Eine erste Lehre aus der Pandemie

Bruno Parnisari
  |  05. März 2021
  • Gesellschaft
  • Sozialpolitik allgemein

Anlässlich der Munk Dialogues, einem digitalen kanadischen Debattierforum, wurde der in den USA lebende kanadische Journalist, Schriftsteller und Conférencier Malcolm Gladwell eingeladen, sich zu den Auswirkungen der Covid-19-Krise zu äussern. Er wies unter anderem auf die Langlebigkeit von Gewohnheiten und kulturellen Werten hin: Diese begleiteten uns während Jahrzehnten und änderten sich nicht von heute auf morgen.

Tatsächlich wird sich – nur aufgrund der Pandemie – unser Verhalten vermutlich nicht stark ändern. Schon bald werden wir uns wieder die Hände schütteln. Und auch wenn sich Homeoffice und Online-Unterricht als zentral und nützlich erwiesen haben, werden soziale Nähe und der informelle, persönliche und spontane Austausch nach der Pandemie zurückkehren, denn wir alle brauchen sie.

Gleichzeitig wird die Pandemie langfristige Auswirkungen auf die Gesellschaft haben. Die positiven Effekte der Massnahmen, die ergriffen wurden, um die Ausbreitung der Pandemie zu erschweren, werden wohl oft unterschätzt. Eine kontrafaktische Analyse, also über eine mögliche Verbreitung des Virus ohne Gegenmassnahmen, ist leider gegenwärtig noch von geringem Interesse. Die getroffenen Massnahmen werden sich aber bedeutend auf die öffentliche und private Verschuldung, auf soziale Ungleichheiten und persönliche Schicksale auswirken.

2014 entwickelten die Sozialwissenschaftler Chris Anderson und David Sally in ihrem Buch «The Numbers Game: Why Everything You Know About Football is Wrong» die beste Strategie, um die Leistungen einer Fussballmannschaft zu verbessern. Soll bei den Fähigkeiten des stärksten oder des schwächsten Spielers angesetzt werden? Ihre Antwort ist klar. In der Welt des Fussballs ist das schwächste Glied (weakest link) der Knackpunkt. Demnach gilt es, die Fähigkeiten und Stärken des schwächsten Spielers zu verbessern.

Malcolm Gladwell sieht eine Analogie zur Covid-19-Krise: Auch hier geht es darum, die vulnerabelsten Mitmenschen zu schützen. Dies gilt für ältere oder pflegebedürftige Personen mit gesundheitlichen Problemen oder begrenzter Eigenständigkeit, aber auch für Selbständigerwerbende oder Arbeitnehmende mit niedrigen und oftmals unregelmässigen Einkommen. In unserer vernetzten, sich rasch wandelnden und immer komplexeren Welt hat der Grad der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen verschiedenen soziokulturellen und demografischen Gruppen in den letzten Jahren zugenommen. Die Pandemie hat diese Abhängigkeiten weiter verstärkt.

Die Pandemie zeigt uns, dass es keinen Sinn hat, das Denken und politische Handeln nur darauf auszurichten, die stärksten Individuen und Institutionen besser zu schützen. Neben der Versorgung und dem Schutz, die wir den Schwächsten anbieten müssen, zeigt uns die Pandemie, dass selbst im 21. Jahrhundert die Stabilität des Sozialgefüges und des Wirtschaftssystems von den verfügbaren Schutzmasken aus Filterpapier, der Menge an Desinfektionsmittel auf Alkoholbasis und der Anzahl freier Intensivbetten abhängt. «Your team is only as good as the weakest link.» Dieser wertvolle Grundsatz sollte uns zum Nachdenken anregen. Zweifelsohne ist es die erste Lehre, die wir aus der Pandemie ziehen können.

Dr. ès sc. écon. et soc., stellvertretender Direktor und Leiter des Geschäftsfelds Mathematik, Analysen und Statistik, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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