Auf einen Blick
- Die Langfristszenarien des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) bilden die Entwicklung des Bruttoinlandprodukts (BIP) der Schweiz bis 2070 ab.
- Für das BIP pro Kopf ist das Produktivitätswachstum ausschlaggebend; die Bevölkerungszunahme hat hingegen einen geringeren Einfluss.
- Die Langfristszenarien bilden die Grundlage für weitere Projektionen – etwa zur AHV und zur IV.
Im Jahr 2070 feiert der Autor dieses Artikels seinen 85. Geburtstag, hoffentlich bei guter Gesundheit. Doch wie wird sich bis dahin die Wirtschaftsleistung in der Schweiz entwickeln? Im Jahr 2024 lag das reale Bruttoinlandprodukt (BIP) der Schweiz bei rund 780 Milliarden Franken, was pro Kopf etwa 86 000 Franken entsprach.
Ein Blick in die Zukunft ist naturgemäss mit Unsicherheiten verbunden. Bei einem Zeithorizont von rund 45 Jahren spricht man entsprechend nicht mehr von Prognosen, sondern von Szenarien. Trotz aller Unwägbarkeiten sind solche Langfristszenarien für das Schweizer BIP unverzichtbar: Verwaltung, Politik und die breite Öffentlichkeit benötigen eine fundierte Orientierung, um langfristig tragfähige Entscheidungen treffen zu können – beispielsweise in der Fiskalpolitik, bei Infrastrukturprojekten, Strukturreformen oder in der Klimapolitik. Nicht zuletzt auch die Finanzperspektiven von AHV und IV beruhen auf Langfristszenarien zur wirtschaftlichen Entwicklung.
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) berechnet und aktualisiert vierteljährlich solche langfristigen Szenarien für das Schweizer BIP. Dabei berücksichtigt es die neuesten verfügbaren Daten und aktuelle wirtschaftliche Entwicklungen. Derzeit reichen die Szenarien bis ins Jahr 2070.
Von kurzfristigen Prognosen zu langfristigen Szenarien
Die Szenarien zur BIP-Entwicklung der Schweiz illustrieren die langfristige Entwicklung des BIP auf Grundlage verschiedener Annahmen zur Erwerbsbevölkerung und zur Arbeitsproduktivität. Methodisch berechnet das SECO drei Prognosehorizonte: Kurzfristprognosen, Mittelfristprognose und Langfristszenarien.
Die Kurzfristprognosen – die sogenannten Konjunkturprognosen – enthalten zentrale Wirtschaftsindikatoren wie das BIP, die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit für das laufende und das folgende Jahr. Eine Expertengruppe des Bundes erstellt diese Konjunkturprognosen einmal pro Quartal.
Daran anschliessend folgen die Mittelfristprognosen, welche den Zeithorizont der nächsten zwei bis acht Jahre umfassen (derzeit 2027 bis 2033). Das SECO stützt sich hier auf den Produktionsfunktionsansatz gemäss der Methodik der Europäischen Kommission (siehe Fischer et al. 2024). Sprich: Das Produktionspotenzial wird als Funktion der Faktoren Arbeit und Kapital sowie der totalen Faktorproduktivität modelliert. Änderungen in der Erwerbsbevölkerung, wie sie in den Bevölkerungsszenarien des Bundesamts für Statistik (BFS, aktuell gemäss Stand von 2020) abgebildet sind, beeinflussen daher über das Arbeitsangebot mittelfristig direkt das Produktionspotenzial. Zudem wird angenommen, dass sich die Wirtschaftsleistung (reales BIP) nach allfälligen Schwankungen innerhalb von sieben Jahren nach Ende der kurzfristigen Vorhersagephase stabilisiert und auf ihr langfristiges Produktionspotenzial zurückkehrt.
Ab einem Zeithorizont von neun Jahren setzen die Langfristszenarien ein. Sie umfassen derzeit die Jahre 2034 bis 2070 und werden auf Basis des durchschnittlichen historischen Wachstums der Arbeitsproduktivität und der Bevölkerungsszenarien des BFS entwickelt. Veränderungen im Arbeitsvolumen und in der Arbeitsproduktivität werden separat betrachtet.
BIP im Jahr 2070
Das SECO veröffentlicht aktuell fünf Langfristszenarien. Das Referenzszenario basiert auf dem Referenzszenario des Bundesamts für Statistik (A-00-2020, aktuell gemäss Stand von 2020) zur Entwicklung der Erwerbsbevölkerung sowie dem historischen Durchschnitt des Wachstums der Arbeitsproduktivität. Zwei weitere Szenarien illustrieren mögliche Variationen der Erwerbsbevölkerung: eines mit hohem und eines mit tiefem Bevölkerungswachstum, jeweils kombiniert mit dem historischen Produktivitätswachstum. Zusätzlich werden zwei Szenarien mit abweichendem Produktivitätswachstum dargestellt, einmal mit höherer und einmal mit tieferer Produktivitätssteigerung, jeweils basierend auf dem Referenzszenario der Erwerbsbevölkerung des BFS.
Gemäss dem Referenzszenario steigt das reale BIP bis zum Jahr 2070 auf über 1400 Milliarden Franken (siehe Grafik 1). Dies entspricht kumuliert einem Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung gegenüber heute von über 80 Prozent oder einem durchschnittlichen BIP-Wachstum von 1,3 Prozent pro Jahr. Im Szenario mit hohem Produktivitätswachstum könnte sich das BIP sogar mehr als verdoppeln, während es im Szenario mit tiefem Produktivitätswachstum lediglich um rund 55 Prozent wächst. Im Szenario mit starkem Bevölkerungswachstum steigt das BIP gegenüber heute um 112 Prozent, während es bei einem geringen Bevölkerungswachstum um 56 Prozent zunimmt.
Neben dem Niveau der gesamtwirtschaftlichen Produktion kann aus den Langfristszenarien auch das BIP pro Kopf berechnet werden. Dieses gilt gemeinhin als Mass für den Lebensstandard der Bevölkerung. Gemäss dem Referenzszenario steigt das reale BIP pro Kopf von aktuell rund 86 000 Franken auf 128 000 Franken im Jahr 2070.
Bei einem hohen Produktivitätswachstum könnte das reale BIP pro Kopf bis 2070 auf knapp 150 000 Franken steigen. Demgegenüber führt ein Szenario mit tiefem Produktivitätswachstum zu einem Pro-Kopf-BIP von rund 109 000 Franken.
Der Einfluss des Bevölkerungswachstums auf das BIP pro Kopf ist deutlich geringer. Sollte das Bevölkerungswachstum höher ausfallen, läge das BIP pro Kopf im Jahr 2070 bei etwa 127 000 Franken pro Kopf. Bei einem tiefen Bevölkerungswachstum beträgt es rund 126 000 Franken.
Unterschiede je nach Bevölkerungsszenario ergeben sich im BIP pro Kopf deshalb, weil sich ein verändertes Bevölkerungswachstum nicht nur auf den Nenner (Bevölkerung), sondern auch auf das gesamtwirtschaftliche Produktionspotenzial auswirkt. In Szenarien mit stärkerem Bevölkerungswachstum nimmt nicht nur die Zahl der Erwerbspersonen zu, vielmehr bleibt auch der Anteil jüngerer, potenziell erwerbstätiger Personen an der Gesamtbevölkerung höher. Damit steigt auch das Arbeitsvolumen, was zu einem etwas höheren BIP pro Kopf führen kann.
Produktivität für Wohlstand entscheidend
Diese grossen Unterschiede je nach Produktivitätswachstum verdeutlichen, wie zentral die langfristige Steigerung der Produktivität für die zukünftige Wohlstandsentwicklung der Schweiz ist. Bereits geringe Abweichungen in der jährlichen Wachstumsrate kumulieren sich über längere Zeiträume erheblich, was dem Effekt exponentiellen Wachstums entspricht.
Eine gängige Faustregel besagt, dass sich bei einer konstanten jährlichen Wachstumsrate von x Prozent das Pro-Kopf-BIP in etwa nach 70/x Jahren verdoppelt. Bei einem Wachstum von 2 Prozent pro Jahr ergibt sich somit eine Verdopplung etwa alle 35 Jahre (siehe Grafik 2).
Basis für Sozialversicherungen
Trotz aller Unsicherheiten bieten die Langfristszenarien des SECO eine Orientierung für langfristige politische und finanzielle Weichenstellungen. Sie bilden die makroökonomische Grundlage für diverse Projektionen wie beispielsweise die Branchenszenarien des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE), die Perspektiven für die Entwicklung des Verkehrs oder die Energieperspektiven.
Die Langfristszenarien sind auch einer der Grundpfeiler für die Finanzperspektiven der Sozialversicherungen. So stützen sich die langfristigen Szenarien des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) zur Entwicklung der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) und der Invalidenversicherung (IV) unter anderem auf die BIP-Pfade des SECO. Die wirtschaftliche Tragfähigkeit des Sozialstaats in der Schweiz ist somit eng mit der Produktivitäts- und der demografischen Entwicklung verknüpft.
Literaturverzeichnis
Fischer, Sarah, Glocker, Christian, Kaniovski, Serguei, Wegmüller, Philipp (2024). Assessing the Potential Output for Switzerland: Determinants, Trends and Drivers. J Bus Cycle Res 20: 297–338.