Frau Raboud, seit zehn Monaten amtieren Sie als Direktorin der OAK BV. Wo sehen Sie in der beruflichen Vorsorge Handlungsbedarf?
Ich sehe vor allem bei den Sammel- und Gemeinschaftseinrichtungen Handlungsbedarf. Mittlerweile sind über drei Viertel aller Versicherten in der beruflichen Vorsorge bei einer Sammel- oder einer Gemeinschaftseinrichtung versichert. Jedes Jahr ziehen sich etwa 4 Prozent aller Vorsorgeeinrichtungen vom Markt zurück. Immer mehr firmeneigene Vorsorgeeinrichtungen werden aufgelöst, und die Arbeitgeber schliessen sich stattdessen einer Sammel- oder einer Gemeinschaftseinrichtung an.
Wo sehen Sie die Gründe für diesen Konzentrationsprozess?
Die Gründe dafür sind vielfältig: An erster Stelle stehen die steigenden Kosten und die immer anspruchsvolleren Erwartungen an das oberste Organ. Darüber hinaus werden die Strukturen immer komplexer, schwerer zu verstehen und zu verwalten.
Eine Herausforderung für firmeneigene Vorsorgeeinrichtungen sind also die Fachkenntnisse?
Ja, aber nicht für die firmeneigenen Vorsorgeeinrichtungen an sich. Anspruchsvoll ist der Einsitz im obersten Organ, das die Geschäftsführung überwacht und das sich paritätisch aus Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden zusammensetzt. Es braucht beispielsweise juristische und technische Kenntnisse, aber auch Kenntnisse im Anlagebereich. Die Mitgliedschaft im obersten Organ geht zudem mit einer grossen Verantwortung einher. Einige Haftungsfälle, die vor Gericht verhandelt wurden, belegen dies. Im schweizerischen Milizsystem sind die Mitglieder des obersten Organs meist Laien. Aus den genannten Gründen wird es immer schwieriger, geeignete und motivierte Kandidatinnen und Kandidaten zu finden.
Zum Konzentrationsprozess bei Sammel- und Gemeinschaftseinrichtungen haben Sie jüngst im «Tages-Anzeiger» gesagt, Wachstum sei nicht immer im Interesse der Versicherten. Inwiefern?
Quantitatives Wachstum kann problematisch sein: Wenn eine Sammeleinrichtung beispielsweise ein Vorsorgewerk mit einem tiefen Deckungsgrad übernimmt, sind die bisherigen Versicherten unter dem Gesichtspunkt der Verwässerung des Deckungsgrads der Sammeleinrichtung die Verlierer. Ein gezieltes, auf eine langfristige Strategie ausgerichtetes Wachstum ist hingegen durchaus erstrebenswert. Bei diesem Balanceakt ist das oberste Organ gefragt, das die langfristige Strategie festlegen muss. Auch im Hinblick auf das Wachstum muss das oberste Organ immer die Interessen der Versicherten in den Mittelpunkt stellen und qualitatives Wachstum anstreben.
Warum entscheiden sich Sammelstiftungen manchmal trotzdem für quantitatives Wachstum?
Der Fokus auf quantitatives Wachstum ist vor allem bei Sammel- und Gemeinschaftsstiftungen zu beobachten, die von gewinnorientierten Unternehmen gesteuert werden. Verschiedene Akteure rund um diese Vorsorgeeinrichtungen können zur Verfolgung ihres Ziels, den Ertrag zu steigern, versucht sein, das oberste Organ zu beeinflussen.
Können Sie ein Beispiel machen?
Ein Asset-Manager kann seine Vergütung verbessern, indem er die Total Expense Ratio (TER) auf ein grösseres Vermögensvolumen anwendet. Ein unkontrolliertes Wachstum ist nicht im Interesse der Versicherten, und es ist wichtig, dass das oberste Organ in der Lage ist, sich einem möglichen Versuch der Einflussnahme zu widersetzen.
Was ist zu tun?
Das oberste Organ muss sich stets nach dem Interesse der Versicherten richten und sich der Tatsache bewusst sein, dass es gesetzlich verpflichtet ist, für die finanzielle Stabilität der Vorsorgeeinrichtung zu sorgen.
«Das oberste Organ muss sich stets nach dem Interesse der Versicherten richten»
Das «PK-Netz», das Arbeitnehmende vertritt, wirft der OAK BV vor, die Vorgaben zur Verzinsung seien zu wenig im Interesse der Versicherten.
Das Eindämmen des Wettbewerbs zwischen den Vorsorgeeinrichtungen ist durchaus im Sinne der Versicherten: Sammel- und Gemeinschaftseinrichtungen dürfen keine attraktive Verzinsung anbieten, um Versicherte zu gewinnen, wenn dies auf Kosten der finanziellen Stabilität der Vorsorgeeinrichtung geht. Zudem richten sich die Vorgaben nur an eine bestimmte Kategorie von Vorsorgeeinrichtungen – nämlich an jene, die miteinander im Wettbewerb stehen.
Wo sehen Sie sonst noch Handlungsbedarf in der beruflichen Vorsorge?
Ich sehe auch Handlungsbedarf bei Vermittlern in der beruflichen Vorsorge. Einige Sammeleinrichtungen zahlen ihnen hohe Provisionen für die Vermittlung von Neukunden. Das ist für mich ein Fehlanreiz, denn eine Vermittlerin oder ein Vermittler könnte einem Unternehmen tendenziell eher die Sammeleinrichtung empfehlen, die ihn am besten entschädigt, und nicht diejenige, die am besten geeignet ist. Die Vergütung von Vermittlern ist seit geraumer Zeit Gegenstand politischer Diskussionen, und die Meinungen darüber divergieren.
Was müsste man tun?
Die Entschädigungen, die sich in der Regel pauschal nach einem festen Prozentsatz der Prämie richten und während der gesamten Vertragsdauer bezahlt werden, gilt es zu überdenken. Ein weiterer Hebel ist die Ausbildung von Vermittlern: Beratende im Vorsorgebereich sollten gewisse Grundanforderungen erfüllen müssen. Denn ihre Empfehlung kann weitreichende Folgen haben – denken wir etwa an die unterschiedlichen Leistungen im Invaliditätsfall je nach Vorsorgeeinrichtung.
«Beratende im Vorsorgebereich sollten gewisse Grundanforderungen erfüllen müssen»
Wie steht es grundsätzlich um die Aufsicht in der beruflichen Vorsorge? Funktioniert das System?
Nächstes Jahr feiert das Bundesgesetz über die berufliche Vorsorge seinen 40. Geburtstag. Das Kontrollsystem ist immer noch auf firmeneigene Vorsorgeeinrichtungen ausgerichtet und berücksichtigt die neue Realität mit den Sammel- und Gemeinschaftseinrichtungen zu wenig. Mit Spannung erwarte ich zudem den Bericht des Bundesrats zur Evaluation der letzten Strukturreform in der zweiten Säule, der voraussichtlich nächstes Jahr erscheint. Im Rahmen der geltenden Gesetzgebung haben die OAK BV sowie die kantonalen und regionalen Aufsichtsbehörden zudem bereits Massnahmen ergriffen: Ein wichtiger Aspekt ist etwa die Governance.
Als Oberaufsicht beaufsichtigt die OAK BV acht regionale Aufsichtsbehörden. Wie stellen Sie eine einheitliche Aufsicht sicher?
Die OAK BV hat gemeinsam mit den kantonalen und regionalen Aufsichtsbehörden ein Grundlagenpapier zum Aufsichtsverständnis verfasst. Dieses beschreibt Mindestanforderungen an die Aufsichtstätigkeit der Aufsichtsbehörden und dient der OAK BV als Basis für die Erarbeitung von Weisungen.
Wo besteht hier noch Verbesserungsbedarf?
Um sich ein Gesamtbild über die finanzielle Situation einer Vorsorgeeinrichtung machen zu können, sollten die kantonalen und regionalen Aufsichtsbehörden standardmässig über die notwendigen Informationen verfügen beziehungsweise diese anfordern, wenn sie nicht vorhanden sind. Um das Gesamtbild beurteilen zu können, sollten zudem einheitliche Kennzahlen zu finanziellen Risiken definiert werden. Auch im Bereich der nicht finanziellen Risiken sollten einheitliche Standards festgelegt werden – beispielsweise in Bezug auf die Prüfung der Integrität und der Loyalität der verantwortlichen Personen der Vorsorgeeinrichtungen. Zudem sollten die von einer Vorsorgeeinrichtung extern bezogenen Dienstleistungen marktüblichen Preisen entsprechen.
Wie gehen Sie nun vor?
Bevor wir Weisungen erlassen, suchen wir den Dialog mit den Aufsichtsbehörden und weiteren betroffenen Stakeholdern. Ich bin der Meinung, dass wir durch Diskussionen eine richtige, praxisrelevante und -nahe Regulierung erreichen können.
Wichtige Stakeholder im System der beruflichen Vorsorge sind auch die Revisionsstellen. Wie verläuft hier der Informationsfluss zwischen den Aufsichtsbehörden?
Die Revisionsstellen prüfen jährlich, ob die Vorkehrungen zur Sicherstellung der Loyalität in der Vermögensverwaltung sowie die Einhaltung der Loyalitätspflichten durch das oberste Organ hinreichend kontrolliert werden. Im Zentrum dieser Berichte steht die Vermeidung von Interessenkonflikten der Verantwortlichen der Vorsorgeeinrichtung. Gegenüber der Aufsicht müssen die Revisionsstellen aber lediglich angeben, ob das oberste Organ seine Pflicht wahrgenommen hat – ohne Details bekannt zu geben. Das finde ich nicht ideal, die Transparenz könnte verbessert werden.
Können Sie das näher ausführen?
Bei Rechtsgeschäften mit nahestehenden Personen braucht es beispielsweise mehr Transparenz. Vieles steht schon heute im Gesetz, wird aber meiner Ansicht nach ungenügend umgesetzt. Denn eine nahestehende Person ist nicht nur die Cousine oder der Freund aus dem Sportverein. Stattdessen muss dieser Begriff auch auf juristische Personen angewandt werden, unter anderem wenn eine wirtschaftliche Berechtigung zwischen den verschiedenen Akteuren vorliegt. Darum ist es zum Beispiel heikel, wenn eine Sammeleinrichtung, die als gewinnorientiertes Unternehmen gegründet worden ist, vornehmlich Dienstleistungen von Gesellschaften, die eine rechtliche oder eine wirtschaftliche Beziehung zu dieser gegründeten Firma haben, beansprucht. Dazu zählen etwa Vermögensverwaltung, Geschäftsführung oder Rückversicherung.
Im September ist die BVG-Reform mit zwei Dritteln der Stimmen an der Urne gescheitert. Damit verbleibt der Umwandlungssatz im Obligatorium bei 6,8 Prozent. Ist die zweite Säule in Gefahr?
Vorsorgeeinrichtungen, die ausschliesslich im Obligatorium tätig sind, sind tatsächlich unter Druck. Es handelt sich zwar nur um eine Minderheit. Es ist jedoch generell als unrealistisch zu betrachten, dass die Rendite, die zur Finanzierung des gesetzlichen Umwandlungssatzes erforderlich ist, jedes Jahr auf den Finanzmärkten erzielt werden kann.
Hat der hart geführte Abstimmungskampf das Vertrauen in die zweite Säule beschädigt?
Die plakativen Aussagen im Abstimmungskampf waren sicher nicht hilfreich. Aber das Hauptproblem liegt für mich anderswo: Es fehlt in der Bevölkerung an Wissen zur zweiten Säule und damit einhergehend an Vertrauen. Viele Vorsorgeeinrichtungen geben hier Gegensteuer und schicken Informationen an ihre Versicherten. Das finde ich sehr wichtig. Wir müssen die Bevölkerung stärker für Vorsorgethemen sensibilisieren.
«Wir müssen die Bevölkerung stärker für Vorsorgethemen sensibilisieren»
Häufig hört man auch die Kritik, die Verwaltungskosten der Vorsorgeeinrichtungen seien zu hoch.
Dies mag für einige Vorsorgeeinrichtungen zutreffen. Auch hier bin ich jedoch der Meinung, dass das oberste Organ seiner gesetzlichen Verpflichtung nachkommen muss: Es muss den Preis der vom Vermögensverwalter erbrachten Leistungen hinterfragen. Wenn andere Dienstleister ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis bieten, dann sollte ein Wechsel in Betracht gezogen werden. Letztendlich ist es recht einfach.
Bisweilen wird die Digitalisierung in der zweiten Säule thematisiert. Wo stehen wir da?
Viele Vorsorgeeinrichtungen setzen Onlinetools ein – die beispielsweise Simulationen für Versicherte oder die Übertragung von Vorsorgegeldern zwischen den Vorsorgeeinrichtungen ermöglichen. Was uns aber als Oberaufsichtsbehörde fehlt, sind Daten auf Stufe Vorsorgewerk. Wir würden uns einen Datenpool, der unter anderem Kennzahlen aus Bilanz und Betriebsrechnung der Vorsorgeeinrichtungen enthält, wünschen. Auf diesen Pool könnten wir zusammen mit den kantonalen und regionalen Aufsichtsbehörden sowie dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugreifen. Dazu brauchte es vermutlich eine Gesetzesänderung – das ist allerdings ein langfristiges Ziel.
Das Jahr 2023 war ein schlechtes Anlagejahr für Pensionskassen. Wie sieht es 2024 aus?
Das Jahr 2024 ist bislang ein sehr gutes Anlagejahr. Die meisten Vorsorgeeinrichtungen haben zudem ihre technischen Parameter angepasst, ausreichende Reserven zur Finanzierung ihrer Verpflichtungen gebildet und ihre Wertschwankungsreserven besser geäufnet. Daher ist die Situation recht erfreulich.
Laetitia Raboud und die OAK BV
Die 40-jährige Laetitia Raboud leitet seit Februar 2024 als Direktorin das Sekretariat der Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge (OAK BV). Sie ist ausgebildete Rechtsanwältin und war zuvor stellvertretende Geschäftsführerin der Baloise Perspectiva Sammelstiftung BVG.
Die OAK BV ist eine unabhängige Behördenkommission. Sie wird vollständig über Abgaben und Gebühren finanziert. Für die Direktaufsicht der Vorsorgeeinrichtungen sind die insgesamt acht kantonalen und regionalen Aufsichtsbehörden am Sitz der jeweiligen Einrichtung zuständig. Direkt von der OAK BV beaufsichtigt werden hingegen die Anlagestiftungen sowie der Sicherheitsfonds und die Auffangeinrichtung. Zudem ist die OAK BV Zulassungsbehörde für die Experten für berufliche Vorsorge.