Weiterentwicklung der IV: Rückblick und Reaktionen auf die jüngste IV-Revision

Cornelia Jorns, Nicole Schwager
  |  09. Juni 2022
    Recht und Politik
  • Invalidenversicherung

Am 1. Januar 2022 ist die Weiterentwicklung der IV in Kraft getreten. Die Gesetzesrevision stiess im Parlament und den Medien überwiegend auf positives Echo. Mehr Kritik wird an den Ausführungsbestimmungen geübt. Umstritten sind insbesondere die Themenbereiche medizinische Gutachten und Invaliditätsgradbemessung.

Auf einen Blick

  • Am 1. Januar 2022 trat die Weiterentwicklung der IV in Kraft.
  • Die Vorlage hat zum Ziel, das Eingliederungspotenzial der Versicherten noch besser auszuschöpfen und ihre Vermittlungsfähigkeit zu verbessern.
  • Sie umfasst eine Vielzahl von Massnahmen, die dazu beitragen sollen, insbesondere Kinder, Jugendliche und psychisch erkrankte Versicherte individuell und bedürfnisgerecht zu unterstützen.
  • Ein Grossteil der Massnahmen, insbesondere im Bereich der beruflichen Eingliederung, fand viel Zuspruch.
  • Seit der Inkraftsetzung der Vorlage gibt es weiterhin Kritik an der konkreten Ausgestaltung in den Bereichen Invaliditätsgradbemessung und medizinischen Gutachten.

Am 3. November 2021 beschloss der Bundesrat, die «Weiterentwicklung der IV» (WEIV) per 1. Januar 2022 in Kraft zu setzen; gleichzeitig verabschiedete er die zugehörigen Ausführungsbestimmungen (AS 2021 705; AS 2021 706). Das äusserst umfangreiche Rechtssetzungsprojekt beschäftigte das BSV seit 2014. Eine besonders intensive Phase war die parlamentarische Beratung der Botschaft, die der Bundesrat am 15. Februar 2017 verabschiedet hatte (BBl 2017 2535). Während zweieinhalb Jahren befassten sich National- und Ständerat eingehend und unter Einreichung einer Vielzahl von Anträgen mit der Vorlage (vgl. auch CHSS 2/2020). Am 19. Juni 2020 verabschiedete der Nationalrat die WEIV einstimmig mit 198 zu 0 Stimmen; der Ständerat hiess die Vorlage in der Schlussabstimmung mit 44 zu 1 Stimmen gut. Noch während der parlamentarischen Beratung nahm das BSV die Arbeiten zu den Ausführungsbestimmungen an die Hand. Entsprechend der Themenbreite der Gesetzesrevision fielen auch diese sehr umfangreich aus.

Ziel, Massnahmen und parlamentarische Beratung der Gesetzesrevision

Die WEIV hat zum Ziel, das Eingliederungspotenzial der Versicherten noch besser auszuschöpfen und ihre Vermittlungsfähigkeit zu verbessern. Insbesondere Kinder, Jugendliche und psychisch erkrankte Versicherte sollen individuell und bedürfnisgerecht unterstützt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden im Rahmen der Gesetzesrevision, die neben Anpassungen im Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG, SR 831.20) unter anderem Änderungen in Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG, SR 830.1), Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG, SR 831.40) und Bundesgesetz über die Unfallversicherung (UVG, SR 832.20) zur Folge hatte, eine Vielzahl von Massnahmen vorgeschlagen. Dazu zählen unter anderem die intensivere Begleitung bei Geburtsgebrechen, die gezielte Unterstützung von Jugendlichen beim Übergang ins Erwerbsleben und der Ausbau der Beratung und Begleitung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, der Ausbau der Zusammenarbeit zwischen den Ärzt/innen, Arbeitgebenden und der IV, die Einführung eines stufenlosen Rentensystems und einheitliche Regeln im Bereich der medizinischen Begutachtung für alle Sozialversicherungen (vgl. auch CHSS 2/2017; CHSS 2/2015 94ff.).

Im Rahmen der parlamentarischen Beratung stiess die Vorlage auf viel positives Echo. Gerade die Massnahmen im Hinblick auf eine adäquatere Unterstützung von Jugendlichen und psychisch beeinträchtigten Erwachsenen fanden breite Unterstützung. Diskussionen gab es insbesondere bei den medizinischen Massnahmen, im Bereich der medizinischen Begutachtung und beim Rentensystem. Für Diskussionen sorgte auch die Kostenneutralität der Vorlage. Die im Hinblick auf eine Kosteneinsparung vorgeschlagene Reduktion der Kinderrenten wurde jedoch abgelehnt (vgl. CHSS 2/2020).

Bei den Änderungen sind insbesondere die Anpassungen im Bereich der medizinischen Begutachtung zu erwähnen. So schuf das Parlament die gesetzliche Grundlage für die Tonaufnahme der Gutachtensgespräche (Art. 44 Abs. 6 ATSG) und die «ausserparlamentarische Kommission zur Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung» (Art. 44 Abs. 7 Bst. c ATSG) (vgl. Beitrag Neuerungen bei medizinischen Begutachtungen in den Sozialversicherungen).

Die Ausführungsbestimmungen im Überblick

Die vom Parlament mit bemerkenswert hoher Einigkeit beschlossene Gesetzesvorlage machte umfangreiche Verordnungsanpassungen nötig. Die Änderungen betrafen in erster Linie die Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV, SR 831.201), aber etwa auch die Verordnung über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSV, SR 830.11), die Verordnung über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV, SR 831.101) und die Verordnung über die Unfallversicherung (UVV, SR 832.202). Zudem wurden zwei neue Departementsverordnungen geschaffen, die Verordnung des EDI über Geburtsgebrechen (GgV-EDI, SR 831.232.211) (vgl. Beitrag Anpassungen der Geburtsgebrechenliste (GG-Liste)) und die Verordnung des EDI über ambulant erbrachte medizinische Pflegeleistungen (SR 831.201.21).

Die Ausführungsbestimmungen umfassten unter anderem Verordnungsänderungen im Hinblick auf die Optimierung der Eingliederung, im Bereich der medizinischen Massnahmen, der Tarifierung, des Rentensystems und der medizinischen Begutachtung (vgl. auch Ausführungsbestimmungen zur WEIV: Erläuternder Bericht (nach Vernehmlassung)). Weiter wurde in Umsetzung des neuen Artikels 14ter Absatz 5 IVG ein Kompetenzzentrum Arzneimittel geschaffen (vgl. Beitrag Wie werden Arznei- und Diätmittel zur Behandlung von Geburtsgebrechen vergütet?) sowie die Fallführung konkretisiert und auf die medizinischen Massnahmen ausgeweitet (vgl. Beitrag «Eingliederung vor Rente 2.0»). Hinzu kamen einzelne Massnahmen ohne Bezug zur WEIV. So wurde beim Assistenzbeitrag unter anderem die Nachtpauschale erhöht und die Verwaltungskosten der IV-Stellen werden neu über ein Globalbudget und einer vierjährigen Planungsperiode gesteuert.

Die Vernehmlassung, die vom 4. Dezember 2020 bis am 19. März 2021 durchgeführt wurde, stiess mit über 200 Stellungnahmen auf sehr grosses Interesse. Die vorgeschlagenen Ausführungsbestimmungen wurden darin im Wesentlichen begrüsst. Besonders positiv aufgenommen wurden die Überführung der bisherigen Verordnung über Geburtsgebrechen (GgV) in eine Departementsverordnung (GgV-EDI), die Präzisierung der von der IV anerkannten Geburtsgebrechen und die Etablierung einer Spezialitätenliste für Medikamente für Geburtsgebrechen. Anklang fanden auch die Optimierungen in der beruflichen Eingliederung. Kritik übten die Vernehmlassenden vor allem an den medizinischen Massnahmen, an Verfahren und Begutachtung sowie an der Prioritätenordnung zur Verteilung der Finanzhilfen an die Dachorganisationen der privaten Invalidenhilfe nach Artikel 74 IVG. In Bezug auf die Invaliditätsgradbemessung wurde insbesondere die Verwendung der Tabellen der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) kritisiert (vgl. Ausführungsbestimmungen zur WEIV: Erläuternder Bericht (nach Vernehmlassung), Kap. 2).

Aufgrund der Rückmeldungen wurden einzelne Änderungen in der Vorlage vorgenommen. Besonders zu erwähnen ist, dass auf die geplante Neuregelung der Prioritätenordnung zu Artikel 74 IVG vorerst verzichtet wurde. Ausserdem beauftragte der Bundesrat das BSV in Bezug auf die Invaliditätsgradbemessung, im Rahmen der Evaluation der WEIV die Verwendung der LSE-Tabellen zu prüfen: Allfällige neue Tabellen müssten unter Berücksichtigung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, der finanziellen Konsequenzen und den Auswirkungen auf die übrigen Sozialversicherungen analysiert und entwickelt werden. Könnten neue Tabellen geschaffen werden, müssten ausserdem die Bestimmungen zur Invaliditätsgradbemessung nochmals gesamthaft geprüft werden (vgl. dazu auch CHSS, aktueller Schwerpunkt, Mauro/Leuenberger: Die Bemessung des Invaliditätsgrades im stufenlosen Rentensystem) (zu den Anpassungen nach der Vernehmlassung vgl. ausführlicher Ausführungsbestimmungen zur WEIV: Erläuternder Bericht (nach Vernehmlassung), Kap. 2).

Reaktionen nach der Inkraftsetzung

Das Medienecho im Nachgang der Inkraftsetzung der WEIV war bezogen auf die ganze Vorlage zwar bescheiden, aber durchaus positiv. Hervorgehoben wurden insbesondere die Verbesserungen im Bereich der Eingliederung und die Aktualisierung der Geburtsgebrechenliste. Grossmehrheitlich fokussierte die Berichterstattung der Medien allerdings auf die bereits in der Vernehmlassung zu den Ausführungsbestimmungen geäusserte Kritik an der Invaliditätsgradbemessung und der Verwendung der LSE-Tabellen. Auch im Parlament führte das Thema zu zahlreichen Reaktionen. So reichten National- und Ständeräte seit Verabschiedung der Vorlage mehrere Vorstösse (vgl. 21.4522; 21.4480) und eine Vielzahl von Fragen (21.8158; 21.8155; 21.8150; 21.8102; 21.8091; 21.8074; 21.8048; 21.8019; 21.8014) ein. Der jüngste Vorstoss, eine Motion der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) (22.3377), will den Bundesrat beauftragen, bis zum 30. Juni 2023 eine Bemessungsgrundlage zu implementieren, die bei der Ermittlung des Einkommens mittels statistischer Werte realistische Einkommensmöglichkeiten von Personen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung berücksichtigt.

Breite Aufmerksamkeit in Bezug auf die Invaliditätsgradbemessung erregte auch eine öffentliche Beratung des Bundesgerichts, die jedoch die Verwendung der LSE-Tabellenlöhne nach bisherigen Recht zum Gegenstand hatte. Vor der Beratung gab es eine Reihe von öffentlichen Stellungnahmen von Vertreterinnen und Vertretern der Lehre und von Behindertenorganisationen (vgl. etwa Gemeinsame Erklärung von Inclusion Handicap, weiteren Behindertenorganisationen, Versicherte Schweiz, UNIA und Rechtsberatungsstelle UP vom 15.11.2021). Am 9. März 2022 hat das Bundesgericht entschieden, dass es an seiner Rechtsprechung festhält. Es verweist in seinem Urteil darauf, dass der Bundesrat Handlungsbedarf erkannt habe und prüfe, ob die Entwicklung von spezifischen auf die IV zugeschnittenen Bemessungsgrundlagen möglich sei (Medienmitteilung Bundesgericht, 9.3.2022; Urteil BGer vom 9.3.2022 zu 8C_256/2021, zur Publikation vorgesehen).

Weiter wird in den Medien die Praxis im Gutachterwesen trotz der in der WEIV aufgenommenen Verbesserungen nach wie vor kritisch beleuchtet. Auch zu diesem Thema haben Parlamentarierinnen und Parlamentarier Vorstösse (22.3155; 22.1004) und Fragen (22.7026; 22.7044) eingereicht.

Fazit

Mit der WEIV konnte nach der 2013 im Parlament gescheiterten IV-Revision 6b (11.030) erstmals wieder eine Reform des IVG erfolgreich abgeschlossen und in Kraft gesetzt werden. Die sehr umfassende Revision bringt in zahlreichen Bereichen wesentliche Optimierungen und Vorteile für die Versicherten. Zu dieser Einschätzung kamen auch Parlament und Organisationen. Die anhaltende Kritik an der Invaliditätsgradbemessung und der medizinischen Begutachtung vermochte jedoch das positive Bild der Gesamtrevision zu beeinträchtigen. Kaum wahrgenommen wird zudem, dass mit der Reform auch in den kritisierten Bereichen weitere Verbesserungen angestrebt werden; Verbesserungen, die sich allerdings naturgemäss erst nach einiger Zeit entfalten werden. Im Bereich der Invaliditätsgradbemessung werden die Bemühungen um einen allfälligen Ersatz der LSE-Tabellen überdies fortgesetzt. Eine profunde Analyse und Weiterentwicklung des Systems benötigt jedoch Zeit, da zuerst Daten zur Wirksamkeit der Massnahmen aus der WEIV vorliegen müssen. Komplexe Fragen müssen auch im Kontext des ganzen Sozialversicherungssystems und unter Berücksichtigung möglicher Kostenfolgen analysiert werden.

lic. iur., Leiterin Bereich Gesetzgebung und Recht, Geschäftsfeld Invalidenversicherung, BSV
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Lic. phil. hist., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Geschäftsfeld Invaliden­versicherung, BSV.
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