«Die Situation der Frauen in der zweiten Säule muss dringend verbessert werden»

Stefan Sonderegger
  |  01. Dezember 2022
    Interview
  • Alters- & Hinterlassenenversicherung
  • Berufliche Vorsorge
Bundesrat Alain Berset ist Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI). (Foto: Gaëtan Bally)

Teilzeitarbeit und neue Arbeitsformen seien derzeit in der beruflichen Vorsorge zu wenig berücksichtigt, sagt Bundesrat Alain Berset im Interview.

CHSS: Herr Bundesrat, vor 50 Jahren wurde das Dreisäulenprinzip in der Verfassung verankert. Heute verfügt aber nur eine Minderheit der Bevölkerung über alle drei Säulen der Altersvorsorge. Ist das Dreisäulensystem ein Privileg für Reiche?

Alain Berset: Tatsächlich ist die Säulenmetapher etwas irreführend. Sie suggeriert Stabilität und Gleichwertigkeit. Wir wissen, dass dies längst nicht für alle Menschen Realität ist. Mehr als 600 000 Rentenbeziehende haben keine zweite Säule, immerhin ein Viertel der Pensionierten.

Welches Bild wäre denn besser?

Es sind eher Blöcke, die aufeinandergelegt werden: Das Fundament bildet die AHV für alle; Arbeitnehmende verfügen darüber hinaus über die berufliche Vorsorge. Und wer kann, zahlt in die freiwillige dritte Säule ein.

Wie beurteilen Sie nach 50 Jahren dieses System?

Grundsätzlich funktioniert das Dreisäulensystem nicht schlecht, weil es auf die Bedürfnisse der verschiedenen Bevölkerungsgruppen ausgerichtet ist. Es erlaubt auch eine gute Verteilung der Finanzierungsrisiken. Aber es funktioniert eben längst nicht für alle gleich gut. Ausserdem ist wegen des demografischen Wandels und der tiefen Zinsen ein wichtiges Ziel in Gefahr, nämlich mit der ersten und zweiten Säule den gewohnten Lebensstandard aufrechterhalten zu können.

Mit der Reform AHV21 ist seit über 20 Jahren wieder eine Reform gelungen. Zufrieden?

Mit der Reform AHV21 und der Steuer-AHV-Reform STAF vor drei Jahren haben wir die Finanzierung der AHV für die nächsten zehn Jahre gesichert. Das war das Ziel des Bundesrats, denn die AHV ist die wichtigste Sozialversicherung unseres Landes. Sie ist das Symbol der Solidarität zwischen Arm und Reich und zwischen Jung und Alt.

Das Resultat war allerdings knapp.

In der Tat. Und daraus müssen wir zwei Lehren ziehen: Erstens, wir müssen bescheiden bleiben. Für jede neue Reform braucht es einen mehrheitsfähigen Kompromiss. Zweitens müssen wir stets die Gesamtheit der Renten im Blick haben. Denn Ende Monat zählt, was als gesamte Rente ausbezahlt wird.

Ist mit dem Ja zu AHV 21 der Druck gesunken, die berufliche Vorsorge zu reformieren?

Nein – ganz im Gegenteil: Im Abstimmungskampf haben beide Seiten betont, dass die Situation der Frauen in der zweiten Säule dringend verbessert werden muss. Teilzeitarbeit und neue Arbeitsformen sind derzeit in der beruflichen Vorsorge zu wenig berücksichtigt.

Die Frauen haben viel kleinere Pensionskassenrenten. Wie wollen Sie diesen Gender-Pension-Gap schliessen?

Die Reform der beruflichen Vorsorge muss die Eintrittsschwelle und den Koordinationsabzug senken – hier ist das Parlament am Zug. Es steht in der Verantwortung, rasch einen mehrheitsfähigen Kompromiss zu finden. Gleichzeitig müssen wir die Erwerbsquote der Frauen erhöhen. Dazu muss die familienergänzende Kinderbetreuung ausgebaut werden. Auch das wurde im Abstimmungskampf von vielen Seiten betont.

Im Vordergrund der Diskussionen stand in den letzten Jahren die Finanzierung der Altersvorsorge. Inhaltliche Weiterentwicklungen gab es hingegen kaum.

Die AHV-21-Reform hat ebenfalls gewisse inhaltliche Verbesserungen gebracht, das ging im Abstimmungskampf etwas unter. Beispielsweise kann man den Zeitpunkt des Rentenantritts flexibler wählen. Ausserdem erlaubt die Reform, Rentenlücken zu schliessen. In anderen Bereichen der Sozialpolitik läuft allerdings inhaltlich tatsächlich mehr. In der IV ist Bundesrat und Parlament eine echte Weiterentwicklung für Kinder und Jugendliche sowie Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen gelungen, etwa mit der intensiveren Begleitung der Betroffenen. Auch die Erwerbsersatzordnung haben wir mit dem Vaterschafts-, Adoptions- und Betreuungsurlaub weiterentwickelt.

Chefredaktor, Soziale Sicherheit (CHSS)
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