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War die Verankerung des Umwandlungssatzes im BVG ein Fehler?

Alt-Ständerätin Christine Egerszegi (FDP) und Alt-Nationalrat Rudolf Rechsteiner (SP) blicken zurück auf 40 Jahre berufliche Vorsorge: Beide betrachten das Obligatorium als grosse Errungenschaft, sehen aber auch Handlungsbedarf.
Markus Binder, Stefan Sonderegger
  |  20. Mai 2025
    Interview
  • Berufliche Vorsorge
Christine Egerszegi (links) und Rudolf Rechsteiner waren massgeblich an der BVG-Revision von 2005 beteiligt. (Foto: Marcel Giebisch/BSV)

Letztes Jahr ging es den Pensionskassen blendend. Nun führt die Zollpolitik von US-Präsident Donald Trump zu Kursstürzen und Unsicherheiten. Müssen wir uns Sorgen machen um die Vorsorgegelder in der Schweiz?

Christine Egerszegi: Die Pensionskassen sind recht robust. Sie haben die Finanzkrise von 2008, Negativzinsen und die Covid-19-Pandemie gut überstanden. Denn sie müssen die Vorsorgegelder ja nicht auf einmal auszahlen. Mit seinen Zoll-Eskapaden schadet Donald Trump vor allem der eigenen Bevölkerung.

Rudolf Rechsteiner: In den letzten Jahren haben die Kassen einen Puffer gegen Verwerfungen am Kapitalmarkt aufgebaut. So verfügen sie heute über Wertschwankungsreserven und sind im Überobligatorium flexibel bezüglich Mindestzins und Umwandlungssatz. Dies ging allerdings hauptsächlich zulasten der Neurentner.

Das Obligatorium in der beruflichen Vorsorge ist jetzt 40 Jahre alt. Ist das BVG gut gealtert?

Egerszegi: Ich finde, ja. Wir sind damit gut durch alle Krisen gekommen. Auch weil die Pensionskassen die gesellschaftlichen Trends und die wirtschaftlichen Schwankungen in ihre Anlagestrategien miteinbezogen haben.

Rechsteiner: Das Obligatorium war eine grosse Errungenschaft: Vorher herrschte eine grosse Willkür. Frauen sowie Ausländerinnen und Ausländer waren beispielsweise vielfach nicht versichert. Mit dem Obligatorium wurde die Vorsorge vereinheitlicht und planbar. Im Jahr 1995 gelang dann mit dem Freizügigkeitsgesetz ein weiterer Sprung: Nun konnten Versicherte bei einem Stellenwechsel ihr Vorsorgekapital vollumfänglich mitnehmen. Vorher riskierte man, einen Teil des Vermögens zu verlieren. So befanden sich zum Beispiel 50- bis 60-jährige Staatsangestellte in einem goldenen Käfig, den sie bis zur Pensionierung nicht mehr verlassen konnten. Umgekehrt finanzierten etwa junge Krankenschwestern die Renten der Chefärzte: Ihre Vorsorgegelder, die beim Stellenwechsel in der Pensionskasse blieben, kamen den älteren Chefs zugute.

Sie beide haben im Jahr 2005 bei der bisher einzigen erfolgreichen BVG-Revision mitgearbeitet. Was waren damals die Errungenschaften?

Egerszegi: Wir konnten den Umwandlungssatz von 7,4 auf 6,8 Prozent senken. Um die Höhe der Renten zu sichern, haben wir den Koordinationsabzug gesenkt. Dank tieferer Eintrittsschwelle wurden mehr Teilpensen versichert. Weiter wurde die Transparenz erhöht: Vorher war weder für Arbeitnehmende noch für Arbeitgeber klar, wie eine Risikoprämie berechnet wird. Zudem befanden sich vor der Revision die zweckgebundenen Vorsorgegelder bei den Versicherern im selben Topf wie die Prämien für alle anderen Versicherungen. Mit der Forderung nach Transparenz in Bezug auf Beitragssysteme, Überschussbeteiligungen und Verwaltungskosten haben wir uns in der Versicherungsbranche viele Feinde geschaffen. Die Branche sah die zweite Säule weniger als Sozialversicherung denn als eigenen Wirtschaftsbereich.

Rechsteiner: Kommt hinzu: Die Überschüsse aus den Börsengewinnen der 1990-Jahre gingen oftmals nur an die Arbeitgeber in Form von Beitragsrabatten, die Arbeitnehmenden gingen hingegen leer aus. Zu einem Umdenken führte dann die Rentenklau-Diskussion im Zuge der Wirtschaftskrise um die Jahrtausendwende.

Reden wir über diese Überschüsse: Mit der sogenannten Legal Quote regelte das Parlament damals, in welchem Umfang die Vorsorgeeinrichtungen Überschüsse behalten dürfen. Im Nachhinein waren Sie dann trotzdem nicht zufrieden. Haben Sie nicht sauber gearbeitet?

Egerszegi: Wir wurden über den Tisch gezogen. Ich kann das nicht anders sagen. Wir waren uns einig:  Die BVG-Revision kam mit insgesamt 29 Gegenstimmen durch beide Kammern. Wir haben gesetzlich geregelt, dass die Versicherer 10 Prozent der Überschüsse behalten dürfen. Das ist die Legal Quote.

Rechsteiner: Also maximal 10 Prozent des Gewinns. Bundesrat Hans-Rudolf Merz hat das dann in der Verordnung in maximal 10 Prozent des Umsatzes uminterpretiert.

Egerszegi: Es war für alle völlig klar, dass damit der Nettoertrag und nicht der Bruttoertrag gemeint ist. Es gibt keine Branche, in der man von vornherein, also ungeachtet der Höhe der Verwaltungskosten, einfach 10 Prozent einstecken kann.

«Wir wurden über den Tisch gezogen»

Dennoch ist dies seither nicht geändert worden.

Rechsteiner: Letztlich sassen wir am kürzeren Hebel. Für mich ist das aber nach wie vor ein Verstoss gegen den Willen des Gesetzgebers. Im Gesetz steht 10 Prozent des Überschusses. Punkt.

Mit der Revision von 2005 wurde der Umwandlungssatz von 6,8 Prozent im Gesetz festgeschrieben, zuvor war er in einer Verordnung geregelt. Seither sind alle Versuche, den Umwandlungssatz anzupassen, gescheitert. War diese Verankerung im Gesetz ein Fehler?

Egerszegi: Nein. Der Druck der Versicherungsbranche war gross, den Umwandlungssatz rasch und deutlich zu senken. Den spürten die Mitglieder der Kommission, aber auch das Bundesamt für Privatversicherungen, das dieses Gesetz ausarbeitete. Deshalb bauten wir eine Sicherung gegenüber den Versicherten ein: Wenn man den Umwandlungssatz ändern will, muss man die Stimmbevölkerung überzeugen.

In den vergangenen 40 Jahren ist das verwaltete Kapital in der zweiten Säule gigantisch gewachsen – und ist inzwischen deutlich höher als das BIP. Was sagen Sie als Ökonom dazu, Herr Rechsteiner?

Rechsteiner: Die zweite Säule ist im Verhältnis zur ersten Säule derzeit zu gross. Das Deckungskapital kann in der Schweiz selbst gar nicht angelegt werden. Dass ein Grossteil im Ausland angelegt werden muss, um von Dritten verzinst zu werden, ist nicht nachhaltig. Zudem begibt man sich in die Abhängigkeit der Kapitalmärkte und der Politik von einem Mann wie Trump.

«Die zweite Säule ist im Verhältnis zur ersten Säule derzeit zu gross»

Sie möchten die erste Säule ausbauen?

Rechsteiner: Ich bin kein Gegner der zweiten Säule, aber das Verhältnis stimmt für mich derzeit nicht mehr.

Egerszegi: Ich gebe dir recht: Mehr als 1 Billion Franken kann man nicht sicher im Inland anlegen. Für mich muss der Fokus auf der Sozialversicherung – also dem Obligatorium – liegen.

Abgesehen davon: Sind Sie zufrieden mit dem, was die zweite Säule leistet?

Rechsteiner: Es kommt darauf an, welche Einkommen man betrachtet. Für die höchsten Einkommen hat die zweite Säule nicht mehr viel mit Altersvorsorge zu tun, sondern es ist ein Steuersparvehikel geworden, wo man über 900 000 Franken Einkommen versichern und sich das Geld dann als Kapital auszahlen kann. Solche Rentenansprüche dienen nicht der «Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung» laut Verfassung, sondern werden steuerfrei gespart und anschliessend vererbt. Die untersten 40 Prozent der Lohnempfänger hingegen machen kein so gutes Geschäft, da die Verwaltungskosten hier stärker ins Gewicht fallen und weil die AHV ihnen einfach viel mehr bietet, inklusive Schutz vor Teuerung.

Auffällig ist, dass die Versicherten immer häufiger das Kapital statt einer Rente beziehen. Ist das ein Problem für die zweite Säule?

Egerszegi: Ich finde, die Versicherten müssen vor allem gut informiert werden. Für viele Leute wirkt der Kapitalbezug verlockend. Allerdings sind sich viele nicht bewusst, dass sie künftig für die notwendigen Zinserträge und allfällige Hinterlassenenrenten selber verantwortlich sind.

Rechsteiner: Da fährt man mit einer Rente der Pensionskasse vermutlich günstiger: Pensionskassen arbeiten absolut professionell, mit Vermögensverwaltungskosten von 3 bis 7 Promille. Wenn ich das Kapital selber verwalte, bin ich sofort über 1 Prozent.

«Für viele Leute wirkt der Kapitalbezug verlockend»

Sollte man sich das Kapital also besser nicht auszahlen lassen?

Egerszegi: Ich bin schon für eine gewisse Freiheit, aber zumindest die Gelder im Obligatorium müssten in der Sozialversicherung bleiben.

Rechsteiner: Das wäre eine gute Formel.

Ein Grund für den Kapitalbezug sind steuerliche Vorteile. Der Bundesrat schlägt vor, diese Privilegien abzuschaffen. Sind Sie dafür?

Rechsteiner: Ja. Es geht um die Gleichbehandlung der Leistungen: Eine Rentenleistung bedeutet echte Sicherheit bis zum Lebensende. Laut Verfassung will man «die gewohnte Lebenshaltung» sichern. Das heisst: Jeder soll so viel Geld in die zweite Säule einzahlen, wie er im Alter für die Weiterführung seines gewohnten Konsumniveaus benötigt. Die Obergrenze aus AHV und BVG liegt wohl bei etwa 120 000 Franken pro Jahr, für weitere Ersparnisse haben wir die dritte Säule.

«Pensionskassen arbeiten absolut professionell»

Die Frage an Sie ist vielleicht etwas heikler. Sie sind Präsidentin der BVG-Kommission

Egerszegi: Nein, das ist für mich nicht heikel. Wir haben das in der Kommission auch traktandiert. Ich bin dagegen, dass man mit einem Sparpaket Eingriffe in sozialpolitische Gesetze macht. Finanzpolitik und Sozialpolitik sind zwei verschiedene Paar Stiefel. Einverstanden bin ich, dass Renten und Kapital gleich besteuert werden sollten.

Sie haben über die erste BVG-Revision gesprochen und gesagt, dass dort der Einfluss der Versicherungslobby sehr stark war. Ist die zweite Säule speziell lobbyanfällig, weil sie so kompliziert ist?

Rechsteiner: Es gibt mit der paritätischen Vertretung in den Vorsorgeeinrichtungen der zweiten Säule schon eine Milizstruktur, die tragfähig ist. Wir haben einige Tausend Leute in der Schweiz, die wissen, wie die Vorsorge funktioniert.

Egerszegi: Und wir haben geregelt, dass die Stiftungsrätinnen und -räte ein Grundwissen erhalten und dass sie weitergebildet werden müssen. Das ist sehr wichtig.

Stösst die sozialpartnerschaftliche Führung nicht auch an Grenzen, etwa bei den Sammeleinrichtungen? Müsste man den Sammeleinrichtungen stärker auf die Finger schauen?

Rechsteiner: Sammeleinrichtungen geben kleinen Unternehmen die Möglichkeit, kostengünstig von einer Kapitalanlage zu profitieren, die breit diversifiziert ist. Sie bieten damit eine Alternative zu den Lebensversicherungen, die vor zwei Problemen stehen: Aufgrund ihrer Solvenzvorschriften ist der Aktienanteil beschränkt – und die Rendite entsprechend tief. Und das zweite Problem ist, dass die Aktionäre des Versicherers eine Entschädigung wollen für die Rentengarantie, die sie liefern. Das heisst, es fliesst Geld aus dem System ab, das wir in einer Sammeleinrichtung im System behalten können. Deshalb wehre ich mich gegen Bestrebungen – etwa der Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge –, den Sammeleinrichtungen das Leben schwer zu machen. Zum Glück gibt es die Sammeleinrichtungen. Gerade für kleinere Unternehmen bieten sie wichtige Lösungen an.

Und doch schlucken Sammel- und Gemeinschaftseinrichtungen zusehends die kleinen firmeneigenen Kassen.

Egerszegi: Das ist ein anderes Problem. Die Pensionskasse, die ich präsidiere, ist eine Firmenkasse. Sie ist ausserordentlich gesund, aber die zunehmende Digitalisierung ist eine finanzielle Herausforderung.

Rechsteiner: Ich glaube nicht, dass man heute noch Kassen mit weniger als 1000 Mitgliedern selber führen sollte, weil einfach der Aufwand, um den Regulierungen gerecht zu werden, zu teuer wird.

Aber nochmals: Funktioniert die Sozialpartnerschaft noch in einer Sammeleinrichtung?

Rechsteiner: Selbst wenn diese Parität manchmal ein bisschen kritisch ist, so ist das Instrument als solches gut reguliert und beaufsichtigt. Es erfüllt den Zweck, den Sozialpartnern diesen Nutzen zu bringen, der im Gesetz versprochen wird.

Egerszegi: Für mich ist die paritätische Führung der Kassen wichtig. Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben gleiche Verantwortung und Ziele: gute Leistungen, kleine Prämien.

Die letzten drei Reformen der zweiten Säule wurden alle abgelehnt. Wo besteht Handlungsbedarf?

Rechsteiner: Wer Teilzeit arbeitet, ist unter Umständen nicht gut versichert – hier braucht es eine bessere Regelung. Dasselbe gilt für die kleinen Einkommen. Ich schlage daher einen proportionalen Koordinationsabzug nach Beschäftigungsgrad und eine tiefere Eintrittsschwelle vor.

Egerszegi: Einverstanden, man sollte Koordinationsabzug und Eintrittsschwelle senken. Praktisch alle Kassen im Gesundheits- und im Bildungsbereich, wo viele Frauen in kleinen Pensen arbeiten, haben dies gemacht.

Rechsteiner: Man könnte prüfen, ob man die Auffangeinrichtung zur offenen Kasse für Unternehmen bis 100 Mitarbeitende macht. Das Problem der Verwaltungskosten ist in erster Linie ein Problem der kleinen Kassen und der Digitalisierung. Mir schwebt für KMU das Angebot einer Standardsoftware vor. 

Egerszegi: Eine Lösung für die 6 Prozent der BVG-nahen Kassen zu finden, wäre tatsächlich interessant, anstatt den Umwandlungssatz zu senken für die, die das Problem gelöst haben. Wo ich auch ansetzen würde: Wir haben 56 Milliarden Franken Freizügigkeitsgelder, die nicht abgeholt worden sind. Da müsste man eine Lösung finden. Aber eine grosse Reform lässt sich nur mit den Arbeitnehmenden durchführen. Eine rein bürgerliche Zustimmung reicht im Parlament, aber nicht bei der Stimmbevölkerung. Jedes dieser einseitigen Projekte ist bisher gescheitert.

Christine Egerszegi

Die 76-jährige Aargauer FDP-Politikerin war von 1995 bis 2007 Nationalrätin und anschliessend bis 2015 Mitglied des Ständerats. In beiden Kammern wirkte sie in der Sozial- und Gesundheitskommission (SGK), in der Ständeratskommission von 2011 bis 2013 als Präsidentin. Heute präsidiert sie die BVG-Kommission und ist Stiftungsrätin der Personalvorsorgestiftung der REHA Rheinfelden. (Foto: Marcel Giebisch/BSV)

Rudolf Rechsteiner

Der 66-jährige Ökonom und SP-Politiker aus Basel war von 1995 bis 2010 im Nationalrat und dort ebenfalls in der Sozial- und Gesundheitskommission (SGK). Heute engagiert er sich unter anderem als Mitglied des Verwaltungsrats der Pensionskasse Basel-Stadt (PKBS) und als Präsident der Stiftung Ethos, die sich für verantwortungsbewusstes Investieren einsetzt. (Foto: Marcel Giebisch/BSV)

Leiter Kommunikation, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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Chefredaktor, Soziale Sicherheit (CHSS)
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