Im Rahmen eines Mandats des Nationalen Programms gegen Armut wurde die Armutsberichterstattung in der Schweiz untersucht und ihre Lücken identifiziert. Dabei wurden neben den Ansätzen der Kantone und Gemeinden, welchen die zentrale Zuständigkeit in der Armutsprävention und -bekämpfung obliegt, auch die Berichterstattung mit gesamtschweizerischer Perspektive aufgearbeitet.
Kantonale und kommunale Armutsberichterstattung Die Anzahl Kantone mit eigener Sozial- oder Armutsberichterstattung hat in den letzten Jahren zugenommen. Verschiedene Kantone beschränken sich dabei allerdings auf eine Darstellung bezogener Sozialtransfers. Ein wichtiger Beitrag der kantonalen Berichterstattungen zu Armut besteht darin, dass sie eine fundierte und detaillierte statistische Aufarbeitung der materiellen Armut und der betroffenen Bevölkerungsgruppen in den jeweiligen Kantonen liefern. Dabei nehmen sie oft auch die strukturellen Bedingungen (Leistungssysteme, z. T. weitere Versorgungsleistungen) in den Blick. Teilweise enthalten sie zudem Hinweise zu prekären Lagen und Unterversorgung in weiteren Lebensbereichen, die Armut bedingen oder in denen sich Armut besonders nachteilig auswirken kann. Ein systematisches, kennzahlenbasiertes Gesamtbild zur Armut in den einzelnen Kantonen erlauben die meisten kantonalen Berichterstattungen nicht.
Insgesamt verfassten bisher sieben Kantone einen Armutsbericht (vgl. Tabelle T1 ), der mehrheitlich Bestandteil eines umfassenderen Sozialberichts bildet.
Um die Anzahl kantonaler Sozialberichte zu steigern und deren Vergleichbarkeit zu fördern, gab die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) 2012 entsprechende Empfehlungen ab. 1 Demgemäss sollen Armut – erhoben anhand von Daten des BFS – und Armutsgefährdung in kantonalen Sozialberichten systematisch diskutiert werden.
Auf kommunaler Ebene findet sich bisher keine regelmässige Berichterstattung zu Armut, die über die Darstellung von Sozialtransfers hinausgeht.
Finanzielle Armut im Mittelpunkt In den kantonalen Sozialberichten stehen Indikatoren zur finanziellen Armut, wie die Armutsquote, im Zentrum, häufig ergänzt durch weitere Merkmale zur wirtschaftlichen Situation der Haushalte. Informationen zu zusätzlichen Lebensbereichen erfassen vor allem diejenigen Kantone, in denen die Armutsberichterstattung Teil eines breit angelegten Sozialberichts bildet. Sie werden meistens nicht direkt in Bezug zu Armut gesetzt, da die entsprechenden Berichte konzeptionell nicht auf die Erfassung von Armut ausgerichtet sind. Das insgesamt vollständigste und kohärenteste Bild zeichnet der Armutsbericht des Kantons Basel-Stadt, der die Armutssituation unter Berücksichtigung weiterer Lebensbereiche wie Bildung, Gesundheit und soziale Kontakte umfassend diskutiert und mögliche Massnahmen vorschlägt. Die Berichte des Kantons Bern fokussieren zwar primär auf die finanzielle Armut, besprechen aber zusätzlich auch deren Determinanten und Folgen. Zudem präsentiert nur Bern eine kantonale Massnahmenplanung samt Priorisierung.
Eingeschränkte Vergleichbarkeit aufgrund unterschiedlicher Konzeption Die kantonalen Armutsberichterstattungen sind sowohl in konzeptioneller als auch in methodischer Hinsicht sehr unterschiedlich. Die Auswahl, Definition und Erhebung von Indikatoren variieren erheblich. Dies zeigt sich bereits an der Armutsquote, einem der wenigen Indikatoren, der in allen kantonalen Berichten vorkommt und trotzdem nur begrenzt vergleichbar ist, da er jeweils auf unterschiedlichen Definitionen und Datengrundlagen beruht. Auch weitere Faktoren wie Bildung, Gesundheit oder Erwerbsarbeit und die Lebensphasen werden abweichend operationalisiert. Massnahmen zur Armutsbekämpfung und -prävention werden mehrheitlich nicht systematisch erfasst.
Gesamtschweizerische Armutsberichterstattung Die umfassendsten, gesamtschweizerisch orientierten Berichte und Beobachtungsgrundlagen zur Armut und Armutsbekämpfung liefern bisher das Bundesamt für Statistik (BFS) und das Hilfswerk Caritas. Daneben enthält auch die Sozialberichterstattung der Stiftung für sozialwissenschaftliche Forschung (FORS; Bühlmann et al. 2012) und der SODK einzelne Indikatoren zur Armut.
Armutsindikatoren und vertiefende Studien des BFS Unter dem Titel «Lebensstandard, soziale Situation und Armut» pflegt das Bundesamt BFS seit rund zehn Jahren ein jährlich aufdatiertes Indikatorenset, das seit 2010 auf den Daten von Statistics on Income and Living Conditions (SILC) basiert. 2 Die fünf Indikatoren Armutsquote, Armutsgefährdungsquote, Quote der materiellen Entbehrung, Lebenszufriedenheit und Bewertung der finanziellen Situation des eigenen Haushalts messen primär die materielle Dimension von Armut.
Um das Fehlen einer Armutsmessung in nicht materiellen Dimensionen zu kompensieren, publizierte das BFS in den vergangenen 15 Jahren verschiedene vertiefende Berichte und Analysen zum Thema (z. B. BFS 2014). Die Berücksichtigung weiterer Merkmale wie Alter, Herkunft, Haushaltsform oder Erwerbsstatus erlauben es, die Verteilung der materiellen Armut in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen besser zu erfassen, wenn auch nur punktuell und nicht im Längsschnitt.
Einmal pro Legislatur legt das BFS zudem den «Statistischen Sozialbericht Schweiz» vor (BFS 2015). Auch dieser enthält einzelne Indikatoren zu materieller Armut. Er zeigt zudem, welche statistischen Informationen zu weiteren armutsrelevanten Lebensbereichen (z. B. Gesundheit, Bildung) bereits heute zugänglich sind, ohne dass diese jedoch direkt mit Armut in Bezug gesetzt werden.
Das BFS liefert keine Angaben zu sozialen Kontakten oder zur politischen und kulturellen Integration im Zusammenhang mit Armut. Auch zur Dynamik von Armut oder zur Armut im Lebensverlauf, die nicht über Daten zur Sozialhilfe erfasst sind, besteht bis zur Einführung der SILC-Paneldaten nur ein unvollständiges Bild. Massnahmen der Armutsbekämpfung und -prävention erhalten mit Angaben zu den Leistungssystemen nur im statistischen Sozialbericht Beachtung.
Qualitative Schwerpunktthemen und Beobachtung von Massnahmen durch Caritas Einen wesentlichen Beitrag an eine gesamtschweizerische Armutsberichterstattung liefert das Hilfswerk Caritas. Seit 1999 veröffentlicht es ein Jahrbuch zur sozialen Lage in der Schweiz, den sogenannten «Sozialalmanach», in dem der Besprechung von Armut und Massnahmen zu deren Bekämpfung und Prävention ein wichtiger Platz eingeräumt wird. Dazu publiziert Caritas seit 2012 im Rahmen der Kampagne «Armut halbieren» jährlich den Bericht «Beobachtungen der Caritas zur Armutspolitik». 3 Die Erfassung, Einordnung und vertiefte Diskussion der Armut und ihrer Entwicklung im Sozialalmanach sowie die Beobachtung der kantonalen Armutspolitik ermöglichen eine vielschichtige Abbildung der Armut in der Schweiz. Bezeichnend für die Berichterstattung der Caritas ist neben ihrem qualitativen Charakter ein mehrdimensionales Armutsverständnis, das neben dem materiellen auch weitere armutsrelevante Lebensbereiche berücksichtigt und der subjektiven Betroffenheit Bedeutung zumisst.
Herausforderungen Die bestehende Armutsberichterstattung auf kantonaler und gesamtschweizerischer Ebene ist meist mit grundsätzlichen konzeptionellen und datenbezogenen Grenzen konfrontiert. Allgemein akzeptierte Definitionen und Messkonzepte zu Armut fehlen. Ebenso bestehen grundsätzliche Probleme bei der Operationalisierung von Armut und setzen die Datengrundlagen Grenzen:
- Fehlen einer mehrdimensionalen Armutsdefinition: Eine verbindliche, über materielle Aspekte hinausgehende Definition von Armut als mehrdimensionales Phänomen gibt es bisher nicht. Es existieren keine allgemein anerkannten Vorgaben oder Absprachen, in welchen Bereichen und in welchem Ausmass eine Person benachteiligt sein muss, damit sie als arm gilt. Auch lässt sich mit einem mehrdimensionalen Armutsverständnis nicht immer klar abgrenzen, was Teil der Armut bzw. was Ursache und Folge von Armut sind.
- Schwierige Operationalisierung: Definitorische Unschärfen erschweren die Operationalisierung von Armutskonzepten, insbesondere die Festlegung zuverlässiger und valider Indikatoren, die mehr zu messen vermögen als die materielle Dimension von Armut. Grenzen setzt dabei auch die eingeschränkte Verfügbarkeit von detaillierten statistischen Daten, die einen Bezug herstellen zwischen finanzieller Armut einerseits und weiteren armutsrelevanten Bereichen wie Gesundheit oder Bildung.
- Uneinheitlich umgesetzte Messkonzepte: Mit Armutsgrenzen und -quoten bestehen Konzepte zur Messung finanzieller Armut, die in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft breit abgestützt sind. Aber auch diese akzeptierten Grössen werden – v. a. bedingt durch die jeweils gegebene Datenlage – unterschiedlich erfasst und erschweren so insbesondere den Vergleich, wie er für eine stringente Beschreibung von Armut nötig wäre. So wird die Armutsgrenze wahlweise entweder als absolute oder als relative Grösse erfasst, die in ihren einzelnen Komponenten zudem teilweise unterschiedlich definiert ist. Auch wird die Armutsquote über differierende Einkommensgrössen berechnet.
- Inkompatible Datenquellen: Zur Beschreibung und Messung von Armut nutzen Kantone und Bund eine Vielzahl von Datenquellen, v. a. Befragungs- und Steuerdaten. Diese wurden mehrheitlich nicht mit dem Ziel einer Armutsberichterstattung erhoben. Folglich weisen sie Lücken auf und teilweise fehlt ihnen die gewünschte Genauigkeit, die für eine umfassende, schweizweit gültige Armutsmessung nötig wäre: Die lediglich kantonal verfügbaren Steuerdaten gehen nicht von der für die Armutsmessung üblichen Haushaltsdefinition aus. Ebenso sind wichtige Sozialtransfers nicht enthalten. Die Befragungsdaten des BFS wiederum lassen sich nur für die gesamte Schweiz oder allenfalls Grossregionen auswerten und es stellen sich Fragen der Stichproben- und der Datenqualität.
Fazit Sowohl die gesamtschweizerische als auch die kantonale Armutsberichterstattung geben einen Einblick in die Armutssituation und -entwicklung in der Schweiz. Sie liefern zentrale Erkenntnisse zum Umfang der Armut und auch zur Struktur der von materieller Armut betroffenen Bevölkerung. Für manche Kantone können Risikogruppen benannt und quantifiziert und auch die Ursachen und Folgen von Armut näher beschrieben werden. Ergänzende kantonale Kennzahlen erlauben punktuell auch Aussagen zur Dynamik von Armut sowie zu weiteren Komponenten finanzieller Armut. Auch gibt es Anhaltspunkte zum Ausmass von prekären Lebensbedingungen und von Unterversorgung im Bereich der Bildung, Erwerbsarbeit oder Gesundheit. Eine integrale Auseinandersetzung mit Armut als mehrdimensionalem Phänomen findet allerdings nur vereinzelt statt. Die existierenden Berichterstattungen unterscheiden sich konzeptionell und methodisch so stark, dass ihre Ergebnisse eine kontinuierliche Beobachtung über die Zeit erschweren und kaum einen systematischen Vergleich erlauben.
- Literatur
- Bundesamt für Statistik (2015): Statistischer Sozialbericht Schweiz 2015, Neuchâtel: BFS: www.bfs.admin.ch > 13 – Soziale Sicherheit > Berichterstattung zur Sozialen Sicherheit > Statistischer Sozialbericht Schweiz.
- Bundesamt für Statistik (2014): Armut in der Schweiz: Konzepte, Resultate und Methoden. Ergebnisse auf der Basis von SILC 2008–2010, Neuchâtel: BFS: www.bfs.admin.ch > Aktuell > Publikationen.
- Bühlmann, Felix; Schmid Botkine, Céline; Farago, Peter; Höpflinger, François; Joye Dominique; Levy, René; Perrig-Chiello, Pasqualina; Suter, Christian (2012): Sozialbericht 2012: Fokus Generationen, Zürich: Seismo Verlag.
- 1. www.sodk.ch > Aktuell > Empfehlungen > Empfehlungen SODK zur Ausgestaltung von kantonalen Sozialberichten (2012).
- 2. www.bfs.admin.ch > Themen > 20 – Wirtschaftliche und soziale Situation der Bevölkerung > Lebensstandard, soziale Situation und Armut > Daten, Indikatoren.
- 3. www.armut-halbieren.ch > Kampagne «Armut halbieren» > Beobachtung der Armutspolitik.