Frühe Förderung ist wirksam

Kinder aus sozial benachteiligten Familien profitieren von qualitativ ­guter früher ­Förderung. Ein neuer Leitfaden unterstützt öffentliche und private Träger­schaften und Einrichtungen bei der Konzipierung, beim Aufbau, bei der Weiterentwicklung und bei der Evaluation entsprechender Angebote.
Luzia Tinguely, Claudia Meier Magistretti, Catherine Walter-Laager, Sarah Rabhi-Sidler
  |  03. Juni 2016
    Forschung und Statistik
  • Armut
  • Familie

Frühe Förderung hat sich international als eines der wichtigsten Instrumente zur Bekämpfung von Armut und den daraus entstehenden – oft lebenslangen – Benachteiligungen von Individuen und Gruppen erwiesen. Nicht zuletzt deshalb legt das vom Bundesamt für Sozialversicherungen geleitete Nationale Programm zur Bekämpfung und Prävention von Armut einen Fokus auf frühe Förderung. Das nachfolgend besprochene Mandat identifizierte die Wirkfaktoren von Angeboten der frühen Förderung für sozial benachteiligte Kinder und deren Eltern. Darauf aufbauend wurden Good-Practice-Kriterien für die Schweiz erarbeitet und diese in Form eines Leitfadens für Fachpersonen in der Praxis aufbereitet.

Ausgehend von einer umfassenden Analyse von über 1500 international publizierten wissenschaftlichen Arbeiten wurden die wichtigsten Ergebnisse zur Wirksamkeit von Massnahmen der frühen Förderung v. a. bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien aufgeführt und zusammengefasst (Walter-Laager / Meier Magistretti 2016). Dieser Bericht diente als Ausgangspunkt für einen praxisorientierten Leitfaden (vgl. Grafik G1 ), der sich an Trägerschaften und Einrichtungen der frühen Förderung richtet und Kriterien guter Praxis für die Maternity Care 1 , die familien­ergänzende Bildung und Betreuung (wie Kitas, Spielgruppen, Tagesfamilien) sowie die Hausbesuchsprogramme bereitstellt (Meier Magistretti / Walter-Laager 2016). Dazu wurden die Ergebnisse der Literaturstudien gewichtet und es wurden drei Gruppen von Wirkfaktoren (sehr gut belegte, gut belegte und in Ansätzen belegte) der frühen Förderung unterschieden. Der Leitfaden fasst diese thematisch zusammen und verdichtet sie zu Kriterien. Expertinnen und Experten der deutschen, französischen und italienischen Schweiz diskutierten diese in drei ausführlichen Workshops mit dem Ziel, ihre Praktikabilität, Nützlichkeit, Umsetzbarkeit und Relevanz zu überprüfen und sie mit Kriterien aus der erfahrungsbegründeten Evidenz zu ergänzen. Die Expertisen wurden in den Leitfaden eingearbeitet und an einem vierten, nationalen Expertinnen- und Expertentag abschliessend diskutiert und verabschiedet.

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Voraussetzungen und Rahmenbedingungen guter Versorgung  Die frühe Förderung ist vielerorts weitgehend von (sozial-)pädagogischen Aktivitäten geprägt. Wirksame frühe Förderung erfordert aber eine umfassende, politikfeldübergreifende Praxis, welche sozial-, gesundheits-, familien- sowie bildungspolitische Aktivitäten integriert. Es braucht zudem eine kontinuierliche Reflexion und Diskussion ihrer Ziele und Ausrichtung: Bisher bestimmen Überlegungen zur Berechtigung und zum Auftrag der frühen Förderung die Fachdiskussion noch zu wenig. Ethikerinnen und Ethiker meinen, dass frühe Förderung dann förderlich – und nicht etwa normierend im Sinn gesellschaftlicher Erwartungen – ist, wenn sie sich nach den Grundsätzen der Menschen- und Kinderrechte ausrichtet und wenn sie bewirkt, dass Kinder mehr Optionen erhalten, das Leben zu gestalten und eine subjektiv befriedigende Lebensqualität zu erreichen. Eine zentrale Rolle nehmen dabei die Eltern ein. Damit sie ihre Kinder adäquat begleiten und befähigen können, müssen im Rahmen der frühen Förderung auch ihre Kompetenzen und Ressourcen gestärkt werden. Um eine allfällige Stigmatisierung zu verhindern, ist ein ressourcen-, nicht ein defizit­orientierter Ansatz zu wählen. Sozial benachteiligte Familien nutzen Angebote der frühen Förderung weniger oft als andere Familien. Sie sollten deshalb bereits im Rahmen der Maternity Care von Fachpersonen (Hebammen, Ärztinnen und Ärzten, Mütter- und Väterberatung etc.) aktiv unterstützt werden, passende Angebote zu finden und zu nutzen.

Angebotsübergreifende Good-Practice-­Kriterien  Von guten Angeboten der frühen Förderung können prinzipiell alle Familien und damit auch alle Kinder einen Nutzen für ihre Entwicklung ziehen. Besonders gross ist der Gewinn aber für Kinder, welche aus sozial benachteiligten Familien und aus bildungsfernen Milieus stammen. Ungeachtet des konkreten Angebots zeigen Studien klar, dass frühe Förderung von sehr guter Qualität sein muss, um die Entwicklung wie erwartet positiv zu beeinflussen und – dies als doch eher unerwartetes Ergebnis – um nicht schädlich zu wirken.

Für alle Kinder ist aber nach wie vor die Mutter (bzw. der Vater, soweit dazu Forschungsergebnisse vorhanden sind) für die kindliche Entwicklung zentral: Die mütterliche Erziehung erklärt am meisten Varianz in den kindlichen Outcomes. Von daher ist es eine wichtige Aufgabe der frühen Förderung, Eltern in ihrer Kompetenz zu stärken und ihre Gesundheit zu fördern. Dies kann einerseits durch die Prävention von Krankheiten geschehen, die sich besonders negativ auf die kindliche Entwicklung auswirken können (z. B. Depressionen eines Elternteils), andererseits durch eine integrierte gesundheitsförderliche Herangehensweise. Diese besteht im Wesentlichen darin, Eltern darin zu unterstützen, ihre (erzieherischen) Aufgaben als Herausforderungen zu verstehen, sie zu meistern und sich Unterstützung zu holen, wenn die eigenen Handlungsmöglichkeiten nicht ausreichen.

Wirksame Praxis in der Maternity Care  Die Zeit rund um Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und die ersten beiden Lebensjahre wird noch nicht überall umfassend als Teil der frühen Förderung verstanden. Diese erste Zeit im Leben eines Kindes ist aber zentral für dessen weitere (oft lebenslange) Entwicklung. Entsprechend wichtig ist eine qualitativ gute Versorgung von Müttern, Babys, Kleinkindern und ihren Familien. Eine allen Frauen gleichermassen zugängliche, beziehungsorientierte Schwangerschafts- und Geburtsbegleitung durch einen möglichst konstanten Kreis von Fachpersonen ist eine wesentliche Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung, jedoch noch keineswegs überall Praxis. Sie ist vielmehr geprägt durch eine einseitig medizinisch-technische Orientierung, welche sich vor allem für Frauen mit schwierigen Geburten und für ihre Kinder negativ auswirken kann. Hier könnte eine niederschwellige nachgeburtliche Begleitung aller Familien zu Hause einen grossen Nutzen bringen: Sie bewirkt nachweislich eine geringere Rate an Re-Hospitalisierungen bei Säuglingen, eine bessere Erziehungskompetenz der Eltern und eine verbesserte kindliche Verhaltensanpassung. Darüber hinaus ist es notwendig, dass Mütter von Kleinkindern mit Entwicklungsverzögerungen, chronischen Krankheiten oder anderen Beschwerden bereits dann an spezialisierte Stellen verwiesen werden, wenn ein erhöhtes Stresserleben der Mütter feststellbar ist (und beispielsweise nicht erst dann, wenn bereits eine manifeste Erkrankung vorliegt). Hebammen, Mütter- und Väterberaterinnen und weitere Fachpersonen, welche Familien in der ersten Lebenszeit eines Kindes begleiten, sollten deshalb besonders darauf achten, Anzeichen von Erschöpfung und Stress bei Müttern zu erkennen, sie ernst zu nehmen und rechtzeitig adäquate Hilfestellungen zu vermitteln.

Wirksame Praxis in der familienergänzenden Bildung und Betreuung  Der Besuch eines qualitativ hochwertigen Bildungs- und Betreuungsangebots (Kita, Spielgruppe oder Tagesfamilie) regt das Lernen sowie die Entwicklung von Kindern an. Die Hochwertigkeit ist auch hier der zentrale Punkt. Verschiedene Faktoren spielen zusammen: Eine sozial und materiell anregende Spiel- und Lernumwelt in der Einrichtung ist die Grundlage, damit Kinder vielfältige Erfahrungen sammeln können. Wesentlich ist auch der Aussenraum, der mit unterschiedlichem Gelände, Büschen und Bäumen vielfältige Bewegungsmöglichkeiten bieten soll. Hochwertige Bildungs- und Betreuungsangebote bedingen stabile Gruppen- und Betreuungskonstellationen mit einem angemessenen Betreuungsschlüssel (im Idealfall 1:3). Denn in kleineren Gruppen ist das Wohlbefinden der Klein- und Vorschulkinder höher und die Fachpersonen pflegen häufiger positive, sichere und respektvolle Beziehungen. Dieser Effekt gilt nicht nur für Säuglinge, sondern auch für Drei- bis Fünfjährige.
Gleichzeitig brauchen familienergänzende Bildungs- und Betreuungsangebote gut qualifizierte und kompetente Fachpersonen. Auch die Schulung von Tagesmüttern, bereits durch kurze Weiterbildungen erweist sich als wirksam, wenn sie (z. B. videobasierte) Schulungssequenzen beinhaltet und interaktiv gestaltet den Austausch mit anderen Tagesmüttern ermöglicht. Weiterbildungsangebote und insbesondere Coachings bewähren sich aber auch für alle Fachpersonen: Denn gut qualifizierte Betreuungspersonen bieten reichhaltigere Lernumgebungen, reagieren sensitiver auf die Kinder und sind ihnen gegenüber emotional unterstützender.
Verfügen die Fachpersonen aufgrund ihrer Beobachtungen über aktuelles Wissen zum kindlichen Lern- und Entwicklungsstand, vermögen sie die Kinder adaptiv zu unterstützen, die Spiel- und Lernerfahrungen anregungsreicher sowie vielfältiger und die Elternkontakte tragfähiger zu gestalten. Auch bei zurückhaltenden Eltern erwies sich Letzteres als vertrauensbildend. Zusätzlich ist es von Vorteil, wenn Eltern am Alltag der Institution partizipieren können. Hier bietet sich eine breite Palette von Möglichkeiten: Gespräche aller Art sowie die Öffnung der Räumlichkeiten nicht nur für die betreuten Kinder, sondern für die ganze Familie.

Kinder sollten eine angemessene Zeit in der Einrichtung verbringen. Insbesondere das Erlernen einer Zweitsprache hängt direkt mit der Anzahl Stunden zusammen, die in einer familienergänzenden Bildungs- und Betreuungsinstitution verbracht werden: Kinder, die mindestens fünf Stunden pro Woche in einer Kindertagesstätte oder Spielgruppe mit gezielter Sprachförderung verbringen, verbessern ihre Sprachkompetenz bereits messbar. Diese Verbesserung ist umso ausgeprägter, je länger die Kinder dort verweilen. Als ideal gelten 20 Stunden Aufenthalt pro Woche.

Wirksame Praxis in aufsuchenden Pro­grammen  Hausbesuchsprogramme der frühen Förderung sind dann wirksam, wenn sie sich nicht auf reine Hausbesuche beschränken, sondern mehrere Angebotsteile mit klaren Zielsetzungen umfassen. Das sind z. B. Elternbildung, Elterngruppen, Unterstützung und Beratung, Ermunterung zu unterschiedlichen Aktivitäten, Case Management und Gesundheitsförderung der Kinder sowie eine regelmässige Überprüfung der kindlichen Entwicklung. Integrierte Hausbesuchsprogramme müssen langfristig angelegt sein und von spezifisch ausgebildeten Fachpersonen (das ist vor allem für Familien mit Kindern unter 18 Monaten wichtig) durchgeführt werden: Diese begleiten die Familien in der Regel länger als ein Jahr, verfolgen auf die Familien angepasste, klare Zielsetzungen und erhalten regelmässig Reflexionsangebote in Inter- oder Supervisionen. Hausbesucherinnen und -besucher begleiten Eltern bei der Gestaltung einer altersangepassten und stimulierenden häuslichen Umgebung. Gemeinsam mit den Eltern schaffen sie respektvolle, wertschätzende, vertrauensvolle und befähigende Beziehungen und berücksichtigen – besonders bei Säuglingen und Kleinkindern – die Interaktionen zwischen Eltern und Kind. Idealerweise schaffen Hausbesuchsprogramme Brücken und unterstützen Familien darin, soziale Netze aufzubauen und zu pflegen und eine gute Integration in die Wohnumgebung (Quartier) zu finden. In aufsuchenden Programmen verfügen Fachpersonen zudem über transkulturelle Kompetenzen und arbeiten bei Bedarf mit interkulturellen Vermittlerinnen und Vermittlern zusammen.

Struktur und Nutzen des Leitfadens  Basierend auf den validierten Erkenntnissen der Literaturrecherche in den drei Untersuchungsbereichen sowie unter Einbezug wesentlicher weiterer Parameter wie Organisationsstrukturen, die Qualifikation der beteiligten Fachpersonen und die Partizipation der Eltern stellt der Leitfaden die Kriterien wirksamer Praxis zusammen (vgl. Tabelle T1). Um die kurzen Fachtexte nutzbar zu machen, stehen evidenzbasierte Kriterien mit Indikatoren zur Verfügung, die sich mit einer Checkliste überprüfen lassen. Sie sind als Anregungen an die Zielgruppen des Leitfadens formuliert und bieten ihnen Orientierung. Unter Umständen sind die angesprochenen Institutionen und Fachleute nicht immer in der Lage, ihr Angebot so zu gestalten, dass alle Indikatoren eines Kriteriums als erfüllt bewertet werden können. In diesem Falle empfehlen die Autorinnen, mithilfe realistischer Ziele kleine Veränderungen anzustreben, die eine schrittweise Annäherung an die einzelnen Indikatoren und Kriterien erlauben. Mit dem Leitfaden haben alle, die sich für eine qualitativ gute frühe Förderung einsetzen, ein wissenschaftlich validiertes Instrument in der Hand, um Angebote zu konzipieren, auf­zubauen, zu evaluieren und weiterzuentwickeln.

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  • Literatur
  • Meier Magistretti, Claudia; Walter-Laager, Catherine (2016): Kriterien wirksamer Praxis in der frühen Förderung. Evidenzbasierte Gestaltung von Angeboten der frühen Förderung mit einem speziellen Fokus auf Kinder aus sozial benachteiligten Familien. [Bern: BSV]: www.gegenarmut.ch > Vorschule und Schule > Frühe Förderung / erste Schuljahre.
  • Walter-Laager, Catherine; Meier Magistretti, Claudia (2016): Wirksamkeitsstudien zur Frühen Förderung im Überblick; [Bern: BSV]. Beiträge zur sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 6/16: www.bsv.admin.ch > Dokumentation > Publikationen > Forschungspublikationen.
  • 1. Bei der Maternity Care handelt es sich um die Begleitung und Betreuung von Familien während der Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes.
M. Sc., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Universitären Zentrum für ­Frühkindliche Bildung Fribourg (ZeFF).
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Dr. phil., Forschungsleiterin und Dozentin am Institut für Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit.
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PD Dr. phil., Bereichsleitung Frühkindliche Bildung, Schul- und Sportdepartement der Stadt Zürich.
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Lic. rer. soc., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit.
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