Koordinierung der Sozialversicherungen – ein Plus für die Schweizer Wirtschaft

Viele Schweizer Unternehmen sind global tätig. Um die Mobilität der Arbeitskräfte sicherzustellen, hat die Schweiz zahlreiche Sozialversicherungsabkommen abgeschlossen.
Lionel Tauxe
  |  13. Juni 2024
    Recht und Politik
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Die argentinische Aussenministerin Diana Mondino und der Schweizer Botschafter Hans-Ruedi Bortis nach der Unterzeichnung eines Sozialversicherungsabkommens in Buenos Aires Ende Mai 2024. (Foto: Siro E. Beltrametti)

Auf einen Blick

  • Internationale Abkommen koordinieren die Sozialversicherungen der Schweiz und 52 weiterer Staaten.
  • Die Koordinierung der Sozialversicherungen – insbesondere die Regelung von vorübergehenden Entsendungen – fördert die grenzüberschreitende Mobilität der Arbeitnehmenden.
  • Die Sozialversicherungsabkommen sind ein Vorteil für die Wirtschaft der Schweiz – eines der am stärksten globalisierten Länder.

Die Schweiz verfügt über ein umfassendes Sozialversicherungssystem, das die Wohn- und Erwerbsbevölkerung wirksam schützt. Gleichzeitig wird in der Schweiz mehr als jeder dritte Franken im Ausland erwirtschaftet (Wegmüller und Schmidiger 2022).

In einem solch globalisierten Umfeld sind Unternehmen – und deren Mitarbeitende – immer häufiger grenzüberschreitend tätig. Diese zunehmende Mobilität ist essenziell für die Schweizer Wirtschaft. Mit Regelungen im Bereich der sozialen Sicherheit will die Schweiz die Mobilität fördern und gleichzeitig den Versicherungsschutz der Arbeitnehmenden sicherstellen.

Das von der Schweiz aufgebaute internationale Koordinationsnetz ist in der Lage, diese Herausforderungen zu bewältigen: Zahlreiche internationale Abkommen koordinieren die Sozialversicherungen der Schweiz mit jenen der 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU), jenen der Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) und jenen von 22 Ländern ausserhalb der EU/EFTA (siehe Karte). Damit bestehen mit den fünf wichtigsten Handelspartnern der Schweiz (EU, USA, China, Vereinigtes Königreich und Japan) Sozialversicherungsabkommen (Wegmüller und Schmidiger 2022).

Derzeit sind neue Abkommen mit Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Moldau und Peru in Verhandlung. Zudem wurde im Mai 2024 ein Abkommen mit Argentinien unterzeichnet, das aber noch nicht in Kraft ist.

Koordinierung zugunsten der Mobilität

Sowohl die europäischen Koordinierungsverordnungen, auf die das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU sowie das EFTA-Übereinkommen verweisen, als auch die bilateralen Abkommen ermöglichen die vorübergehende Entsendung von Arbeitnehmenden. Eine Entsendung liegt beispielsweise vor, wenn Arbeitnehmende im Namen ihres Arbeitgebers in einem anderen Staat als dem Staat, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat und in dem die Arbeitnehmenden normalerweise ihre Arbeit verrichten, einen vorübergehenden Auftrag ausführen. Während der Dauer der Entsendung bleiben die Arbeitnehmenden den Sozialversicherungen ihres Herkunftsstaats unterstellt.

Entsenderegelungen gibt es seit Langem. Schon die ersten bilateralen Abkommen, die die Schweiz im Zuge der Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung 1948 im Bereich der sozialen Sicherheit mit den Nachbarländern abschloss, sahen diese Möglichkeit vor.

Die Entsendung bildet eine Ausnahme von der Grundregel, dass Arbeitnehmende den Sozialversicherungen im Tätigkeitsland unterstellt sind. Unter bestimmten Voraussetzungen bezahlen entsandte Arbeitnehmende die Sozialbeiträge weiterhin in ihrem Herkunftsstaat, wenn sie für ihren Arbeitgeber einen befristeten Auftrag im anderen Staat ausführen. Die Entsendedauer variiert je nach Abkommen zwischen 12 und 72 Monaten.

Die Behörden der beiden betroffenen Länder können eine Entsendeverlängerung vereinbaren, nach Schweizer Praxis bis zu einer maximalen Gesamtdauer von sechs Jahren. Solche langfristigen Entsendungen sind jedoch die Ausnahme. Im Jahr 2022 betrug die durchschnittliche Dauer einer «Standard»-Entsendung in den Staaten, die die europäischen Koordinierungsregeln anwenden, darunter auch die Schweiz, beispielsweise lediglich 60 Tage (European Commission 2023: 37).

Die Entsendung verhindert somit die gleichzeitige Beitragszahlung in zwei Staaten oder einen Wechsel des Sozialversicherungssystems mit den damit verbundenen Nachteilen für Versicherte und Arbeitgeber. Ausserdem entfallen für die Unternehmen langwierige und kostspielige Verwaltungsformalitäten für die Angliederung an ein ausländisches System. Das erleichtert die internationale Mobilität von Mitarbeitenden erheblich.

Das Onlineportal ALPS (Applicable Legislation Platform Switzerland), das das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) den Schweizer Unternehmen und den AHV-Ausgleichskassen zur Verfügung stellt, ermöglicht eine rasche und effiziente Onlineabwicklung von Entsendungen.

Immer mehr Entsendungen

Schweizer Unternehmen machen immer häufiger von Entsendungen Gebrauch. So hat die Schweiz im Jahr 2022 mehr als 105 000 Bescheinigungen («Document Portable A1») für Entsendungen von Arbeitnehmenden in EU- und EFTA-Staaten ausgestellt, was einer Zunahme von 91 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht.

Die Covid-19-Pandemie allein vermag diesen starken Anstieg nicht zu erklären. Zum Vergleich: Zwischen 2013 und 2020 wurden in der Schweiz pro Jahr durchschnittlich rund 15 000 Entsendebescheinigungen ausgestellt (European Commission 2023: 31). Einen Anteil am Wachstum hat vermutlich auch das Onlineportal ALPS, welches mit der Möglichkeit, einen Antrag online einzureichen, das Verfahren vereinfacht hat. 

Abgesehen von den EU-/EFTA-Staaten entsandten Schweizer Unternehmen mit Abstand die meisten Arbeitskräfte in die USA und ins Vereinigte Königreich, nämlich knapp 2100 beziehungsweise 1500 Arbeitnehmende (Zahlen: ALPS, 2022). Dieses Ergebnis erstaunt insofern nicht, als es sich dabei um die wichtigsten Handelspartner der Schweiz handelt.

Überraschenderweise lagen Japan und China im Jahr 2022 nur auf den Plätzen 8 und 11 der beliebtesten Entsendedestinationen (mit 132 bzw. 83 Entsendungen). Über einen längeren Beobachtungszeitraum hinweg ist China in der Regel allerdings unter den ersten fünf Plätzen zu finden. Abgesehen von den Pandemiejahren nehmen die Entsendungen auch in den beiden asiatischen Staaten tendenziell zu.

Besteht mit einem Staat kein internationales Sozialversicherungsabkommen, sind die Entsendungen von Personen, die vorübergehend in diesem Staat arbeiten, nicht geregelt. Nach schweizerischem Recht können sich Personen, die ausserhalb der EU/EFTA wohnen und arbeiten, unter bestimmten Voraussetzungen freiwillig weiter in der AHV/IV versichern. Zudem können Arbeitnehmende, die im Ausland für einen Schweizer Arbeitgeber arbeiten, unter bestimmten Voraussetzungen weiterhin den schweizerischen Sozialversicherungen angeschlossen bleiben. In beiden Fällen sind die betroffenen Personen jedoch nicht von der Beitragspflicht im Tätigkeitsstaat befreit, was eine Doppelversicherung zur Folge hat.

Was regeln die Sozialversicherungsabkommen?

Für die internationale Koordinierung der Sozialversicherungen gelten weitere wichtige Grundsätze, die indirekt die Mobilität der Arbeitnehmenden begünstigen, indem sie deren Rechte wahren. Einige Abkommen mit asiatischen Ländern (China, Südkorea und Indien) beschränken sich auf die Regelung von Entsendungen. Die anderen internationalen Abkommen stellen eine weitgehende Gleichbehandlung zwischen den Angehörigen der beiden Staaten sowie die Anrechnung ausländischer Versicherungszeiten (Totalisierung) sicher, um den Zugang zu bestimmten Leistungen zu vereinfachen und den Leistungsexport zu ermöglichen.

Bereits 2016 war durch die internationalen Sozialversicherungsabkommen gewährleistet, dass die AHV-Renten von 86 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz mit ausländischer Staatsangehörigkeit exportiert werden konnten (Steiner und Bauer 2023). Heute ist dieser Anteil sogar noch höher, da zwischenzeitlich neue bilaterale Abkommen in Kraft getreten sind.

Besteht mit einem Staat kein internationales Sozialversicherungsabkommen, können die schweizerischen Altersrenten nicht an die Angehörigen dieses Staats ausbezahlt werden, wenn sie im Ausland wohnen. In einem solchen Fall können den Betroffenen beim Verlassen der Schweiz nur die einbezahlten AHV-Beiträge zurückerstattet werden. Die Renten der beruflichen Vorsorge hingegen können nach schweizerischem Recht in die ganze Welt exportiert werden.

Ausländische Arbeitskräfte begünstigen Wachstum

Die internationale Mobilität der Arbeitnehmenden geht nicht nur in eine Richtung: Es kommen auch viele ausländische Arbeitskräfte in die Schweiz, um dem Fachkräftemangel vieler Wirtschaftszweige entgegenzuwirken.

Ende 2023 arbeiteten mehr als 1,8 Millionen Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit in der Schweiz, was knapp 34 Prozent der Erwerbsbevölkerung entspricht. 43 Prozent dieser Personen verfügten über eine höhere Berufsausbildung oder einen Hochschulabschluss (Bundesamt für Statistik 2024). Eine Studie von Avenir Suisse zeigt, dass ausländische Talente erheblich zur Zukunfts- und Innovationsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft beitragen (Leisibach 2023).

Wenn es sich nicht um eine vorübergehende Entsendung handelt, kommt ausländischen Arbeitnehmenden der umfassende Schutz des schweizerischen Sozialversicherungssystems zugute. Die Möglichkeit, dank der Sozialversicherungsabkommen auch nach Verlassen der Schweiz eine Altersrente zu beziehen, ist nur einer der vielen Vorteile. 2023 erhielten 2,8 Millionen Personen eine Rente der AHV. Bei über 91 Prozent von ihnen handelte es sich um eine Altersrente. Rund 34 Prozent der Rentenbeziehenden – 968 000 Personen – lebten im Ausland (Bundesamt für Sozialversicherungen 2023).

Eine kürzlich im Auftrag des BSV durchgeführte Studie hat zudem ergeben, dass die hohe Zuwanderung von mehrheitlich gut bis sehr gut qualifizierten Erwerbstätigen aus der EU/EFTA mit hohen Einkommen sich langfristig positiv auf das Beitragssubstrat der ersten Säule (AHV/IV/EO) aus- und der demografischen Alterung entgegenwirkt (Favre und Zweimüller 2023).

Literaturverzeichnis

BFS (2024). Ausländische Arbeitskräfte.

BFS (2024). Schweizerische Arbeitskräfteerhebung SAKE. 22. Februar

BSV (2023). AHV-Statistik.

European Commission (2023). Posting of Workers. Report on A1 Portable Documents issued in 2022

Favre, Sandro; Föllmi, Reto ; Zweimüller, Josef (2023). Migration und Sozialversicherungen. November.

Leisibach Patrick (2023). Grenzenlos innovativ. Die Bedeutung der Erwerbsmigration für den Innovationsstandort Schweiz

Steiner, Ilka; Bauer, Ann Barbara (2023). Zum Ruhestand ins Ausland? Soziale Sicherheit CHSS, 19. Oktober.

Wegmüller, Claudio; Schmidiger, Thomas (2022). Vielfältige Handelspartner für die Schweiz, Die Volkswirtschaft, 23. November.

Jurist, Internationale Angelegenheiten, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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