Mit der «Weiterentwicklung der IV» (WEIV) wurden neu das stufenlose Rentensystem eingeführt sowie die Grundsätze zur Invaliditätsgradbemessung auf Verordnungsstufe verankert. Die Auswirkungen dieser Neuerungen werden im Rahmen des Forschungsprogrammes zur IV (FoP-IV) evaluiert.
Auf einen Blick
- Mit der WEIV erfolgte die Umstellung zu einem stufenlosen Rentensystem. Beim stufenlosen Rentensystem kommt es für die Rentenhöhe neu auf jedes Prozent Invaliditätsgrad an, wodurch die Bemessung des Invaliditätsgrades an Bedeutung gewinnt.
- Daher wurden die Grundsätze der Invaliditätsgradbemessung auf Verordnungsebene festgelegt, unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung und gleichzeitiger punktueller Optimierungen zugunsten der versicherten Personen.
- Die bisherigen Korrekturfaktoren zur Invaliditätsgradbemessung wurden weiterentwickelt. Die Parallelisierung wurde beibehalten und ausgeweitet. Der sogenannte leidensbedingte Abzug wurde abgelöst durch eine konsequente Berücksichtigung aller quantitativen und qualitativen Einschränkungen im Rahmen der Festlegung der funktionellen Leistungsfähigkeit und eines Teilzeitabzuges.
Das stufenlose Rentensystem
Eines der zentralen Themen der WEIV war der Wechsel zu einem neuen, stufenlosen Rentensystem. Mit der Einführung dieses neuen Systems wird die Höhe des Anspruchs auf eine Invalidenrente neu in prozentualen Anteilen einer ganzen Rente festgelegt und nicht mehr wie bisher nach Viertelsrentenstufen. Durch diese prozentgenauen Renten fallen die bisherigen Schwelleneffekte beim verfügbaren Einkommen weg. Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder die Erhöhung des Arbeitspensums durch eine IV-Rentenbezügerin oder IV-Rentenbezüger wird gefördert, weil das Gesamteinkommen aus Rente und Erwerbseinkommen bei steigendem Erwerbseinkommen stetig zunimmt (Arbeit soll sich lohnen).
Der Anspruch auf eine Rente entsteht wie bisher ab einem Invaliditätsgrad von 40 Prozent und eine ganze Rente wird weiterhin ab einem Invaliditätsgrad von 70 Prozent ausgerichtet. Bei einem Invaliditätsgrad von 50‒69 Prozent entspricht der prozentuale Anteil neu genau dem Invaliditätsgrad. Bei einem Invaliditätsgrad von 40 bis 49 Prozent gilt eine Abstufung des Rentenanteils von 25 bis 47,5 Prozent. Die neuen Abstufungen des Rentenanspruchs gelten sowohl in der Invalidenversicherung wie auch in der obligatorischen beruflichen Vorsorge.
Das stufenlose Rentensystem wird auf alle Rentenansprüche angewendet, die ab dem 1.1.2022 neu entstehen. Rentenansprüche, die vor dem 1.1.2022 entstanden sind, werden noch nach altem Recht zugesprochen.
Laufende Renten aus dem alten Rentensystem werden unter bestimmten Umständen ins neue Rentensystem überführt. Voraussetzung dafür ist, dass im Rahmen einer Rentenrevision der Invaliditätsgrad um mindestens 5 Prozentpunkte ändert und dass kein Ausnahmetatbestand vorliegt (Buchstabe b Absatz 2 der Übergangsbestimmungen zur WEIV: Tiefere Rente bei höherem Invaliditätsgrad und umgekehrt ). Ausserdem wird die Rente einer versicherten Person, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Gesetzesänderung das 55. Altersjahr schon zurückgelegt hat, ebenfalls nicht mehr ins stufenlose Rentensystem überführt (Besitzstand).
Eine Besonderheit besteht für versicherte Personen, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Gesetzesänderung das 30. Altersjahr noch nicht erreicht haben. Ihre Rente wird spätestens nach 10 Jahren automatisch ins stufenlose System überführt, sofern dies nicht schon vorher im Rahmen einer ordentlichen Revision geschehen ist. Resultiert durch die automatische Überführung ein tieferer Rentenbetrag, so wird die Rente im bisherigen Betrag weiter ausgerichtet (Besitzstand auf dem Rentenbetrag).
Grundsätze der Invaliditätsgradbemessung neu auf Verordnungsebene
Beim stufenlosen Rentensystem kommt es für die Rentenhöhe neu auf jedes Prozent Invaliditätsgrad an. Die Bemessung des Invaliditätsgrades ist daher von entscheidender Bedeutung. Um eine möglichst grosse Rechtssicherheit und Einheitlichkeit zu erreichen, wurde im Rahmen der WEIV die Delegationsnorm an den Bundesrat präzisiert, wonach dieser das Einkommen ohne Invalidität (Valideneinkommen) und das Einkommen mit Invalidität (Invalideneinkommen) wie auch die anzuwendenden Korrekturfaktoren regeln kann (Art. 28a Abs. 1 IVG).
Der Bundesrat hat auf Verordnungsstufe unter Zugrundelegung eines ausgeglichenen Arbeitsmarkts (Art. 16 ATSG) und weitgehender Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung zur Invaliditätsgradbemessung ein Paket von ineinandergreifenden Massnahmen vorgesehen und punktuelle Anpassungen vorgenommen. Dabei stand weder ein Ausbau noch ein Abbau der Rentenleistungen im Fokus, sondern vielmehr die Klärung und Optimierung der Grundlagen für die Invaliditätsgradbemessung, womit Besserstellungen der versicherten Personen verzeichnet werden können (vgl. Art. 24septies bis 27bis IVV sowie Art. 49 Abs. 1bis IVV).
Statusbestimmung und Methode zur Invaliditätsgradbemessung
Die Invaliditätsgradbemessung beginnt mit der Bestimmung des Status einer versicherten Person. Dabei wird festgelegt, ob die versicherte Person, wenn sie nicht gesundheitlich beeinträchtigt wäre, eine (volle) Erwerbstätigkeit, eine Teilerwerbstätigkeit oder keine Erwerbstätigkeit ausüben würde. Bei einer vollen Erwerbstätigkeit wird der Invaliditätsgrad mit dem Einkommensvergleich festgelegt. Dies ist weitaus der häufigste Fall.
Ist die versicherte Person nicht erwerbstätig, dann wird ein Vergleich der Tätigkeiten im sogenannten Aufgabenbereich (Haushalt) vorgenommen, um den Invaliditätsgrad zu bemessen. Dieser Fall kommt nur noch selten vor.
Bei Teilerwerbstätigen kommt die gemischte Methode zur Anwendung. Hier wird für den Erwerbsteil ein Einkommensvergleich und für den Aufgabenbereich ein Vergleich der Tätigkeiten vorgenommen. Neu wird hier für den neben der Teilerwerbstätigkeit verbleibenden Teil immer von einem komplementären Aufgabenbereich (Haushalt) ausgegangen, so dass bei den Teilerwerbstätigen immer die gemischte Methode zur Anwendung gelangt. Der bisher vom Bundesgericht in einigen Urteilen geschaffene Sonderfall der Teilerwerbstätigen ohne Aufgabenbereich gibt es damit nicht mehr. Dies ist eine Verbesserung für diese versicherten Personen, da diese ansonsten für den neben der Teilerwerbstätigkeit verbleibenden Teil in der IV nicht versichert wären.
Tatsächliche Einkommen und statistische Werte beim Einkommensvergleich
Wie bis anhin soll bei der Festlegung des Valideneinkommens bzw. Invalideneinkommens wo immer möglich auf die tatsächlich erzielten Löhne abgestellt werden. So wird das Valideneinkommen grundsätzlich nach dem zuletzt vor Eintritt der Invalidität erzielten Einkommen bestimmt. Beim Invalideneinkommen wird ebenfalls auf ein allfällig tatsächlich erzieltes Einkommen abgestellt, wobei neu nicht mehr danach gefragt werden muss, ob allfällig ein Soziallohnanteil vorhanden ist. Massgebend ist einzig, dass die versicherte Person mit dem erzielten Einkommen ihre verbliebene funktionelle Leistungsfähigkeit bestmöglich verwertet.
Damit wird einerseits der Rechtsprechung des Bundesgerichtes Nachachtung verschafft, wonach der Nutzung von statistischen Werten nur subsidiäre Bedeutung zukommt (vgl. Urteil des Bundesgerichtes 8C_256/2021 vom 9.3.2022, zur Publikation vorgesehen). Auf der anderen Seite wird damit sichergestellt, dass wo immer möglich Gleiches mit Gleichem verglichen wird. So ist gemäss einer Studie der Vergleich von zwei tatsächlichen oder zwei statistischen Einkommen grundsätzlich unproblematisch, da sie auf den gleichen Grundlagen basieren (Egger, Dreher & Partner AG, Ökonomische Überprüfung ausgewählter Aspekte der Bestimmung des IV-Grades, 2003). Bei einem Vergleich zwischen einem tatsächlichen und einem statistischen Einkommen können die verschiedenen Grundlagen dagegen zu Verzerrungen führen. Für letztere Fälle braucht es daher je nach individueller Situation Korrekturfaktoren, entweder auf Seiten des Validen- oder des Invalideneinkommens.
Wo keine tatsächlich erzielten Einkommen vorhanden sind oder auf diese nicht abgestellt werden kann, wird mit den statistischen Werten der Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes für Statistik gearbeitet. Dabei wird grundsätzlich mit der Tabelle TA1_tirage_skill_level gearbeitet, wobei geschlechtsspezifische und altersunabhängige Werte zu verwenden sind.
Insbesondere bei der Festlegung des Valideneinkommens ist dabei grundsätzlich von der beruflichen Ausbildung der versicherten Person und von vergleichbaren beruflichen Verhältnissen auszugehen. Die Tabellenwerte sind zudem wie bisher an die betriebsübliche Arbeitszeit und allfällig an die Nominallohnentwicklung anzupassen.
Eine Änderung gibt es auch bei der Festlegung des Valideneinkommens bei geburts- und frühinvaliden Versicherten, also bei Personen, die aufgrund eines Gesundheitsschadens keine Berufsausbildung machen können bzw. denen nicht die Chance offensteht, eine berufliche Ausbildung nach dem Berufsbildungsgesetz oder eine Ausbildung an einer allgemeinbildenden Schule zu absolvieren. Bei diesen Versicherten wird das Valideneinkommen aufgrund statistischer Werte festgelegt, wobei der geschlechtsunabhängige Totalwert über alle Wirtschaftszweige und alle Kompetenzniveaus der Tabelle TA1_tirage_skill_level herangezogen wird. Diese neue Regelung ersetzt die früher nach Altersstufen angewendete Kürzung des Valideneinkommens, womit eine Verbesserung für Versicherte vor Erreichung des 30. Altersjahres erreicht wird.
Korrekturfaktoren
Parallelisierung: Ein erster Korrekturfaktor wird auf der Ebene des Valideneinkommens eingeführt. Liegt ein vor der Invalidität tatsächlich erzieltes Erwerbseinkommen 5 Prozent oder mehr unterhalb des branchenüblichen Zentralwertes der LSE, so erfolgt eine Parallelisierung. Das Valideneinkommen wird damit auf 95 Prozent des branchenüblichen Zentralwertes der LSE heraufgesetzt. Die verbleibenden fünf Prozent Differenz entsprechen der bisherigen Praxis des Bundesgerichtes bei der Parallelisierung (BGE 135 V 297 E. 6.1.3).
Mit der Parallelisierung werden (vornehmlich wirtschaftliche) Faktoren, die sich bereits vor dem Eintritt der Invalidität negativ auf den Lohn ausgewirkt haben, ausgeglichen. Zu denken ist dabei an Faktoren wie etwa ein regional tiefes Lohnniveau, der Aufenthaltsstatus (inkl. Grenzgänger), die Nationalität oder auch persönliche Faktoren wie fehlende Sprachkenntnisse, fehlende Ausbildung oder das Alter.
Im Vergleich zur bisherigen Praxis wurde die Parallelisierung mit den Verordnungsbestimmungen zu Gunsten der versicherten Personen ausgebaut. Neu erfolgt die Parallelisierung automatisch, sobald eine Unterdurchschnittlichkeit von mehr als 5 Prozent vorliegt. Es spielt keine Rolle mehr, auf welche Gründe eine solche Unterdurchschnittlichkeit zurückzuführen ist und ob sich die versicherte Person allenfalls aus freien Stücken mit einem bescheidenen Einkommen begnügt hat. Selbst beim Erreichen des Mindestlohnes nach einem Gesamtarbeits- oder Normalarbeitsvertrag wird neu parallelisiert, wenn eine Unterdurchschnittlichkeit von mindestens 5 Prozent vorliegt.
Festsetzung der funktionellen Leistungsfähigkeit (Ablösung des leidensbedingten Abzuges): Der bisherige leidensbedingte Abzug auf dem Invalideneinkommen umfasste sowohl wirtschaftliche Faktoren als auch solche, welche durch den Gesundheitsschaden bedingt waren. Die Praxis des leidensbedingten Abzuges wurde jedoch immer wieder als unklar und uneinheitlich kritisiert und führte oft zu Streitigkeiten. Aus diesem Grund hat der Bundesrat sich dafür entschieden, hier eine klarere Lösung zu treffen, durch welche weniger Rechtsstreitigkeiten erwartet werden.
Wirtschaftlichen Faktoren werden neu durch eine häufigere Parallelisierung sowie durch einen neuen Teilzeitabzug korrigiert.
Die leidensbedingten Einschränkungen im engeren Sinne, das heisst jegliche durch die Invalidität bedingte quantitative und qualitative Einschränkungen bei der Ausübung einer Erwerbstätigkeit (wie etwa vermehrter Pausenbedarf, Belastungslimiten, Verlangsamung im Vergleich zu einer gesunden Person etc.) sollen neu dagegen konsequent im Rahmen der Festsetzung der funktionellen Leistungsfähigkeit berücksichtigt werden. Dies führt dazu, dass die funktionelle Leistungsfähigkeit häufig tiefer eingeschätzt werden dürfte als bisher. Diese vom Verordnungsgeber getroffene Lösung ist für die Versicherten vorteilhafter, weil der bisher anzuwendende leidensbedingte Abzug auf maximal 25 Prozent beschränkt war.
Teilzeitabzug: Einen weiteren Korrekturfaktor auf der Seite des Invalideneinkommens bildet der Teilzeitabzug. Er wird gewährt, wenn die funktionelle Leistungsfähigkeit der versicherten Person in Bezug auf ein Vollpensum nur noch bei 50 Prozent oder weniger liegt. Der Teilzeitabzug beträgt pauschal 10 Prozent.
Auch dieser Teilzeitabzug bildet eine Verbesserung im Vergleich zur bisherigen Praxis, weil dieser neu unabhängig vom tatsächlichen zeitlichen Pensum gewährt wird, während ein leidensbedingter Abzug nach der bisherigen Praxis nicht gewährt wurde, wenn die versicherte Person ganztägig anwesend sein konnte, dabei aber lediglich eine reduzierte Leistung erbrachte (vgl. Urteil des Bundesgerichtes 8C_211/2018 vom 8.5.2018 E. 4.4).
Ausblick
Das Bundesgericht hat sich in seinem Urteil 8C_256/2021 vom 9.3.2022 (zur Publikation vorgesehen) mit der Kritik an der Invaliditätsbemessung und insbesondere an der Anwendung der LSE befasst. Mit Bezug auf die bisherige Rechtsprechung hält das Bundesgericht fest, dass die bisher zugrunde gelegten Zentralwerte der LSE als Ausgangswert zur Ermittlung der massgebenden Erwerbseinkommen geeignet sind, dem gesetzlich verankerten Konzept des ausgeglichenen Arbeitsmarktes Rechnung zu tragen. Ferner kommt es zum Schluss, dass die bislang angewandten Korrekturinstrumente für die Berücksichtigung der behinderungsbedingten Einschränkungen einzelfallgerecht sind. Weil es sich um einen nach altem Recht zu beurteilenden Fall handelte, äussert es sich zu den per 1.1.2022 erfolgten Anpassungen der Verordnung über die Invalidenversicherung nicht, schliesst aber eine Weiterentwicklung der Rechtsprechung nicht aus.
Die Auswirkungen der Neuerungen im Bereich der Invaliditätsgradbemessung werden im Rahmen des FoP-IV evaluiert. Ebenso werden unter Berücksichtigung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, der finanziellen Konsequenzen und der Auswirkungen auf die übrigen Sozialversicherungen vertiefte Abklärungen zur allfälligen Weiterentwicklung der Tabellen der LSE vorgenommen.