Vom Flickenteppich zur Politik für die frühe Kindheit

Die grosse Bedeutung der ersten Lebensjahre ist anerkannt. Unbestritten ist auch, dass das familienergänzende Bildungs- und Betreuungsangebot in der Schweiz noch nicht optimal ist. Eine nationale Politik für die frühe Kindheit ist notwendig, um die Lücken zu schliessen und die Qualität zu heben.
Elisabeth Baume-Schneider, Eliane Fischer
  |  04. Juni 2021
  • Chancengerechtigkeit
  • Familie
  • Gesellschaft
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Der in diesem Heft präsentierte Bundesratsbericht in Beantwortung des Postulats «Strategie zur Stärkung der frühen Förderung» (Bundesrat 2021) zeigt es deutlich: Im Bereich der frühen Kindheit läuft seit einigen Jahren viel – auf allen staatlichen Ebenen, über viele Politikbereiche hinweg, auf Initiative unterschiedlicher Akteure der Zivilgesellschaft und mit vielfältiger finanzieller Unterstützung privater und öffentlicher Träger. Die kritische Lektüre des Berichts macht aber auch klar, dass all diese wertvollen Anstrengungen bisher einem unkoordinierten Flickenteppich gleichen.

Mit geeinter Stimme für die Kinder Kinder bis zwölf Jahre sind mit über einer Million Personen in der Schweiz ein gewichtiger Teil der Bevölkerung. Sie haben allerdings weder politische Rechte noch eine vernetzte Lobby, die mit koordinierter Stimme für ihre Interessen und Bedürfnisse öffentlich einsteht. Und doch sind Kinder in ihren Lebenswelten ein Teil der Gesellschaft und besitzen das Recht, an Entscheidungen, von denen sie betroffen sind, mitzuwirken. Nur unter Erfüllung dieser Bedingungen kann die Perspektive der Kinder wirklich berücksichtigt werden. So geht es bei der Debatte rund um familien- und schulergänzende Angebote und Strukturen zwar häufig um die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit – aber andere Aspekte, die das Kind betreffen, wie das Recht auf eine positive Entwicklung, kommen zu kurz. Hier möchte Alliance Enfance – gegründet im August 2020 – ansetzen.

Der Bericht des Bundesrates ist aus Sicht von Alliance Enfance teilweise unbefriedigend. Er bietet zwar eine fundierte und interessante Auslegeordnung der Politik der frühen Kindheit, betont deren Bedeutung und Potenzial und definiert sie erstmals als Querschnittspolitik und Teil der Kinder- und Jugendpolitik.

Die vom Bundesrat vorgeschlagenen Massnahmen zur Verbesserung der Datenlage, zur Förderung des Zugangs zu den Angeboten der frühen Kindheit sowie zu verstärkter Koordination unter den Bundesstellen sind zu begrüssen. Sie reichen aber bei Weitem nicht aus. Der Bericht ist eine verpasste Chance, der frühen Kindheit auch auf Bundesebene die nötige Bedeutung zukommen zu lassen und Massnahmen vorzuschlagen, die die Politik der frühen Kindheit einen entscheidenden Schritt voranbringen.

Alliance Enfance kennt – dank der Expertise seiner Mitglieder – die vielfältigen Perspektiven der Kinder und vertritt sie in den politischen Prozessen auf allen staatlichen Ebenen und in allen Regionen. Dabei orientiert sie sich an den Grundsätzen der UN-Kinderrechtskonvention, die die Schweiz 1997 ratifiziert hat. Sie eint die Stimmen der zivilgesellschaftlichen Akteure in den Bereichen Bildung, Betreuung und Erziehung, Gesundheit und Kindesschutz und sorgt für den Wissensaustausch zwischen Praxis, Forschung und Politik. Alliance Enfance möchte zu einer Politik beitragen, die mit evidenzinformierten Entscheidungen und aktiven Massnahmen das Wohl der Kinder ins Zentrum stellt.

Die staatliche Regulierung und Unterstützung der Kindheit betreffen bisher hauptsächlich die schulische Bildung und den Kindesschutz. Ausserhalb der formalen (schulischen) Bildung bleiben Bildung, Betreuung und Erziehung des Kindes ab Geburt vorwiegend Sache der Familie und eine Angelegenheit zivilgesellschaftlicher Organisationen. Ein breiter Zugang zu zahlbaren und qualitativ hochwertigen Angeboten der frühen Kindheit ist bis heute nicht gegeben. Es ist zwar anzuerkennen, dass Gemeinden, Kantone und auch der Bund sich seit Jahren bemühen, in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich mehr Einfluss darauf zu nehmen, unter welchen Rahmenbedingungen die Kinder aufwachsen. Vor allem im Bereich der frühen Förderung, also im Altersspektrum zwischen Geburt und vier Jahren, müssen die Aktivitäten aber schon fast als «stiefmütterlich» bezeichnet werden. Die Schweizerische UNESCO-Kommission spricht in ihrem Bericht «Für eine Politik der frühen Kindheit» von einem «Flickwerk mit wenig Wirkung» (UNESCO-Kommission 2019, S. 4). Im internationalen Vergleich ist die Schweiz bei der frühen Kindheit in vielerlei Hinsicht erstens eine Spätzünderin und zweitens im Hintertreffen (vgl. dazu z. B. Burger et al. 2017). Verschiedene politische Vorstösse zeigen nun aber, dass der Druck zum Handeln langsam zunimmt.

Pa. Iv. 21.403 Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats:

Überführung der Anstossfinanzierung in eine zeitgemässe Lösung

«Die befristete und mittlerweile mehrfach verlängerte Anstossfinanzierung (Bundesgesetz über Finanzhilfen für familienergänzende Kinderbetreuung) wird abgelöst und überführt in eine stetige Unterstützung, welche eine massgebliche Vergünstigung der Elternbeiträge und eine Verbesserung der frühkindlichen Bildung bewirkt mit dem Ziel, die Entwicklungschancen der Kinder zu erhöhen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Die neue Regelung wahrt das Subsidiaritätsprinzip und trägt den individuellen Familienmodellen weiterhin Rechnung.»

Finanzhilfen für die Schaffung von Betreuungsplätzen

Seit 2003 richtet der Bund Finanzhilfen für die familienergänzende Kinderbetreuung aus. Das Impulsprogramm war ursprünglich auf acht Jahre bis Januar 2011 befristet. Wegen der grossen Nachfrage wurde es drei Mal verlängert, ein letztes Mal im Herbst 2018 um weitere vier Jahre. Bis Ende Januar 2021 unterstützte der Bund mit 408 Mio. Franken die Schaffung von 65 329 Betreuungsplätzen.

Grenzen der aktuellen Pflästerlipolitik Die Covid-19-Pandemie und ihre Folgen machen die Grenzen der aktuellen Pflästerlipolitik im Frühbereich offensichtlich: So wussten Spielgruppen zu Beginn des ersten Shutdowns nicht, ob sie weiterhin öffnen dürfen oder nicht. Dann waren in der Covid-19-Verordnung des Bundesrates öffentlich-rechtliche Träger von Entschädigungszahlungen des Bundes ausgenommen. Für die zumeist öffentlichen Kindertagesstätten in der Westschweiz bzw. ihre kantonalen und kommunalen Träger ein existenzielles Problem, auf das deren Verband pro enfance immer wieder hinwies (vgl. pro enfance 2020). Dem begegnete der Gesetzgeber im März 2021 mit einer entsprechenden Änderung im Covid-19-Gesetz (SR 818.102). Dabei vergütet der Bund Kantonen, die zwischen dem 17. März und 17. Juni 2020 öffentlich-rechtlich geführte Betreuungseinrichtungen für entgangene Elternbeiträge entschädigt hatten, nachträglich ein Drittel der entstandenen Kosten (AS 2021 153). Das sind zwei Beispiele, die zeigen, dass sich der Frühbereich nicht durch ein stabiles System auszeichnet, sondern bei Herausforderungen rasch aus dem fragilen Gleichgewicht gerät.

Die Auswirkungen dieser wenig umsichtigen Politik bekommen zuallererst die Kinder zu spüren – direkt oder indirekt über ihre Eltern (v. a. über die hohen Kosten und mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie). Aber auch die anbietenden Organisationen (Planungsunsicherheit, Ressourcenknappheit, Fachkräftemangel, fehlende Qualitätsentwicklung), die staatlichen Akteure (mangelnder oder sehr teurer Austausch, schwieriger Wissenstransfer, wenig effektiver Mitteleinsatz), die Volkswirtschaft (fehlende Vereinbarkeit, Fachkräftemangel), die öffentliche Hand und die Gesellschaft als Ganzes (höhere Sozialkosten, weniger Steuereinnahmen, Integrationsdefizite) haben die Folgen des ungenutzten Potenzials zu tragen.

Eine echte Politik für die frühe Kindheit Ein quantitativ ausreichendes, qualitativ hochstehendes, chancengerechtes und für die Eltern bezahlbares Angebot im Frühbereich bedarf einer umfassenden Politik der frühen Kindheit. Um eine nachhaltige Wirkung zu entfalten, braucht es entsprechende Investitionen. Die frühe Förderung muss breit konzipiert und abgestützt, das Angebot qualitativ hochstehend sein. Zudem sind Zuständigkeiten, Aufgaben und Verantwortlichkeiten über alle drei Staatsebenen hinweg klar zu regeln.

  • Es braucht substanzielle Investitionen in die frühe Kindheit: Mittlerweile ist sowohl der gesellschaftliche wie auch der volkswirtschaftliche Nutzen früher Förderung hinlänglich bekannt und wissenschaftlich belegt. Eine von der Jacobs Foundation in Auftrag gegebene Studie (BAK 2020) belegt, dass ein Ausbau der Bildungs- und Betreuungsangebote im Frühbereich das Bruttoinlandprodukt jährlich um rund 0,5 Prozent beziehungsweise 3,4 Milliarden Franken steigern würde. Zusätzliche Investitionen in die Qualität der Bildung und Betreuung würden gar zu einer Verdopplung dieser Steigerung führen. Hinzu kommt: Von den mit den Investitionen verbundenen Erträgen profitieren zu einem wesentlichen Teil Bund und Kantone (Balthasar 2020). Ein Grund mehr, auf diesen Stufen sowohl gesetzliche Grundlagen zu schaffen als auch die nötigen finanziellen Mittel für eine umfassende Politik der frühen Kindheit zur Verfügung zu stellen.

Der bereits angesprochene Fachkräftemangel kann hier nochmals erwähnt werden: Eltern – vor allem Mütter – gehen aufgrund der finanziell unattraktiven Bildungs- und Betreuungsangebote gar keiner oder nur einer Erwerbstätigkeit in tiefem Pensum nach. In die familienergänzenden Bildungs- und Betreuungsstrukturen wie Tagesfamilien, schulergänzende Betreuung und Kitas zu investieren, ist also für den Arbeitsplatz Schweiz, aber auch für das Bildungsland Schweiz, ein dringend nachzuholendes Must. Zu gewichtig sind die damit verbundenen Gewinne: hohe Bildungsrendite, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, realisierte Chancengerechtigkeit, Gleichstellung von Frau und Mann.

Ein Paradigmenwechsel hin zum Grundsatz «Wer in der familienergänzenden Bildung und Betreuung direkt mit Kindern arbeitet, verfügt über eine pädagogische Ausbildung» ist mit substanziellem Investitionsbedarf verbunden. Der Verband Kinderbetreuung Schweiz, kibesuisse, hat für den deutschsprachigen Raum gerechnet: Jährlich nötig ist gut eine zusätzliche Milliarde Franken, um die vom Verband skizzierte Qualität in Kindertagesstätten zu erreichen (kibesuisse 2020). «Werden diese zusätzlichen Investitionen nicht getätigt, nehmen wir in Kauf, dass weiterhin die Hälfte der Mitarbeitenden in Kindertagesstätten hauptsächlich junge unausgebildete Menschen sind», warnt Estelle Thomet, Leiterin Regionen von kibesuisse.

  • Frühkindliche Bildung ist breit und über den Bereich der institutionellen Bildung und Betreuung hinaus zu verstehen: Aus der Perspektive der Kinder betrachtet, müssen alle Lebensumfelder klar auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet sein – unabhängig von der Wahl des Familien- und Erwerbsmodells, unabhängig vom konkret gewählten Betreuungs- und Bildungsangebot. Eine Rolle spielen sollte nicht, ob ein Kind ganz in der Familie betreut und gebildet wird, eine Spielgruppe besucht oder eine Kita, ob seine Familie die Mütter- und Väterberatung in Anspruch nimmt, regelmässig das Familienzentrum besucht oder von der aufsuchenden Familienarbeit und einem Sprachförderprogramm profitiert. Wichtig ist vielmehr, dass die Familien die Wahl haben, diejenigen Angebote zu wählen, die ihren Bedürfnissen entsprechen und ihr(e) Kind(er) optimal unterstützen. Von grosser Bedeutung ist, dass diese Angebote zugänglich und bezahlbar sind – und dass die Qualität stimmt. Nur so kann man dem Problem der grossen sozialen Selektivität begegnen (vgl. z. B. SKBF 2018). Der Schweizerische Wissenschaftsrat (SWR) hat in diesem Zusammenhang bereits 2018 eine umfassende Politik der frühen Kindheit empfohlen (SWR 2018, S. 70). Es gilt zudem die Zusammenarbeit systematisch zu fördern und die entscheidenden Übergänge – zum Beispiel zwischen Elternhaus und Kita oder von der Kita in den Kindergarten – für die Entwicklung der Kinder erfolgreich zu gestalten. Denn: Verläuft ein Übergang – beispielsweise von Kita zu Kindergarten – gut, wird dies künftige Übergänge beeinflussen. Im Kanton Tessin werden dank dem Projekt TIPÌ konkrete Aktivitäten zur Gestaltung der Übergänge von der Familie zur Tagesbetreuung, zum Kindergarten und zur Schule (unter anderem durch die Verbesserung der Zusammenarbeit mit den Familien) eingeführt. Die wissenschaftliche Begleitung und Auswertung erfolgt durch die dortige Fachhochschule (SUPSI 2015).
  • Zuständigkeiten auf allen föderalen Ebenen sind klar zu definieren: Aus Sicht von Alliance Enfance und auf Grundlage des «Orientierungsrahmens für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung» (Wustmann Seiler/Simoni 2016, S. 24) geht es bei der frühen Förderung klar um Bildung im weiteren Sinne: «Frühkindliche Bildungsprozesse umfassen die Aneignungstätigkeit des Kindes, sich ein Bild von der Welt zu machen. Sie sind Konstruktions- und Lernprozesse im Inneren des Kindes, auf deren Basis es neues Wissen und neue Kompetenzen erwirbt. Frühkindliche Bildungsprozesse sind der Beitrag des Kindes zu seiner Entwicklung.» Wer da nur koordinieren will, nimmt die Bedürfnisse der Kinder nicht ernst. Es braucht zuständige Stellen, kompetente Personen, effiziente Prozesse und eine gemeinsame Zielvorstellung – eine nationale Politik, in der auch der Bund Aufgaben und Verantwortung übernimmt. Das Argument, wonach dem Bund die Hände gebunden seien, hält sich hartnäckig. Ein aktuelles Gutachten kommt jedoch zum Schluss, dass der Bund einige Möglichkeiten hat, Massnahmen zu ergreifen: Die Verfassungsgrundlagen wären gegeben, die bestehende Kompetenzordnung bliebe gewahrt und der Föderalismus sichergestellt (Mahon/Huruy 2021).
  • Die Angebote im Frühbereich müssen qualitativ hochstehend sein: Qualität ist entscheidend; für die Kinder und ihre Bildungsbiografie, für chancengleichen Zugang zu den Angeboten, für einen zielorientierten Mitteleinsatz, aber auch für längerfristige Effekte auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Der Fachkräftemangel lässt sich nur beheben, wenn die Eltern, die so dringend als Fachkräfte gebraucht werden, ihre Kinder in guten Händen wissen (Stern et al. 2018). Bessere Vereinbarkeit ist also nicht ohne qualitativ hochstehende Kinderbetreuung zu haben. Dazu braucht es passend zusammengesetzte Teams in Bezug auf Fähigkeiten, Berufs- und Lebenserfahrung sowie adäquate Aus- und Weiterbildungen.

Die fachlichen Grundlagen für qualitativ hochstehende Angebote sind inzwischen zahlreich. Studien und Evaluationen zu Qualitätsaspekten sind ein wichtiges Forschungsfeld. Es gibt zahlreiche Qualitätsentwicklungsprojekte und gross angelegte Qualitätsoffensiven, Good-Practice-Beispiele und Handlungsanleitungen für die Praxis, Empfehlungen von Verbänden und mehr. Kurz: Forschung und Praxis wären bereit, aber es bedarf noch angemessener Rahmenbedingungen zur Hebung der Qualität. Um Angebote zum Wohle der Kinder und angemessene Arbeitsbedingungen für das Personal zu ermöglichen, braucht es einerseits rechtliche Grundlagen, die es erlauben, die Qualität im konkreten Fall auch einzufordern, zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Andererseits müssen dringend zeitgleich die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung stehen.

Ausblick Die Aktivitäten von Alliance Enfance sind auf das folgende Ziel ausgerichtet: In der Schweiz sind auf allen Ebenen die relevanten rechtlichen Grundlagen verändert oder die für deren Anpassung notwendigen politischen Debatten im Gange, sodass für alle Kinder bei ihrer Geburt – dem Start ihrer Bildungsbiografie – gewährleistet ist, dass sie die bestmögliche Entwicklung machen können. Unbedingt notwendig dafür ist ein langfristiges Investitionsprogramm, das die aktuelle Pflästerlipolitik ablöst. Es braucht einen gemeinschaftlichen Effort!

Ständerätin JU/SP, Co-Präsidentin Alliance Enfance.
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Lic. rer. soc., stv. Geschäftsführerin Alliance Enfance.
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