Auf einen Blick
- Seit 2022 werden bei Gutachten zuhanden der Invalidenversicherung Tonaufnahmen und weitere Neuerungen wie öffentliche Listen eingesetzt.
- Die IV-Stellen sowie die Gutachterinnen und Gutachter (sogenannte Sachverständige) setzen diese Neuerungen um, wie eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen zeigt.
- Angebot und Nachfrage nach Sachverständigen waren zeitweilig stark aus dem Gleichgewicht.
Wenn die Invalidenversicherung (IV) den medizinischen Sachverhalt aufgrund der ihr zur Verfügung stehenden Informationen nicht selbst beurteilen kann, stützt sie sich bei der Prüfung von Leistungsansprüchen auf medizinische Gutachten unabhängiger Sachverständiger. Im Zuge der letzten IV-Revision «Weiterentwicklung der Invalidenversicherung» hat der Gesetzgeber mehrere Änderungen bei der Vergabe und Durchführung von medizinischen Gutachten eingeführt, die zur Erhöhung der Qualität und zu mehr Transparenz bei der Begutachtung beitragen sollen.
So gelten etwa seit Anfang 2022 höhere Qualifikationsanforderungen für die Gutachterinnen und Gutachter (sogenannte Sachverständige). Die IV-Stellen sind verpflichtet, öffentliche Listen mit Angaben über die von ihnen beauftragten Sachverständigen zu führen. Weiter werden die Gespräche mit den Sachverständigen aufgezeichnet, sofern sich die versicherte Person nicht dagegen ausspricht. Ausserdem erfolgt die Zuteilung von bidisziplinären IV-Gutachten neu nach dem Zufallsprinzip, und es wurde präzisiert, wie vorzugehen ist, wenn zwischen der Versicherung und der versicherten Person Uneinigkeit über die zugeteilten Sachverständigen besteht. Schliesslich wurden die Einwandmöglichkeiten bei der Vergabe von Gutachten eingeschränkt.
In einer Studie haben wir im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) die Erfahrungen mit den Neuerungen im Zuge der IV-Revision erstmals untersucht, wobei die Untersuchung der Qualität der Gutachten nicht Teil des Auftrags war (Bolliger und Flick 2025). Die Evaluation stützt sich auf statistische Auswertungen von Daten zur Begutachtung sowie auf Onlinebefragungen von kantonalen IV-Stellen, von Sachverständigen und von Rechtsberatenden der Versicherten. Zudem führten wir vertiefende Leitfadengespräche in der Deutschschweiz und der lateinischen Schweiz mit Mitarbeitenden von vier IV-Stellen und deren Regionalen Ärztlichen Diensten sowie mit Sachverständigen und Rechtsberatenden.
Neuerungen sind bei den Akteuren angekommen
Die Studie zeigt: Drei Jahre nach Inkrafttreten sind die Neuerungen im Bereich der Begutachtung bei den involvierten Akteuren etabliert und akzeptiert, und sie werden insgesamt gemäss den Vorgaben umgesetzt. Anfängliche Praxisprobleme sind weitgehend überwunden. Allerdings gibt es Hinweise auf einzelne bleibende Herausforderungen und administrativen Mehraufwand.
In Bezug auf die öffentliche Liste und die Einigung auf eine passende sachverständige Person lässt sich sagen: Die Einigung zwischen der IV-Stelle und der versicherten Person scheitert bei monodisziplinären Gutachten in weniger als 1 Prozent der Fälle. Gemäss den Befragungen akzeptieren die IV-Stellen Gegenvorschläge der versicherten Person, respektive ihrer rechtlichen Vertretung, solange diese Sachverständigen auf der öffentlichen Liste figurieren. Teilweise wird kritisiert, dass in der öffentlichen Liste für jede Begutachtungsstelle und alle Sachverständigen angegeben wird, wie oft sie einen bestimmten Arbeitsunfähigkeitsgrad zugesprochen haben. Dies könne bei Sachverständigen den Anreiz setzen, sich an einem Durchschnittswert zu orientieren.
In Bezug auf die Tonaufnahmen lässt sich festhalten: In der Startphase sorgten vor allem technische und praktische Probleme für Schwierigkeiten, so etwa eine mangelhafte oder fehlende Aufnahme, oder das Unwissen der versicherten Person, dass sie ihren Verzicht auf die Aufnahme bei der IV-Stelle erklären muss. Gemäss übereinstimmenden Aussagen in den Interviews ist dies aber inzwischen nur noch ausnahmsweise ein Problem. Eine näherungsweise statistische Schätzung ergibt, dass bei maximal 6 Prozent der Gutachten auf die Tonaufnahme zugegriffen wird. 45 Prozent der befragten Rechtsberaterinnen und Rechtsberater attestieren den Neuerungen, dass sie zur Verbesserung der Interaktion zwischen Sachverständigen und der versicherten Person bei der Begutachtung beitragen. Bei den Sachverständigen selbst sind die Meinungen hierzu geteilt, wobei sich viele Befragte keine Einschätzung zutrauten.
Schliesslich gilt in Bezug auf die Beschränkung der Einwandmöglichkeiten: Keine IV-Stelle, aber eine bedeutende Minderheit (30%) der befragten Rechtsbeistände deklarierte Schwierigkeiten mit den eingeschränkten Einwandmöglichkeiten bei der Vergabe von Gutachten; diese Befragten bemängelten dabei zum Teil auch, ihre Einwände würden zu wenig gehört. Die kantonalen Gerichte vertreten unterschiedliche Auffassungen zur Frage, zu welchen Aspekten der Gutachtenvergabe weiterhin der Beschwerdeweg offensteht. Das Bundesgericht ist in die Klärung dieser Rechtsfragen nicht involviert.
Mangel an Sachverständigen
Die statistischen Daten der Plattform Suissemedap.ch zeigen, dass im Zeitraum um die Einführung der Neuerungen bisweilen viele Aufträge für polydisziplinäre Gutachten mangels Kapazität nicht schnell verteilt werden konnten (siehe Grafik). So waren etwa am Ende Juni 2022 mehr als 1800 solche Aufträge pendent, während es Ende März 2020 noch rund 500 gewesen waren. Die meisten IV-Stellen berichteten anlässlich der Evaluation auch im Sommer 2024 noch von einem Mangel an geeigneten Sachverständigen, der jedoch unterschiedliche Fachdisziplinen zu betreffen schien.
Gemäss den durchgeführten statistischen Analysen kam es 2023 insbesondere dann zu starken Verzögerungen, wenn Gutachten (auch) die Neuropsychologie, Infektiologie oder die Gynäkologie betrafen. Ein Mangel an geeigneten Sachverständigen besteht im Übrigen auch nach Ansicht von 83 Prozent der befragten Rechtsberatenden sowie von 58 Prozent der Sachverständigen.
Der Mangel an anerkannten Sachverständigen verzögerte die Vergabe der Gutachten bisweilen erheblich. So betrug etwa 2022 die Wartezeit bis zur Übernahme eines Auftrags bei der Hälfte der polydisziplinären Gutachten gesamtschweizerisch mindestens 67 Tage, in der lateinischen Schweiz waren es sogar mindestens 87 Tage.
Für das zweite Halbjahr 2024 lässt sich wieder eine bessere Ausgewogenheit zwischen Angebot und Nachfrage feststellen. Ende 2024 konnten vor allem in der Deutschschweiz die meisten Gutachten ohne Wartezeit vergeben werden. Weitaus die meisten der weniger als 200 pendenten Aufträge betrafen die französischsprachige Schweiz, wo der Rückgang an Pendenzen weniger markant ist. Bei den bidisziplinären Gutachten verlief die Entwicklung ähnlich. In der lateinischen Schweiz fällt überdies eine Dominanz einzelner Gutachterstellen auf: So erarbeitete 2023 in der Romandie ein Anbieter 39 Prozent der polydisziplinären Gutachten; im kleinen italienischsprachigen Markt gibt es nur eine Gutachterstelle. Dies behindert faktisch das Zufallsprinzip.
Neuerungen dürften einige Rückzüge provoziert haben
Es war im Rahmen der Evaluation nicht möglich, die Gründe für den vorübergehend verschärften Mangel an Sachverständigen abschliessend zu eruieren. Es ergaben sich aber einzelne Hinweise und Teilantworten: Nachfrageseitig hat zwar seit 2018 der Anteil an IV-Verfahren, bei denen die IV-Stellen ein Gutachten veranlassen, abgenommen. Die Nachfrage nach Sachverständigen dürfte ab dann insgesamt gleichwohl zunächst gestiegen sein, weil die Anzahl IV-Verfahren insgesamt deutlich zunahm und gleichzeitig eine Verlagerung von mono- und bidisziplinären zu polydisziplinären Gutachten stattfand. Dies hängt jedoch nicht mit den evaluierten Neuerungen zusammen. Angebotsseitig ergaben umgekehrt die Befragungen der Sachverständigen und der IV-Stellen, dass die Neuerungen (insbesondere Tonaufnahme und Qualifikationsanforderungen) einige Sachverständige bewogen, sich aus der Begutachtung zuhanden der IV zurückzuziehen. Ebenfalls ist bekannt, dass die Sachverständigen ihre Tätigkeit 2020 teilweise aufgrund der Covid-Pandemie einstellen mussten (Messi und Salamanca 2023).
Bestrebungen, wie einem mangelhaften Angebot an Sachverständigen entgegengewirkt werden kann, wurden im Rahmen der Evaluation nicht systematisch untersucht (für mögliche Strategien vgl. Müller et al. 2020). Die Interviews mit den IV-Stellen und den Regionalen Ärztlichen Diensten ergaben indes Ansatzpunkte, um unnötige (Teil-)Gutachten zu vermeiden. Beispiele solcher Strategien sind:
- Vorhandene Informationen im Dossier nutzen, insbesondere aus dem Eingliederungsverfahren
- Auslagerung von eher peripheren Fragestellungen aus dem Gutachten an andere Abklärungsstellen
- Regionale Ärztliche Dienste mit Schlüsseldisziplinen ausstatten
- Eigene Untersuchungen der Regionalen Ärztlichen Dienste
Während einzelne IV-Stellen in weniger als 10 Prozent der Gesuche um berufliche Massnahmen oder Renten ein medizinisches Gutachten in Auftrag geben, beträgt der Anteil anderswo mehr als 40 Prozent. Diese grossen Unterschiede lassen trotz IV-externer Einflussfaktoren wie etwa unterschiedlicher gerichtlicher Beweisstandards vermuten, dass das Vermeidungspotenzial nicht überall gleich konsequent ausgeschöpft wird.
Literaturverzeichnis
Bolliger, Christian; Flick, Martina (2025). Evaluation der Neuerungen im Bereich der medizinischen Begutachtungen in der Invalidenversicherung. Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 5/25.
Messi, Michela; Salamanca, Daniel (2023). IV-Gutachten: Ärztemangel führt zu Wartezeiten. Soziale Sicherheit CHSS, 3. Juli 2023.
Müller, Franziska; Liebrenz, Michael; Schleifer, Roman; Schwenkel, Christof; Balthasar, Andreas (2020). Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung: Bericht zuhanden des Generalsekretariats des Eidgenössischen Departements des Innern EDI (GS-EDI).