Ein Dach über dem Kopf zu haben, unter dem man sich wohlfühlt, ist ein Grundbedürfnis. Die Versorgung mit angemessenem Wohnraum ist deshalb ein zentraler Aspekt der Existenzsicherung und ein Sozialziel in der Bundesverfassung (Art. 108 BV). Doch ist dieses für alle Bevölkerungsgruppen erreicht? Und was müsste getan werden, um die Wohnsituation für Menschen in armutsbetroffenen Haushalten und prekären Lebenslagen zu verbessern? Zur Beantwortung dieser Frage muss zunächst definiert werden, was unter angemessenem Wohnraum zu verstehen ist, und hergeleitet werden, wie die Wohnversorgung gemessen werden kann. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) und die Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) realisierten in Zusammenarbeit mit der Berner Fachhochschule (BFH) im Rahmen des Nationalen Programms gegen Armut eine entsprechende Studie.
Angemessene Wohnversorgung Ausgehend von einer umfassenden Literaturanalyse wurde ein Modell für die Beurteilung der Wohnversorgung geschaffen, das die fünf Dimensionen Wohnkosten (WK), Wohnungsgrösse (WG), Wohnungsqualität (WQ), Wohnlage (WL) und Wohnsicherheit (vgl. Grafik G1 ) berücksichtigt. Ihre Operationalisierung erfolgte auf Basis der beiden Module zu den Wohnbedingungen, die das Bundesamt für Statistik 2007 und 2012 im Rahmen der SILC (Statistics on Income and Living Conditions) zusätzlich zu den jährlich erhobenen Basisdaten ermittelt hatte. Dabei wurden für jede Dimension die Indikatoren und ihre Schwellenwerte bestimmt, nach denen die Angemessenheit der Wohnversorgung zu beurteilen war. Die Dimension Wohnsicherheit konnte nicht operationalisiert werden, da keine statistisch verwertbaren Indikatoren vorhanden waren. Entsprechend wurde diese Dimension in der quantitativen Analyse nicht berücksichtigt. Zudem mussten zur adäquaten Bewertung der Dimension Wohnlage Einschränkungen getroffen werden: Eine ungenügende Beurteilung allein der Wohnlage wurde nicht als ungenügende Wohnversorgung taxiert. Denn was unter dem Aspekt der Partizipationsmöglichkeiten (u. a. Zugang zu Kindertagesstätten, öffentlichen Verkehrsmitteln und Einkaufsmöglichkeiten) als ungünstige Wohnlage gelten kann, kann für gut situierte Haushalte ein bewusster Entscheid für mehr Abgeschiedenheit sein, die sich mit ausreichend finanziellen Mitteln für ein Auto, eine private Betreuungslösung oder ein Homeoffice gut kompensieren lässt. Demzufolge wurde festgelegt, dass die Bedingungen für das Vorliegen einer unangemessenen Wohnversorgung – Verpassen eines Mindestwerts in einer einzelnen Dimension – nur für die verbleibenden drei Dimensionen gelten.
Wohnversorgung von Haushalten in Armut und in prekären Lebenslagen In der konkreten Messung der Wohnversorgung konzentrierte sich die Studie auf die Gruppen der armutsbetroffenen Haushalte und der Haushalte in prekären Lebenslagen. Ein Haushalt gilt als arm, wenn er die Ressourcen für die Lebenshaltung nicht selbst aufbringen kann bzw. wenn das Haushaltseinkommen nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge und der Steuern unter dem sozialen Existenzminimum liegt (SKOS 2015 a). Haushalte mit Einkommen, die maximal 20 Prozent über der Armutsgrenze liegen, gelten als Haushalte in prekären Lebenslagen. Sie verfügen zwar grundsätzlich über genügend finanzielle Ressourcen, um ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten, doch kann ein einschneidendes Ereignis wie die Geburt eines Kindes oder der Verlust einer Arbeitsstelle schnell in die materielle Armut führen.
Die Messung der Wohnversorgung auf Basis des entwickelten Modells und der Daten von SILC zeigt, dass 83,5 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte und 57,1 Prozent der Haushalte in prekären Lebenslagen keine angemessene Gesamtwohnversorgung (GW) aufweisen (vgl. Tabelle T1 ). Armutsbetroffene Haushalte sind viermal, Haushalte in prekären Lebenslagen fast dreimal häufiger unangemessen wohnversorgt als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Hauptursache der ungenügenden Wohnversorgung ist die übermässige Belastung durch zu hohe Wohnkosten. 82 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte und 48,9 Prozent der Haushalte von Menschen in prekären Lebenslagen leben in einer zu teuren Wohnung. Ihre Wohnkosten übersteigen 30 Prozent des Bruttoeinkommens, ein Erfahrungswert, der sich in der Praxis als sinnvoller Grenzwert für die Beurteilung von Wohnkosten durchgesetzt hat. Eine Sensitivitätsanalyse zeigt die Bedeutung dieses Grenzwertes. Würde man diesen bei 25 Prozent des Bruttoeinkommens festlegen, hätten 90,2 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte eine übermässig starke Wohnkostenbelastung zu tragen. Würde man hingegen einen Grenzwert von 35 Prozent noch als tragbar bezeichnen, fiele der Anteil der armutsbetroffenen Haushalte mit einer zu hohen Wohnkostenbelastung auf 67,7 Prozent.
Wohnungsgrösse, Wohnungsqualität und Wohnlage sind mit abnehmender Bedeutung im Vergleich zu den Wohnkosten seltenere Gründe für eine ungenügende Wohnversorgung. Immerhin weist ein knappes Viertel der armutsbetroffenen Haushalte in zwei oder drei Wohndimensionen gleichzeitig eine ungenügende Wohnversorgung auf. 12,6 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte und 8 Prozent der Haushalte von Menschen in prekären Lebenslagen leben in zu kleinen Wohnungen: Ihnen stehen weniger als ein Wohnraum plus ein Zimmer pro Person, respektive 40 m2 für die erste Person plus 10 m2 für jede weitere Person zur Verfügung. 7,5 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte und 7 Prozent der Haushalte von Menschen in prekären Lebenslagen bewohnen Wohnraum von schlechter Qualität: Sie sind mit inakzeptabler Kälte, Wärme, Dunkelheit oder Feuchtigkeit, aber auch mit Immissionen wie Lärm oder Staub konfrontiert oder es fehlt die minimale Grundausstattung mit Bad/WC und Küche. 12,4 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte und 11,5 Prozent der Haushalte von Menschen in prekären Lebenslagen sind schliesslich in der Dimension Wohnlage ungenügend versorgt: Aufgrund ihrer angespannten finanziellen Situation können sie ihre abgelegene Wohnlage auch nicht mit privater Mobilität oder der erforderlichen Infrastruktur kompensieren.
Wohnversorgung von Risikogruppen Das Risiko, arm zu sein, ist nicht für alle Bevölkerungsgruppen gleich hoch. Aus der Armutsforschung ist bekannt, dass Einelternfamilien, Paarhaushalte mit drei und mehr Kindern, aber auch Alleinlebende oder Menschen ohne nachobligatorische Ausbildung ein erhöhtes Armutsrisiko tragen. Das Gleiche gilt für Menschen mit Migrationshintergrund und für viele Rentnerinnen und Rentner. Ein Teil der Untersuchung ging der Frage nach, wie hoch in diesen Gruppen der Anteil derjenigen ist, die in ungenügenden Wohnverhältnissen leben. Aufgrund der geringen Fallzahlen lassen sich hierzu nur Aussagen auf der Ebene der Gesamtbevölkerung und nicht eingeschränkt für die Armutsbetroffenen machen. Bei den Alleinstehenden unter 65 Jahren waren 31,2 Prozent, bei den Alleinerziehenden 37,4 Prozent nicht angemessen wohnversorgt. Die untersuchten ausländischen Haushalte 1 aus Drittstaaten wiesen mit 42,8 Prozent mehr als doppelt so oft eine ungenügende Wohnversorgung aus, wie die Schweizer Haushalte mit 17,9 Prozent: Je gut ein Fünftel der Unterversorgten litt unter beengten Wohnverhältnissen (23,0 %) oder hohen Wohnkosten (20,2 %). Womit ihr primäres Wohnversorgungsproblem anders als bei Schweizer und EU-25-Haushalten nicht bei den Kosten, sondern bei der Wohnungsgrösse liegt.
Auch die betrachteten Altersrentnerinnen und -rentner wiesen mit einem Anteil von 38,9 Prozent überdurchschnittlich häufig eine ungenügende Wohnversorgung aus; in 30,5 Prozent der Fälle waren die Wohnkosten im Verhältnis zum Einkommen zu hoch. Allerdings schliesst ein tiefes Einkommen gerade bei Rentnerhaushalten die Existenz von Vermögenswerten nicht aus. Trotzdem weisen die Resultate der vorliegenden Studie darauf hin, dass nur ein geringer Teil der Altersrentnerinnen und -rentner eine unangemessene Wohnkostenbelastung mit Vermögen zu kompensieren vermochte. Die ungenügende Wohnversorgung aufgrund zu hoher Wohnkostenbelastung sank unter Berücksichtigung des Vermögensverzehrs 2 lediglich um 3,3 Prozentpunkte.
Geografische Unterschiede und Entwicklungstendenzen Eine ungenügende Wohnversorgung ist tendenziell ein urbanes Phänomen. Armutsbetroffene Haushalte in städtischer Umgebung wiesen bis auf die Dimension der Wohnlage in den anderen drei messbaren Dimensionen schlechtere Versorgungswerte auf als Haushalte in weniger dicht besiedelten Gebieten.
Schliesslich wurde auch die Dynamik der Versorgung untersucht. Die ungenügende Wohnversorgung von Haushalten in Armut und in prekären Lebenslagen hat zwischen 2007 und 2012 insgesamt kaum zugenommen. Tendenziell verfügten 2012 etwas mehr Haushalte über genügend Wohnraum als 2007. Gleichzeitig lebten Betroffene vermehrt an einer ungünstigen Wohnlage oder bezahlten zu hohe Mieten im Vergleich zu ihrem Bruttoeinkommen, wobei die Wohnkostenbelastung insbesondere für Armutsbetroffene in städtischen Gebieten merklich zugenommen hat.
Validierung der quantitativen Resultate Die Resultate der quantitativen Analyse und die Pertinenz des Modells insgesamt wurden mithilfe von Experteninterviews validiert. Die Fachleute der Sozialhilfe und verschiedener Fachstellen im Wohnungswesen bestätigten die Resultate für die ganze Schweiz. Indem sie festhielten, dass sich die Wohnversorgung seit 2012 verschlechtert hätte, beurteilten die Experten die Versorgungsdynamik pessimistischer als es die Studienresultate nahelegen. Aufgrund fehlender Daten nach 2012 liess sich diese Einschätzung aber nicht statistisch überprüfen.
Als zweiter Kontrollschritt wurden die Resultate zur Wohnversorgung mit der subjektiven Zufriedenheit der Haushalte mit ihrer Wohnsituation verglichen. Dieser Vergleich bestätigt das Modell. Die gemäss dem Modell gut versorgten Haushalte scheinen zufriedener mit Ihrer Wohnsituation als die als ungenügend wohnversorgt geltenden Haushalte.
Durch die Kombination quantitativer und qualitativer Untersuchungen liess sich ein differenziertes Bild der Schwierigkeiten und Einflussfaktoren auf die Wohnversorgung von Haushalten in Armut und in prekären Lebenslagen gewinnen.
Hinweise zu Handlungsbedarf und Handlungsmöglichkeiten Um die Situation benachteiligter Gruppen auf dem Wohnungsmarkt zu verbessern, zeichnet sich neben der Versorgung mit günstigem Wohnraum in angemessener Grösse und Qualität die Wohnsicherheit als wichtiges Handlungsfeld ab. Dabei sei noch einmal darauf hingewiesen, dass mit dieser Studie keine quantitativen, wohl aber qualitative Erkenntnisse zur Wohnsicherheit vorliegen. Letztere legen nahe, dass armutsbetroffene und -gefährdete Menschen besonders grosse Mühe haben, eine adäquate Wohnung zu finden und diese über längere Zeit zu halten.
Die Erhöhung der Mietzinsobergrenzen in der Sozialhilfe und, wie geplant, bei den Ergänzungsleistungen (EL) ist da hilfreich, wo diese Grenzen unter den aktuellen Marktpreisen für günstige Wohnungen liegen. Eine generelle Erhöhung ist aufgrund der Gefahr, dass Vermietende günstiger oder gar mangelhafter Liegenschaften darauf mit einer Anhebung der Mieten reagieren, höchstens eine kurzfristige Lösung des Problems und würde die Wohnkostenbelastung letztlich erhöhen. Demgegenüber liesse sich das Angebot an günstigem Wohnraum mit einer verstärkten Förderung des günstigen, insbesondere des gemeinnützigen Wohnungsbaus verbessern. Dabei gilt es jedoch, die Vergabepraxis des gemeinnützigen Wohnraums zu kontrollieren. Oft, so die Meinung der Fachleute, finden armutsbetroffene Haushalte auch hier nur schwer Zugang zu den Wohnungen.
Solange bis sich der Wohnungsmarkt im Bereich des preiswerten Wohnraums nicht massgeblich entspannt, ist die Arbeit von Fachstellen der Wohnhilfe oder der Sozialhilfe unabdingbar. Um allen Haushalten mit Risikofaktoren eine (angemessene) Wohnversorgung zu ermöglichen, braucht es beispielsweise auch neue Lösungen für Haushalte mit Betreibungen, die auf verlässliche Mietzinsgarantien angewiesen sind, um die Wohnkostenbelastung nicht zu vergrössern. Hilfe und Beratung ist auch nötig, um eine Wohnung halten zu können. Die richtige Handhabe von technischen Geräten wie Waschmaschine oder Kochherd, nachbarschaftliche Umgangsformen oder das Abfallmanagement sind Grundkompetenzen, die gerade für Zugezogene aus dem Ausland oft neu sind. Zusammen mit allgemeiner Beratung und Begleitung bieten einzelne Fachstellen der Wohnhilfe und Sozialdienste Unterstützung in dieser Richtung an, doch nicht in genügendem Ausmass und nicht flächendeckend. Die Zahl entsprechender Anlaufstellen und Angebote wäre entsprechend auszubauen.
- Literatur
- Bochsler, Yann; Ehrler, Franziska; Fritschi, Tobias; Gasser, Nadja; Kehrli, Christin; Knöpfel, Carlo; Salzgeber, Renate (2015): Wohnversorgung in der Schweiz. Bestandsaufnahme über Haushalte von Menschen in Armut und in prekären Lebenslagen; [Bern: BSV]. Beiträge zur sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 15/15: www.bsv.admin.ch > Praxis > Forschung > Forschungspublikationen.
- SKOS (2015 a): Armut und Armutsgrenze, [Bern: SKOS]: www.skos.ch > Grundlagen und Positionen > Grundlagen und Studien > Grundlagendokumente.
- SKOS (2015 b): «Armut und Wohnen», in ZESO Zeitschrift für Sozialhilfe Nr. 4/15, S. 14–25.
- Bundesamt für Wohnungswesen (2000), Wohnbauten planen, beurteilen und vergleichen. Wohnungs-Bewertungs-System WBS Ausgabe 2000, Grenchen: BWO.
- 1. Haushaltstypen: Wurde ein im Haushalt lebender Erwachsener in der Schweiz geboren, gilt dieser als Schweizer Haushalt. Ohne einen solchermassen definierten schweizerischen Erwachsenen wurden die Haushalte je nach Geburtsland ihrer erwachsenen Mitglieder entweder den EU-25- oder aber den sogenannten Drittstaaten zugeteilt.
- 2. SILC erfasst den Vermögensanteil, den die Haushalte für Güter des täglichen Bedarfs aufwenden. Daraus liess sich die Anzahl jener Haushalte ermitteln, die fehlendes Einkommen mit Vermögen kompensieren können und somit nicht zu den Armutsbetroffenen zählen.