Auf einen Blick
- Im Jahr 2023 haben die IV-Stellen erstmals Listen über die Vergabe von medizinischen Gutachten veröffentlicht.
- Die Listen enthalten unter anderem Angaben zu Sachverständigen und Gutachterstellen sowie Gesamtvergütungen.
- Ziel ist die Schaffung von mehr Transparenz über die Vergabe und Ergebnisse von medizinischen Gutachten in der IV.
Im Rahmen der Weiterentwicklung der Invalidenversicherung (IV) wurden im Bereich der medizinischen Begutachtungen verschiedene Neuerungen im Gutachterwesen eingeführt. Diese Anfang 2022 eingeführten Massnahmen zielen einerseits auf eine Verbesserung der Qualität. So wurden beispielsweise die fachlichen Anforderungen an die Sachverständigen (Gutachterinnen und Gutachter) bundesrechtlich geregelt und die Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung wurde ins Leben gerufen.
Andererseits soll mit den Massnahmen die Transparenz erhöht werden – indem etwa Tonaufnahmen der Interviews zwischen den Sachverständigen und den Versicherten gemacht werden. Zudem müssen die kantonalen IV-Stellen jedes Jahr eine Liste mit allen Sachverständigen und Gutachterstellen veröffentlichen, an welche Aufträge für medizinische Begutachtungen vergeben werden. Solche öffentlich zugänglichen Listen finden sich in keiner anderen Sozialversicherung in der Schweiz.
Anfang Juli 2023 hat das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) erstmals eine gesamtschweizerische Übersicht publiziert. Was bedeutet dies für das Gutachterwesen?
Die Liste muss Angaben zu allen beauftragten Sachverständigen und Gutachterstellen enthalten. Dabei muss die Anzahl in Auftrag gegebener Gutachten – unterteilt nach mono-, bi- und polydisziplinären Gutachten – aufgeführt sein. Weiter sind die Gesamtvergütungen für die in Auftrag gegebenen Gutachten ersichtlich zu machen. Anzugeben sind auch attestierte Arbeitsunfähigkeiten in der bisherigen und in einer angepassten Tätigkeit. Und schliesslich wird angegeben, in wie vielen Fällen mit rechtskräftigem Urteil ein Gericht dem Gutachten vollumfängliche, teilweise oder keine Beweiskraft zugesprochen hat.
Kurzfristige Umsetzung
Die Erstellung und Publikation der Listen erfolgte unter grossem Zeitdruck – da die Gutachterlisten nicht zu den ursprünglichen Vorschlägen des Bundesrats gehörten und erst in der Parlamentsdebatte eingebracht worden waren. Innert Kürze mussten die IV-Stellen Grundlagen für eine einheitliche wie auch zentrale Erfassung der Daten erarbeiten. Zudem mussten die Daten im Hinblick auf eine gesamtschweizerische Übersicht konsolidiert und plausibilisiert werden. Dabei zeigte sich, dass die bisherige Datenlage noch nicht in allen Bereichen den neuen Anforderungen genügte.
Dies führt dazu, dass es in der ersten Publikation noch einige Ungenauigkeiten gibt – insbesondere bei den mono- und bidisziplinären Gutachten (z. B. bei den formalen Anforderungen für eine Zuweisung der einzelnen Vergütungen an die einzelnen Sachverständigen). Entsprechende Massnahmen für eine verbesserte Datenerhebung wie beispielsweise neue Anforderungen an die Rechnungstellung wurden bereits ergriffen und eingeführt.
Wie werden Gutachten vergeben?
Die Vergabe von Gutachten kann von den IV-Stellen entweder direkt an Sachverständige erfolgen (Einzelgutachten) oder aber via Zufallsprinzip über die elektronische Plattform Suissemedap (wenn zwei oder mehr medizinische Fachdisziplinen erforderlich sind). Bei einer direkten Vergabe können die Versicherten Ausstandsgründe wie auch sonstige Einwände gegen die Wahl der Sachverständigen vorbringen. Liegen solche vor, so haben die IV-Stellen diese zu prüfen. Sie müssen, wenn immer möglich, im Rahmen eines Einigungsversuches eine einvernehmliche Bestimmung der Sachverständigen erreichen. Die Listen werden für die Versicherten wichtige Angaben liefern und in diesem Verfahren eine transparentere und verständlichere Wahl der Sachverständigen ermöglichen. Zahlen aus dem Jahr 2022 zeigen: Bei der Vergabe von insgesamt rund 5500 Gutachten kam nur in 50 Fällen keine Einigung zustande.
Die Vergabe nach dem Zufallsprinzip wurde 2011 vom Bundesgericht im Hinblick auf ein faires Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren für die Vergabe von polydisziplinären Gutachten (drei und mehr Fachdisziplinen) verlangt und in der IV im Jahr 2012 eingeführt. Bei der zufallsbasierten Vergabe entfällt das Einigungsverfahren und die Versicherten können nur noch Ausstandsgründe gegen die Wahl der Sachverständigen geltend machen.
Im Rahmen der Weiterentwicklung IV wurde das Zufallsprinzip Anfang 2022 auch auf die Vergabe von bidisziplinären Gutachten (zwei Fachdisziplinen) ausgeweitet.
Wie eingangs erwähnt, stellt die Publikation der gesamtschweizerischen Gutachterliste in der IV den letzten Schritt in der Umsetzung der Massnahmen im Bereich des Gutachtenwesens dar. In zwei Jahren werden die Massnahmen im Rahmen des Forschungsprogramms zur Invalidenversicherung (FoP-IV) evaluiert. Spätestens dann wird sich zeigen, welche Auswirkungen diese Massnahmen auf das Gutachterwesen und auch auf die Verteilung der Aufträge haben.
Mehrere Herausforderungen
Die Gutachterlisten lassen sich auch als Arbeitsinstrument nutzen – beispielsweise indem sie einen Überblick über den Kreis der zur Verfügung stehenden Sachverständigen und Gutachterstellen sowie deren fachliche Ausrichtung und Auslastung geben. Anhand dieser Daten lässt sich aufzeigen, welches Angebot den IV-Stellen zur Verfügung steht, um die Aufträge für Gutachten möglichst rasch zu vergeben.
Bei den Gutachten stellen sich mehrere Herausforderungen. So müssen die IV-Stellen die zahlreichen Gutachten möglichst schnell an die zur Verfügung stehenden Sachverständigen und Gutachterstellen verteilen, um Verzögerungen im Verfahren zu vermeiden. Dies im Wissen, dass der Kreis möglicher Sachverständiger in der Schweiz sehr klein ist und bereits einige Abgänge von Sachverständigen aufgrund der administrativ aufwendigen Neuerungen (Tonaufnahmen und Verteilung nach dem Zufallsprinzip) zu verzeichnen sind. Dabei dürfte der nicht immer sachlich fundierte Druck aus Medien und Politik auf Gutachterstellen und Einzelpersonen eine Rolle spielen, ebenso Strafanzeigen, die in einzelnen Fällen erstattet wurden.
Schliesslich ist zu beobachten, dass sich öffentliche Spitäler kaum im Begutachtungswesen engagieren und der Ausbildung von neuen Sachverständigen zu wenig Beachtung geschenkt wird.