SuisseMED@P: Massnahmen gegen begrenzte Gutachterkapazitäten

Die zufallsbestimmte Zuteilung polydisziplinärer Gutachten hat sich bewährt, v. a. nach ­Einführung des Grundsatzes first in, first out. Nach wie vor übersteigt aber die Nachfrage nach Gutachten die Gutachterkapazität.
Michela Messi, Ralph Leuenberger
  |  08. Dezember 2016
  • Invalidenversicherung

Seit mehr als vier Jahren werden die Aufträge für polydisziplinäre Gutachten für die Invalidenversicherung (IV) zufallsbasiert über die IT-Plattform SuisseMED@P verteilt (Kocher 2014). Die Startphase war geprägt von Skepsis und Misstrauen, SuisseMED@P wurde zum Thema zahlreicher Beschwerdeverfahren, parlamentarischer Vorstösse und Medienberichte. Die IV konnte jedoch aufzeigen, dass die zufallsbasierte Verteilung von Gutachtensaufträgen möglich und auch erfolgreich sein kann. Für ein reibungsloses Funktionieren ist es ­wichtig, dass die Abläufe und die Funktionsweise von SuisseMED­­@P stets überprüft und verbessert werden. Hilfreich dabei sind die mit SuisseMED@P gewonnen statistischen Angaben, die zu einer grossen Transparenz im Begutachtungswesen geführt haben. Massgeblichen Einfluss auf eine möglichst rasche und auch ausgewogene Verteilung der Aufträge haben die Gutachterkapazitäten, die in der Schweiz nach wie vor begrenzt sind. Um längere Wartezeiten für die Versicherten zu verhindern, sind deshalb auch die IV-Stellen gefordert, diese Fälle rasch und rechtsgenüglich abzuklären.

In der IV besteht nach wie vor eine grosse Nachfrage nach polydisziplinären Gutachten (Reportings 2014–2015). Sie entstand einerseits aufgrund der Überprüfung von Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen worden waren.1 Andererseits ist sie aber auch eine Folge der Rechtsprechung des Bundesgerichts2, wonach die umfassende administrative Erstbegutachtung regelmässig polydisziplinär und zufallsbasiert anzulegen sei, und nur in begründeten Fällen davon abgesehen werden kann. Zudem ergab sich im Nachgang zum BGE 141 V 281 eine zusätzliche Nachfrage nach Neubegutachtungen, da manche bereits vor dem Urteil erstellte Gutachten nicht den Anforderungen der neuen Rechtsprechung entsprachen.

Nachfrage übersteigt Kapazitäten Nach wie vor besteht eine grössere Nachfrage nach polydisziplinären Gutachten, als die zugelassenen Gutachterstellen Kapazitäten zur Verfügung stellen können. Diese Tendenz zeichnete sich bereits 2014 ab – zum Jahresende befanden sich insgesamt 1648 offene Aufträge auf SuisseMED@P – worauf das BSV mit der Einführung des Prinzips first in, first outreagierte. Am stärksten von den Kapazitätsgrenzen betroffen war die Westschweiz.

Um das Angebot an Gutachterstellen – insbesondere in der Westschweiz – zu vergrössern und unverhältnismässige Wartezeiten für die Versicherten zu verhindern, hat das BSV reagiert. Auf politischer Ebene hat Bundesrat Alain Berset den Mangel an medizinischen Gutachterstellen bei Gesprächen mit Vertretern von Kantonsregierungen thematisiert und insbesondere dafür geworben, öffentliche und universitäre Spitäler als Gutachterstellen zu gewinnen. Zudem hat er sich auch für ein angemessenes Angebot an Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Ärztinnen und Ärzte im Begutachtungswesen verwendet. In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und Gesundheitsdirektoren (GDK) wandte sich Bundesrat Berset deshalb im Juni 2015 mit der Bitte an die Kantone, sie mögen geeignete Spitäler dazu auffordern, sich als polydisziplinäre Gutachterstellen zur Verfügung zu stellen. Während die Bemühungen bei den Kantonen und ihren öffentlichen Spitälern bisher leider erfolglos geblieben sind, gelang es dem BSV, insgesamt zwölf privatrechtlich organisierte Gutachterstellen hinzuzugewinnen. Damit waren Ende 2016 insgesamt 30 Gutachterstellen für die Erstellung von polydisziplinären Gutachten zuhanden der IV zugelassen.

2015 wurden den 29 autorisierten Gutachterstellen insgesamt 5177 Gutachtensaufträge zugeteilt, was gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung um 1089 Gutachten oder gut 25 Prozent ausmachte. In der Westschweiz konnte die Kapazität von 330 auf 702 verteilte Gutachten mehr als verdoppelt werden, während in der Deutschschweiz eine Steigerung der Kapazitäten um rund 20 Prozent oder von 3440 auf 4120 verteilte Gutachten erreicht wurde. Gegenüber dem Vorjahr liess sich damit die Anzahl der offenen Aufträge von 1648 auf 797 reduzieren. Ende September 2016 befanden sich noch deren 686 in der Warteschlaufe auf SuisseMED@P, davon 175 mehr als sechs Monate, wobei drei auf die italienischsprachige, 28 auf die deutschsprachige sowie 144 auf die französischsprachige Schweiz entfielen.

Im Vergleich zum Vorjahr hinterlegten die IV-Stellen im Jahr 2015 rund 1500 Aufträge weniger: Ein Rückgang, der auf die nahezu abgeschlossene Überprüfung der Schlussbestimmungsfälle, die dreimonatige Auftragssperre (IV-Rundschreiben 2015) im Nachgang zu BGE 141 V 281 und die gezieltere und fallgerechtere Festlegung der für die Begutachtung notwendigen Fachdisziplinen zurückzuführen ist. Vermehrt gaben die IV-Stellen auch bidisziplinäre Gutachten in Auftrag, die gesamtschweizerisch um etwa 23 Prozentpunkte anstiegen.

Funktionsweise von SuisseMED@P Ursprünglich wurde davon ausgegangen, dass mehrere Gutachterstellen für einen Auftrag in Frage kommen und sie den einzelnen Aufträgen nach dem Zufallsprinzip zugeteilt werden würden. Die Erfahrungen haben nun aber gezeigt, dass die Nachfrage nach Gutachten das Angebot an Gutachterstellen mit freien Kapazitäten in den gesuchten Fachdisziplinen häufig übersteigt. Somit werden wohl meist die Gutachtensaufträge den Gutachterstellen zugeteilt und nicht umgekehrt.

Vergabeverfahren

Das Vergabeverfahren, das bei SuisseMED@P zur Anwendung kommt, kann mit der Ziehung aus einem virtuellen Lotterietopf verglichen werden, der für jede Ziehung mit Bällen gefüllt wird, die anschliessend nach dem Zufallsprinzip verteilt werden. Je nachdem, ob das Angebot an Gutachterstellen oder die Nachfrage nach Gutachten grösser ist, repräsentieren die Bälle entweder eine Gutachterstelle oder einen Gutachtensauftrag mit einer bestimmten Kombination an Fachdisziplinen. Dabei kommen jeweils alle geeigneten Gutachterstellen oder alle geeigneten Gutachtensaufträge in den Lotterietopf: Gutachterstellen kommen immer dann, wenn sie Kapazitäten in den medizinischen Fachdisziplinen, welche der Gutachtensauftrag erfordert, freigeschaltet haben und auch die Dossiersprache übereinstimmt. Im umgekehrten Fall landen Gutachtensaufträge immer dann im Lotterietopf, wenn sie einige oder alle der von einer Gutachterstelle aktuell angebotenen Fachdisziplinen benötigen und die Dossiersprache übereinstimmt. Anschliessend wird aus dem Lotterietopf ein Ball gezogen. SuisseMED@P nutzt hierfür den Microsoft-Net-Framework-Zufallsgenerator. Um den Ansprüchen einer wirklich ergebnisneutralen Auftragsverteilung gerecht zu werden, werden die Befüllung des Topfs und die Ziehung der Kugeln unter Ausschluss menschlichen Zutuns bzw. äusserlicher Einflussnahme durchgeführt. Damit weiss niemand, wie viele Bälle sich zum Zeitpunkt der Vergabe im Lotterietopf befanden. Nach der Zuteilung werden sowohl die Gutachterstelle als auch die auftraggebende IV-Stelle von SuisseMED@P per E-Mail darüber informiert.

Die strikte Anwendung des Zufallsprinzips kann zur Folge haben, dass ein eben erst aufgeschalteter Auftrag zugeteilt wird, obwohl bereits diverse ältere und ebenfalls passende Gutachtensaufträge vorhanden wären. Aufgrund der fehlenden Kapazitäten bei den Gutachterstellen waren die Wartezeiten für die Aufträge bis Ende 2014 im Durchschnitt kontinuierlich angestiegen. Als Sofortmassnahme führte das BSV deshalb auf den 1. Januar 2015 den Grundsatz first in, first out ein, gemäss welchem in Abhängigkeit von den zur Verfügung stehenden Kapazitäten an Fachdisziplinen stets diejenigen Aufträge zugeteilt werden, die sich am längsten in der Warteschlaufe befinden. Mit dieser Systemänderung konnten die Wartezeiten wesentlich verkürzt werden.

Verbesserung der Abläufe Trotz der ergriffenen Massnahmen führen die fehlenden Kapazitäten immer noch zu Wartezeiten bei der Verteilung der Aufträge, wobei die Westschweiz am stärksten betroffen ist. Zudem führt die Priorisierung alter Fälle teilweise dazu, dass angebotene Fachrichtungen trotz freier Kapazitäten nicht berücksichtigt werden, weil das Angebot nicht mit dem Fachwissen übereinstimmt, das zur Begutachtung des ältesten Falls nötig wäre. Aufträge mit selten nachgefragten und angebotenen Fachrichtungen (z. B. Urologie, Gynäkologie) weisen zudem systembedingt nach wie vor lange Wartezeiten auf. Um auch diese Verfahren zu beschleunigen und allfällige freie Kapazitäten effizienter einzusetzen, hat das BSV die IV-Stellen aufgefordert, die Fälle mit den längsten Wartezeiten zu überprüfen.

Diese Überprüfung zielt auf die tatsächliche Notwendigkeit der eingegebenen Fachdisziplinen und die allfällig negativen Auswirkungen auf die Wartezeit aufgrund von selten angebotenen Fachdisziplinen. Sofern die Überprüfung einen Verzicht auf die eine oder andere Fachdisziplin zulässt, sind die IV-Stellen angehalten, die entsprechenden Aufträge auf SuisseMED@P anzupassen. Dabei ist gewährleistet, dass letztere ihr ursprüngliches Auftragsdatum nicht verlieren. In denjenigen Fällen, in denen die Beurteilung durch eine selten angebotene Fachdisziplin unabdingbar ist, sollten die IV-Stellen prüfen, ob in diesem Sachgebiet vorgängig nicht eine monodisziplinäre Begutachtung möglich wäre, die den Beteiligten des polydisziplinären Gutachtens daraufhin zur Verfügung gestellt werden würde. Die entsprechenden Vorkehrungen sind der versicherten Person mitzuteilen und im Dossier festzuhalten. Die Verfahrensrechte der versicherten Person sind selbstverständlich zu garantieren und sie sollte auch mit dem Vorgehen einverstanden sein. Liegt ein Beschwerdeverfahren vor, in welchem das kantonale Gericht die Sache zur weiteren Abklärung zurückgewiesen und eine polydisziplinäre Begutachtung unter Angabe der notwendigen Fachdisziplinen angeordnet hat, muss die IV-Stelle das ergangene Urteil umzusetzen und kann nicht von sich aus den Gutachtensauftrag anpassen.

Abschliessend sei darauf hingewiesen, dass die IV-Stellen stets bemüht sind, mono-, bi- oder polydisziplinäre Gutachten so rasch und auch so ausgewogen als möglich in Auftrag zu geben. Das BSV ist deshalb bestrebt, gerade in den selten nachgefragten bzw. angebotenen Fachdisziplinen neue Gutachterinnen und Gutachter insbesondere für polydisziplinäre Gutachten zu gewinnen. Da das Angebot an qualifizierten Gutachterinnen und Gutachtern in der Schweiz allerdings sehr beschränkt ist, werden sich je nach Fachdisziplin oder Sprachregion auch künftig längere Wartezeiten nicht ganz verhindern lassen.

Stv. Leiterin Verfahren und Rente, Invalidenversicherung, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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Lic. iur., Bereich Verfahren und Rente, Geschäftsfeld Invalidenversicherung, BSV
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