangsbarrieren abzubauen.
  • Integrative Ansätze der Betreuung können einen Beitrag zu einer angemessenen, niederschwelligen und präventiv wirksamen Betreuung leisten und sollten deshalb gefördert werden.

Ältere Menschen bedarfsgerecht zu betreuen, ist gesellschaftlich herausfordernd. Im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen haben wir deshalb eine Standortbestimmung vorgenommen (Stettler et al. 2023). Unsere Untersuchung basiert auf zahlreichen Berichten und Praxisdokumenten und auf Erfahrung- und Praxis von Akteuren im Feld.

Doch was bedeutet «Betreuung»? Unsere Studie versteht darunter in Anlehnung an Knöpfel et al. (2020) die Unterstützung älterer Menschen, die aufgrund ihrer Lebenssituation oder aufgrund von physischen, psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen ihren Alltag nicht mehr selbstbestimmt gestalten oder nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Betreuung als Unterstützungsform stellt die Beziehungsebene und die sozialen Aspekte der Unterstützung in den Vordergrund. Sie orientiert sich hauptsächlich am Ziel, Selbstbestimmung und soziale Teilhabe trotz bestehender Einschränkungen zu ermöglichen. Dabei steht die «Hilfe zur Selbsthilfe» und oft das gemeinsame Tun im Vordergrund (z. B. zusammen Hausarbeiten erledigen, gemeinsam Alltagsthemen besprechen etc.).

Praktische Hilfen (z. B. Mahlzeiten- oder Fahrdienste, Putzhilfen), aber auch Kurse oder Veranstaltungen sowie Hilfsmittel und bauliche Massnahmen, sind wichtig für eine möglichst selbstbestimmte Alltagsgestaltung. Wenn im Folgenden von «Betreuung» gesprochen wird, sind auch diese Leistungen und Massnahmen mitgemeint.

Kantone sind in erster Linie zuständig

Die Studie zeigt: Betreuung im Alter ist auf allen Ebenen des föderalen Systems und auch bei den Anbietern von entsprechenden Leistungen ein wichtiges Thema, das diskutiert wird und für das in den letzten Jahren angesichts der anstehenden Aufgaben Lösungen gesucht und erprobt wurden.

Auf Bundesebene sind inhaltliche Gestaltungsmöglichkeiten und Steuerungspotenzial im heutigen rechtlichen Rahmen, der die Zuständigkeit für die Betreuung im Alter den Kantonen zuschreibt, beschränkt vorhanden. Im Rahmen der bestehenden Systeme der Ergänzungsleistungen und der Hilflosenentschädigungen wird Betreuung bis heute nur marginal finanziert. Über Finanzhilfen an nationale Organisationen der Altershilfe (wie Pro Senectute Schweiz, Alzheimer Schweiz etc.) werden Leistungen zugunsten der älteren Bevölkerung teilweise mitfinanziert.

Die Kantone, die hauptsächlich für Hilfe und Pflege im Alter und damit auch für die Betreuung zuständig sind, definieren Betreuung im Alter nicht als eigenständigen Politik- oder Versorgungsbereich. Gemeinhin wird Betreuung im Rahmen der Bestimmungen zur stationären und ambulanten Langzeitpflege mitreguliert. Regelungen und Strategien zur Betreuung im Alter sind in unterschiedlichem Mass in der kantonalen Alterspolitik enthalten. Diese ist aber nur in wenigen Fällen weitgehend und umfassend ausgestaltet. Insgesamt ist der Bereich «Betreuung im Alter» in den Kantonen sehr unterschiedlich ausgestaltet. Oftmals ist die Finanzierung einer Alterspolitik und damit auch der Betreuung nicht längerfristig durch eine gesetzliche Grundlage abgesichert.

Freiwillige leisten einen wesentlichen Beitrag

Die Versorgung stützt sich im stationären Bereich und im Bereich des betreuten Wohnens hauptsächlich auf gemeinnützige Alters- und Pflegeheime und im ambulanten Bereich stark auf die öffentlichen und privaten Spitexdienste. Bei diesen auf Pflege im Sinne des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) fokussierten Anbietern sind die finanzierten Betreuungsleistungen sehr eng gefasst. Darüberhinausgehende Betreuungsleistungen wie beispielsweise Beratungen zur Gestaltung des Alltags, Unterstützung bei der Pflege des Beziehungsnetzes oder gemeinsame Besprechungen einer Anpassung der Haushaltsorganisation, werden zwar angeboten, müssen aber von den Betroffenen weitgehend selbst finanziell getragen werden. Betreuung ohne «Pflegebezug» leisten hauptsächlich Organisationen der Altershilfe, die Angebote für zu Hause wohnende Personen bereitstellen.

Einen wesentlichen Beitrag zur Betreuung im Alter leisten betreuende Angehörige und weitere nahestehende Personen aus dem sozialen Umfeld. Ausserhalb des stationären Bereichs – und insbesondere zu Beginn des «Fragilisierungsprozesses» – sind es die betreuenden Angehörigen, welche den Hauptteil der Betreuung übernehmen (BAG 2020). Aber auch in Pflegeheimen leisten nahestehende Personen und Freiwillige im Rahmen von Besuchen wichtige betreuerische Aufgaben im Bereich der psychosozialen Unterstützung und Begleitung.

Betreuungsbedarf steigt

Der steigende Betreuungsbedarf ist eine Herausforderung für eine alternde Gesellschaft. Gemäss aktuellen Bevölkerungsszenarien wird der Anteil der Personen über 65 Jahre von aktuell 19 Prozent bis 2040 auf 24 Prozent ansteigen (Pellegrini et al. 2022). Auch wenn die Menschen zunehmend länger gesund bleiben, ist eine deutliche Erhöhung des Bedarfs an Betreuung im Alter zu erwarten. Besonders ausgeprägt ist die prognostizierte Bevölkerungszunahme in den hohen Altersklassen. Neben diesen Entwicklungen gehen die interviewten Fachpersonen davon aus, dass es immer mehr alleinstehende ältere Menschen geben wird und dass die neue Generation älterer Menschen höhere Qualitätsansprüche stellen wird.

Auf individueller Ebene sind Alterungs- und Fragilisierungsprozesse von vielfältigen persönlichen Faktoren (Herkunft, Bildungsstand, Geschlecht, materielle Verhältnisse, Beziehungsstand, soziale Einbettung) abhängig. Sowohl der Unterstützungsbedarf als auch die Inanspruchnahme von Hilfe und Betreuung werden ausserdem von Kontextfaktoren wie der Wohnsituation sowie strukturellen Rahmenbedingungen (u. a. Regelung der Existenzsicherung im Alter; Verfügbarkeit, Ausgestaltung und Finanzierung benötigter Unterstützungsleistungen) beeinflusst. Der Betreuungsbedarf wird durch den Verlauf des Alterungs- und Fragilisierungsprozesses beeinflusst. Zudem führen psychische Erkrankungen, körperliche Behinderungen, Seh-, Hör- und Sprachbehinderungen, chronische Erkrankungen sowie Suchterkrankungen zu spezifischem Betreuungsbedarf.

Herausforderungen bestehen sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich. In Pflegeheimen stehen die sinngebende Alltagsgestaltung und die beziehungs- und interaktionsbasierte Betreuung (bzw. deren Umsetzung angesichts der bestehenden betrieblichen Rahmenbedingungen) im Vordergrund. Bei älteren Menschen, die zu Hause wohnen, stellen die Nicht-Inanspruchnahme von Betreuungsleistungen, der Bedarf nach Koordination und Vermittlung der Betreuungsleistungen (sowohl auf individueller als auch auf struktureller Ebene) und die Finanzierung der Betreuung zentrale Herausforderungen dar.

Über beide Settings hinweg ist festzustellen, dass der zeitliche Bedarf für eine optimale Betreuung bereits heute nicht gedeckt wird (vgl. Kägi et al. 2021). Es ist davon auszugehen, dass das Potenzial von angemessener Betreuung im Alter hinsichtlich der Lebensqualität der älteren Bevölkerung und der Prävention aktuell nicht realisiert wird.

Auch die Finanzierung von Betreuung im Alter ist insgesamt nicht genügend gesichert. Da Betreuung von der öffentlichen Hand nicht als obligatorische Aufgabe definiert wird, sind Betreuungsleistungen stärker als andere dem Risiko ausgesetzt, dass sie aus den kantonalen und kommunalen Budgets gestrichen werden, wenn das Geld knapp ist. Der Auf- und Ausbau von Strukturen und Finanzierungslösungen für die Betreuung im Alter hat daher meist «Projektcharakter» und die Kontinuität ist nicht gewährleistet.

Integrative Betreuung

Unter dem Begriff «integrative Betreuung» fasst die Studie Konzepte und Ansätze zusammen, die Betreuung im Alter weitgehend als eigenständigen Bereich der Sorge für und Versorgung von älteren Menschen verstehen. «Integrativ» meint dabei einerseits, dass die Arrangements von Betreuung sich konsequent an den Bedürfnissen und der Situation der alternden Menschen (und ihrer Angehörigen) orientieren, dabei deren Selbstständigkeit und Selbstbestimmung möglichst wahren und auf ihren Ressourcen und Kompetenzen aufbauen. Andererseits wird mit «integrativ» der Aspekt eines umfassenden und koordinierten Angebots der Betreuung angesprochen. Schliesslich gehört auch der Aspekt der Zugänglichkeit dazu, d. h. dass alle älteren Menschen Zugang zu einer angemessenen Betreuung erhalten sollten. «Integrative Betreuung» weist demnach folgende vier Dimensionen auf:

  • personenzentriert;
  • koordiniert;
  • umfassend;
  • zugänglich.

Das Themenfeld «integrative Betreuung» im Alter wurde in den letzten Jahren in der Schweiz verschiedentlich bearbeitet. Personenzentriertheit und eine Koordination der Angebote vor Ort werden von den an der Versorgung beteiligten Organisationen als wesentliche Themen angesehen und in der Praxis angestrebt. Konkrete, umfassende Konzepte wurden bisher jedoch nicht ausgearbeitet. Verschiedentlich wurden Praxismodelle entwickelt und punktuell eingeführt.

Angesichts der erwähnten Herausforderungen scheinen integrative Betreuungsmodelle aus mehreren Gründen sinnvoll. So verbessert die Koordination der Angebote sowie der Einbezug von Freiwilligen und Angehörigen idealerweise die Effizienz der Betreuungsangebote. Zudem sind integrative Ansätze insgesamt niederschwelliger und erhöhen damit die rechtzeitige Inanspruchnahme von Unterstützung und die Zugänglichkeit für bisher nur schwer erreichbare ältere Menschen. Weiter leistet die integrative Betreuung einen Beitrag an den Erhalt von Selbstständigkeit und Selbstbestimmung der älteren Personen, indem sie sich konsequent am Bedarf und an den Bedürfnissen der älteren Person orientiert. Damit kann der integrativen Betreuung eine präventive Wirkung zugeschrieben werden.

Strategische und koordinierte Weiterentwicklung

Als Fazit lässt sich festhalten: Für Aufgaben im Bereich der Betreuung im Alter existiert ein komplexes System von Zuständigkeiten der öffentlichen Hand auf Ebene Bund, Kantone und Gemeinden, von Organisationen der Altershilfe und von privatwirtschaftlichen Betreuungsanbietern sowie betreuenden Angehörigen und Freiwilligen. Das System weist einen hohen Orientierungs- und Koordinationsbedarf auf, wozu allerdings eine einheitliche, allseits anerkannte inhaltliche Bestimmung und rechtliche Regelung fehlt. Auch die Diskussion, was ein legitimer Anspruch der älteren Bevölkerung auf gesellschaftlich bereitgestellte und finanzierte Betreuung im Alter sein könnte, ist nicht so weit fortgeschritten, dass sich Betroffene und involvierte Akteure daran orientieren könnten.

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig und dringlich, dass die beteiligten Akteurinnen und Akteure – seien sie aus Politik und Verwaltung auf allen föderalen Ebenen, aus Fachorganisationen oder der praxisorientierten Forschung – eine gemeinsame Strategie verfolgen, um Betreuung im Alter weiterzuentwickeln. Einen Beitrag können beispielsweise integrative Ansätze leisten, die weiter zu erproben sind und deren Wirkungen evaluiert werden sollten.

Literaturverzeichnis

BAG (Hrsg.) (2020). Synthesebericht Förderprogramm «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige 2017–2020». Bern.

Kägi, Wolfram; Frey, Miriam; Huddleston, Christopher; Lamprecht, Matthias; Metzler, Raphael; Suri, Mirjam (2021). Gute Betreuung im Alter – Kosten und Finanzierung; Im Auftrag der Paul Schiller Stiftung. Basel: BSS Volkswirtschaftliche Beratung.

Knöpfel, Carlo; Pardini, Riccardo; Heinzmann, Claudia (2020). Wegweiser für gute Betreuung im Alter. Begriffsklärung und Leitlinien; Herausgegeben von Age-Stiftung, Beisheim Stiftung, MBF Foundation, Migros-Kulturprozent, Paul Schiller Stiftung, Walder Stiftung.

Pellegrini, Sonia; Dutoit, Laure; Pahud, Olivier; Dorn, Michael (2022). Bedarf an Alters- und Langzeitpflege in der Schweiz. Prognosen bis 2040 (Obsan Bericht 03/2022). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium.

Stettler, Peter; Jäggi, Jolanda; Heusser, Caroline; Gajta, Patrik; Stutz, Heidi (2023). Betreuung im Alter – Bedarf, Angebote und integrative Betreuungsmodelle; Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 7/23.

Partner und Bereichsleiter Evaluationen, Alterspolitik und Altershilfe, Büro für arbeits- und sozial-politische Studien BASS.
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Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS.
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