Wo beginnt und endet der Sozialstaat? Ein historischer Rückblick

Im Zuge der Industrialisierung führten viele europäische Staaten Ende des 19. Jahrhunderts Sozialversicherungssysteme ein. In der Schweiz ist die soziale Sicherheit bis heute stark privatwirtschaftlich organisiert.
Matthieu Leimgruber
  |  16. Juli 2024
    Forschung und Statistik
  • Sozialpolitik allgemein
Mit der Industrialisierung wurden die Sozialversicherungen geboren. Mitarbeiterin in einer Schweizer Verbandsstofffabrik im Jahr 1946. (Bild: Keystone)

Im Jahr 1899 veröffentlichte der sozialistische Zürcher Pastor Paul Pflüger, eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der Linken zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ein Buch mit dem Titel «Der schweizerische Sozialstaat. Eine Umschau im Jahre 1950». Darin erläuterte Pflüger seine Idealvorstellung für eine zukünftige Schweiz. Er war überzeugt, dass der Sozialstaat innerhalb der nächsten fünfzig Jahre (also bis 1950) umfassende Sozialleistungen anbieten werde, die vom Bundesstaat oder allenfalls von nicht gewinnorientierten Gegenseitigkeitsversicherungen und Genossenschaften erbracht würden.

Pflügers Schriften zeugen von ausufernden und heftigen Debatten, die damals in der Schweiz geführt wurden. Man rang um Antworten auf die sogenannte soziale Frage, nämlich die risikoreichen Auswirkungen der Lohnabhängigkeit in einer vom industriellen Kapitalismus dominierten Gesellschaft. Die Industrialisierung brachte einen noch nie da gewesenen Reichtum und ein rasantes Wachstum, aber auch zahlreiche Probleme: Nicht nur soziale Ungleichheit und Armut, sondern auch neue soziale Risiken waren entstanden, wenn infolge von Unfall, Invalidität, Krankheit oder Arbeitslosigkeit der Lohn wegfiel. Dazu kam die drängende Frage, wer für die älteren Arbeitnehmenden zuständig sei, wenn diese aufgrund ihres Alters nicht mehr arbeiten können und keinen Lohn mehr erhalten.

Weitgehend private Organisation der Sozialversicherungen

Die verschiedenen Sozialversicherungen, die im 20. Jahrhundert in der Schweiz eingeführt wurden, sollten alle diese Probleme lösen. Doch weder ihre Funktionsweise noch ihre Finanzierung entsprachen der etatistischen und solidaristischen Vision von Paul Pflüger. Natürlich erliess der Bundesstaat Gesetze, die in diesen Teilbereichen den Rahmen vorgeben und ihre Finanzierungsquellen festlegen, doch die für die Sozialversicherungen zuständigen Institutionen sind alles andere als staatlich. Da ist beispielsweise die Unfallversicherung: Obwohl die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) eine Organisation ist, die Arbeitgeber, Gewerkschaften und die Eidgenossenschaft umfasst, verbleiben doch grosse Teile der Unfallversicherung in den Händen der kommerziellen Versicherungsgesellschaften wie Zürich, AXA Winterthur, Helsana oder Generali. Letztere sind seit einem Jahrhundert, zusammen mit den von den Arbeitgebern verwalteten Pensionskassen, ebenfalls im Bereich der Altersvorsorge tätig, der heutigen zweiten Säule. Die Krankenversicherungen, die ursprünglich gemäss dem nicht kommerziellen Gegenseitigkeitsprinzip organisiert waren, gehören nun dem Sektor der Privatversicherungen an. Letztendlich sind die Arbeitslosenkassen die einzigen Institutionen, in denen die Gewerkschaften noch den Ton angeben. Die Finanzflüsse der Sozialversicherungen im Bereich der Altersvorsorge (Alters- und Hinterlassenenversicherung, AHV), der Invalidität (IV) oder des Erwerbsersatzes (EO) für Soldaten, Mütter oder von der Covid-19-Pandemie betroffene Selbstständigerwerbende laufen über die weitgehend von den Arbeitgeberorganisationen gegründeten und kontrollierten Ausgleichskassen (Eichenberger 2016).

Wir sind also meilenweit vom schweizerischen Sozialstaat entfernt, wie ihn sich Paul Pflüger 1899 vorgestellt hatte. Gemäss der Definition des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) deckt das aktuelle Sozialversicherungssystem sieben Bereiche ab: Altersvorsorge, Versicherungsschutz bei Krankheit, Invalidität und Unfall, Erwerbsausfallentschädigungen für Dienstleistende und werdende Mütter, Arbeitslosenversicherung und Familienzulagen. Es stellt die Gesamtheit der Massnahmen öffentlicher und privater Institutionen dar mit dem Ziel, Personen oder Haushalte vor sozialen Risiken zu schützen und deren Existenz zu sichern. Das ständige Ringen um die Festlegung der Grenzen zwischen Staat und Privatsektor ist somit eine Konstante in der Geschichte der Sozialpolitik. Angesichts ihrer entscheidenden Rolle in der Schweizer Politik haben die Arbeitgeberschaft und private Interessen also die soziale Sicherheit massgeblich geprägt (siehe Leimgruber 2008, sowie Eichenberger und Leimgruber 2019).

Soziale Ausgaben sind hoch, aber nicht staatlich

Das schweizerische System der sozialen Sicherheit ist ein komplexes Gefüge, das sehr viel kostet. Die Gesamtausgaben der verschiedenen Bereiche der sozialen Sicherheit sind im Verlauf des 20. Jahrhunderts stark angestiegen (siehe Abbildung). Ihr prozentualer Anteil am Bruttoinlandprodukt (BIP) hat sich seit 1925 mit jeder Generation verdoppelt, zwischen 1950 und 1975 gar verdreifacht. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich die Situation allerdings geändert: Mit Ausnahme eines Ausreissers, der sich in jüngster Vergangenheit aufgrund der über die Arbeitslosenversicherung und den Erwerbsersatz während der Corona-Pandemie ausgeschütteten Nothilfe ergab, pendelten sich die Ausgaben der Sozialversicherungen auf einem Stand von rund 20 bis 25 Prozent des BIP ein. Seit Jahrzehnten fliessen vier Fünftel dieser Ausgaben in die erste und die zweite Säule der Altersvorsorge (AHV und berufliche Vorsorge) sowie in die obligatorische Krankenpflegeversicherung.

Wer finanziert also die sozialen Ausgaben in der Schweiz? Es ist jedenfalls nicht der Staat, da die eidgenössischen Beiträge zu allen diesen Versicherungszweigen seit 1987 nur rund 14 Prozent der Gesamtausgaben ausmachen, während 13 Prozent aus Kapitalerträgen stammen – ein wesentliches Element bei der Finanzierung der zweiten Säule – und über 70 Prozent durch Lohnbeiträge finanziert werden.

Vor zwanzig Jahren machte sich Peter Hasler, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, Sorgen angesichts der hohen sozialen Ausgaben in der Schweiz. Er spielte auf eine alles verschlingende Gottheit an, als er vom «Sozialmoloch Schweiz» sprach, der einen immer grösseren Anteil des erwirtschafteten Reichtums vernichte und den Wohlstand des Landes in Gefahr bringe, würde man ihn nicht stoppen (Hasler 2004). Diese heftige Kritik eines liberalen Autors an den Exzessen des sogenannten Sozialstaats beruht auf einer überspitzten Vorstellung von sozialer Sicherheit. Die wiederholten Klagen betreffend die unerträgliche Belastung durch die sozialen Ausgaben verleugnen nicht nur die Schlüsselrolle der Sozialversicherungen bei der Eingrenzung und Abfederung des fortschreitenden Kapitalismus. Sie kehren auch die Tatsache unter den Tisch, dass wesentliche Teile der sozialen Sicherheit, wie beispielsweise die Altersvorsorge oder die Krankenversicherung, auch profitable privatwirtschaftliche Märkte sind.

Dieser Beitrag ist am 11. Juni 2024 im Magazin «Die Volkswirtschaft» erschienen. Er entspricht den dort geltenden Redaktionsrichtlinien.

Literaturverzeichnis

Eichenberger, Pierre (2016). Mainmise sur l’État social. Mobilisation patronale et caisses de compensation en Suisse (1908–1960).

Eichenberger, Pierre; Leimgruber, Matthieu (2019). Business and Social Policy Development in Switzerland, 1880–1990. Oude Nijhuis Dennie (ed.), Business Interests and the Development of the Modern Welfare State: 84–109.

Hasler, Peter (2004). Sozialpolitik im Kreuzfeuer. Diskussion grundlegender Fragen zur Zukunft. Neue Zürcher Zeitung, 18. März.

Leimgruber, Matthieu (2008). Solidarity Without the State? Business and the Shaping of the Swiss Welfare State, 1890–2000.

Professor für Geschichte der Neuzeit, Universität Zürich
[javascript protected email address]