Im Abklärungsverfahren der IV haben medizinische Gutachten in den letzten Jahren stark an Bedeutung zugenommen. Die Weiterentwicklung der IV (WEIV) enthält mehrere Neuerungen bezüglich des Verfahrens und der medizinischen Gutachten, die häufig benötigt werden bei der Abklärung, ob jemand Anspruch auf Leistungen der IV hat.
Auf einen Blick
- Im Rahmen einer Vereinheitlichung für alle Sozialversicherungen werden die Partizipationsrechte der Versicherten und die Rolle der Durchführungsstellen bei der Abklärung der Leistungsansprüche neu auf Gesetzesstufe im Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) verankert.
- Der Handlungsbedarf bestand vor allem in der IV, weshalb die Thematik im Rahmen der WEIV angegangen wurde.
- Einheitlich geregelt wurden unter anderem die Abklärungsmassnahmen und das entsprechende Verfahren in Zusammenhang mit medizinischen Begutachtungen.
- Bei der Vergabe von Gutachtensaufträgen einigen sich die Versicherung und die versicherte Person wenn immer möglich einvernehmlich auf einen Auftragnehmer. Dadurch, dass Interviews aufgezeichnet werden, wird mehr Transparenz in die Begutachtungen gebracht.
- Um die Qualität der Begutachtungen zu beurteilen und zu sichern, wurde eine unabhängige, ausserparlamentarische Kommission geschaffen.
Ziel: Klärung offener Fragen
Medizinischen Gutachten im Rahmen des Abklärungsverfahrens der IV haben in den letzten Jahren stark an Bedeutung zugenommen. Im Rahmen von Beschwerdeverfahren ergaben sich immer mehr Verfahrensfragen, welche zu zwei Leitentscheiden des Bundesgerichts geführt haben (BGE 137 V 210 und 139 V 349).
Trotz dieser Entscheide blieben wichtige Fragen für die Praxis offen, weshalb es der Bundesrat in seiner Botschaft zur Weiterentwicklung der IV (WEIV; BBl 2017 2535) als notwendig erachtete, einige Änderungen und Ergänzungen im Bereich des Verfahrensrechts und der medizinischen Begutachtungen vorzunehmen.
Beratung der Vorlage im Parlament
Im Verfahrensbereich folgte das Parlament der Absicht des Bundesrates, das Amtsermittlungsverfahren zu stärken. Dazu werden klare Kompetenzen bei der Vergabe von Gutachtensaufträgen und gesetzliche Fristen im Verfahren eingeführt. Das Parlament wollte aber auch mehr Transparenz in der Vergabe und in der Durchführung von Gutachten. So wurde ins Gesetz aufgenommen, dass die Interviews der Sachverständigen mit der versicherten Person in Form von Tonaufnahmen zu den Akten genommen werden müssen. Die IV-Stellen wiederum müssen öffentlich zugängliche Liste führen, in denen sie über die Vergabe von Gutachten informieren werden. Die fachlichen Anforderungen für medizinische Sachverständige werden auf Stufe Verordnung geregelt und das Parlament schuf zudem die gesetzliche Grundlage für eine ausserparlamentarische Kommission, welche sich um die Qualitätssicherung im Begutachtungswesen kümmern und öffentliche Empfehlungen aussprechen soll.
Begutachtungen in die Wege leiten
Das Amtsermittlungsverfahren soll eine möglichst einfache und rasche Abwicklung von Sozialversicherungsverfahren gewährleisten. Im Rahmen der WEIV wurden die entsprechenden Partizipationsrechte der Versicherten und die Rolle sowie die Kompetenzen der Durchführungsstellen für alle Sozialversicherungen gesetzlich verankert. So legt der Versicherungsträger die Art und den Umfang der notwendigen Abklärungen fest und bestimmt damit die Art der versicherungsexternen Gutachten (Monodisziplinäre Gutachten, bidiziplinäre mit 2 Fachdisziplinen und polydisziplinäre Gutachten mit drei und mehr Fachdisziplinen). Bei mono- und bidisziplinären Gutachten liegt es in der abschliessenden Verantwortung und Kompetenz der Versicherungsträger, die Fachdisziplinen festzulegen. Bei komplexen, polydisziplinären Gutachten liegen diese bei den Gutachterstellen.
Der Versicherungsträger muss der versicherten Person die Namen der vorgesehenen Sachverständigen bekanntgeben. Der Gesetzgeber hat eine gesetzliche Frist von 10 Tagen vorgesehen, innert welcher sich die versicherte Person dazu äussern kann. Dies um Sachverständige ablehnen und Zusatzfragen in schriftlicher Form einreichen zu können. Über die Weitergabe von möglichen Zusatzfragen durch die Versicherten kann in Zukunft der Versicherungsträger abschliessend entscheiden.
Fachliche Anforderungen an Sachverständige
Zur Sicherung der Qualität von Begutachtungen hat das Parlament den Bundesrat beauftragt, die Kriterien für die Zulassung von medizinischen und neuropsychologischen Sachverständigen zu erlassen. Im fachlichen Bereich werden ein Facharzttitel, der Eintrag im Medizinalberuferegister (MedReg), eine gültige Berufsausübungsbewilligung sowie mindestens 5 Jahre klinische Erfahrung vorausgesetzt. Im versicherungsmedizinischen Bereich wird für die am meisten nachgefragten Fachdisziplinen das SIM-Zertifikat notwendig sein.
In sachlich begründeten Spezialfällen ist es möglich, von den umschriebenen Erfordernissen abzusehen. Dies hat der Bundesrat für Chefärztinnen und Chefärzte sowie leitende Ärztinnen und Ärzten von Universitätskliniken vorgesehen.
Der Zugang zu den Daten des MedReg ist über das Internet möglich und dient der Information der Öffentlichkeit. Damit ist sichergestellt, dass die Versicherten einfach und rasch überprüfen können, ob die Sachverständigen über die notwendige fachliche Aus-, Fort- und Weiterbildung verfügen. Ebenso leicht lässt sich die SIM-Zertifizierung im Internet überprüfen.
In Einzelfällen kann es vorkommen, dass eine Begutachtung in einer Fachdisziplin notwendig ist, die nur sehr selten nachgefragt wird (z.B. bei seltenen Krankheiten, Sachverständiger im Ausland). In solchen Fällen soll es möglich sein, einen Sachverständigen zu beauftragen, der zwar fachlich kompetent ist, jedoch unter Umständen nicht alle Erfordernisse gemäss Verordnung erfüllt. Im Sinne einer einvernehmlichen Begutachtung soll deshalb die versicherte Person in diesen Fällen ihre Einwilligung zu einem solchen Vorgehen geben.
Neuropsychologische Sachverständige haben die Anforderungen nach Artikel 50b der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) zu erfüllen, jedoch keine weiteren Voraussetzungen.
Erhöhung der Transparenz bei der Wahl der Sachverständigen in der IV
Die Durchführungsstellen der IV hat der Gesetzgeber dazu verpflichtet, eine öffentlich zugängliche Liste zu führen, um in der Frage der Zuteilung von Gutachtensaufträgen eine möglichst grosse Transparenz herzustellen. Diese enthält folgende Angaben:
- Angaben zu allen beauftragten Sachverständigen und Gutachterstellen, strukturiert nach Fachbereich
- Anzahl jährlich begutachteter Fälle
- Gesamtvergütung für die in Auftrag gegebenen Gutachten
- Attestierte Arbeitsunfähigkeiten in der bisherigen und in einer angepassten Tätigkeit
- Beweiskraft der Gutachten vor Gericht
Da Gutachterstellen und Sachverständige Aufträge für mehrere IV-Stellen übernehmen, wird das BSV im Sinne einer vollständigen Transparenz eine gesamtschweizerische Übersicht publizieren. Die jeweiligen Daten werden vom 1. Januar bis zum 31. Dezember erfasst und am 1. März des nachfolgenden Jahres von den IV-Stellen publiziert.
Auswahl der Sachverständigen
Es steht den Versicherungsträgern grundsätzlich frei, wie sie die Aufträge für Begutachtungen an Sachverständige oder Gutachterstellen vergeben. Dies bedeutet, dass die Versicherungsträger die Sachverständigen direkt auswählen und die Aufträge freihändig vergeben können. Der Bundesrat kann jedoch für einzelne Sozialversicherungszweige Regelungen über die Art und Weise der Vergabe von Gutachten erlassen.
Die Auftragsvergabe nach dem Zufallsprinzip neutralisiert – zusammen mit den weiteren Vorgaben nach BGE 137 V 210 (E. 2.4 237) – generelle, aus den Rahmenbedingungen des Gutachterwesens fliessende Abhängigkeits- und Befangenheitsbefürchtungen . Aus diesen Gründen werden in der IV seit 2012 die polydisziplinären Gutachten via Zufallsprinzip an die rund 30 zugelassenen Gutachterstellen verteilt.
Für den Bundesrat besteht aktuell einzig in der IV Handlungsbedarf, die Art und Weise der Vergabe von Gutachten zu regeln. Je nach Komplexität der noch offenen medizinischen Fragen benötigt die IV ein Gutachten, an dem zwei Fachdisziplinen beteiligt sind. Diese bidisziplinären Gutachten stellen höhere Anforderungen an die Sachverständigen als monodisziplinäre Gutachten, da die beiden Teilgutachten zu einer konsensorientierten Gesamteinschätzung der Auswirkungen der gesundheitlichen Einschränkungen zusammengefügt werden müssen. Zudem stehen für diese Aufträge ähnlich wie bei den polydisziplinären Gutachten nur eine beschränkte Anzahl von Sachverständigen zur Verfügung. Deshalb werden diese Gutachten in der IV fortan wie die polydisziplinären Gutachten nach dem Zufallsprinzip und nur noch an Gutachterstellen oder fixe Sachverständigenteams verteilt, die über eine Tarifvereinbarung mit der IV verfügen. Damit ist sichergestellt, dass die Vergabe von bi- und polydisziplinären Gutachtensaufträgen einheitlich nach dem Zufallsprinzip erfolgt und die IV-Stellen keinen direkten Einfluss auf die Auswahl der Sachverständigen mehr haben.
Im Rahmen einer freihändigen Vergabe eines Auftrages für eine medizinische Begutachtung bestimmt der Versicherungsträger die notwendigen Sachverständigen. Gegen diese kann die versicherte Person Ausstandgründe und auch sonstige Einwände geltend machen. Liegen solche vor, so haben die Versicherungsträger diese zu prüfen und wenn immer möglich im Rahmen eines Einigungsversuches eine einvernehmliche Bestimmung der Sachverständigen zu erreichen. Der Einigungsversuch kann mündlich oder schriftlich erfolgen und ist in den Akten zu dokumentieren. Dieser kommt in der IV nur bei monodisziplinären Gutachten zur Anwendung.
Das aufgezeigte Verfahren wird in Kombination mit den anderen im Gesetz vorgesehenen Massnahmen, wie zum Beispiel die von den IV-Stellen publizierte Liste der Sachverständigen und die fachlichen Mindestanforderungen an die Sachverständigen eine transparentere und verständlichere Wahl der Sachverständigen ermöglichen (Vgl. dazu «Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung», Expertenbericht vom 10.8.2020 im Auftrag des Eidgenössischen Departement des Innern (EDI)).
Tonaufnahme des Interviews
Der Gesetzgeber verlangt, dass die Interviews der Sachverständigen mit den Versicherten mit Tonaufnahmen aufgezeichnet werden. Im Zusammenhang mit der Einführung dieser Neuerung kann das nachfolgende Zitat aus dem Parlament von Interesse sein, gibt es doch Hinweise auf die Beweggründe dafür: «Heute ergeben sich ja häufig langwierige Konflikte und Rechtsstreitigkeiten über die Frage, worüber denn bei der Begutachtung ganz genau gesprochen wurde. Eine Aufzeichnung der Gespräche, wie wir sie vorschlagen, schafft Klarheit und schützt eben auf beiden Seiten. Es ist also nicht nur im Interesse der Versicherten – die damit vor falschen Angaben, die allenfalls im Gutachten genannt werden, oder vor Angaben, bei denen sie das Gefühl haben, sie seien falsch, geschützt werden –, sondern es schützt auch die Gutachterinnen und Gutachter» (SR Bruderer Wyss, Herbstsession 2019).
Der Begriff «Interview» wird im Gesetz eingeführt, aber nicht weiter definiert. In der Verordnung wird deshalb ausgeführt, dass unter einem Interview die Anamneseerhebung und die Beschwerdeschilderung durch die versicherte Person verstanden wird (diese beiden Begriffe beziehen sich auf die für medizinische Gutachten in der IV bereits verwendete Gliederung). Die persönlichen Schilderungen und Aussagen der versicherten Person stehen im Vordergrund. Die Tonaufnahme soll sicherstellen, dass die Aussagen der versicherten Person korrekt erfasst und vom Sachverständigen im Bericht entsprechend wiedergegeben werden.
Die versicherte Person wird von den Versicherungsträgern über die Tonaufnahme, deren Zweck und auch über die Möglichkeit eines Verzichts informiert. Möchte die versicherte Person auf die Tonaufnahme des Interviews verzichten, so hat sie dies gegenüber dem Versicherungsträger schriftlich zu bestätigen. Der Verzicht darf nur gegenüber dem Versicherungsträger erklärt werden, womit verhindert wird, dass sich die versicherte Person in ihrer Wahl durch die oder den Sachverständigen beeinflusst fühlt.
Damit die erhöhte Sorgfaltspflicht im Umgang mit diesen besonders schützenswerten Daten eingehalten wird, kann die Tonaufnahme nur auf Verlangen der versicherten Person im Rahmen des Verwaltungsverfahrens, im Einsprache- sowie Vorbescheidverfahren, der Revision und der Wiedererwägung, im kantonalen Beschwerdeverfahren und im Verfahren vor Bundesgericht abgehört werden. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die Tonaufnahme nur im Streitfall abgehört wird und zwar nur von der versicherten Person selbst, dem Versicherungsträger, der das Gutachten in Auftrag gegeben hat, und von den Gerichten (kantonale Sozialversicherungsgerichte, Bundesverwaltungsgericht, Bundesgericht), die im Beschwerdeverfahren zuständig sind. Beschwerdelegitimierte Dritte dürfen die Tonaufnahme nicht anhören. Im Falle eines Akteneinsichtsgesuches wird die Tonaufnahme nicht mitgeschickt, auch wenn ein anderer Versicherungsträger die Akten verlangt. Bleibt das Gutachten unbestritten, so bleiben auch die Tonaufnahmen unbenutzt und damit auch geschützt vor der Anhörung durch Dritte.
Qualität der Gutachten
Bis anhin gab es in der Schweiz keine unabhängige Institution, die sich mit Fragen der Qualität und der Qualitätssicherung in der versicherungsmedizinischen Begutachtung beschäftigt. Entsprechend gibt es bis heute keine verbindlichen Anforderungen und Qualitätsvorgaben an die Erstellung von medizinischen Gutachten und auch keine verbindlichen Kriterien und Instrumente für die Beurteilung der Qualität von Gutachten.
Das Parlament hat den Bundesrat beauftragt, eine ausserparlamentarische Kommission für diese Thematik einzusetzen. Diese Kommission beschäftigt sich mit Fragen der Versicherungsmedizin, der Begutachtung und natürlich der Qualität von Gutachten. Sie setzt sich aus einem Präsidium und 12 Mitgliedern zusammen, welche die Sozialversicherungen, die Patienten- und Behindertenorganisationen, die Ärztinnen und Ärzte, die Gutachterstellen, die Neuropsychologinnen und Neuropsychologen und die Wissenschaft vertreten. Die Kommission wurde vom Bundesrat im November 2021 offiziell eingesetzt und Herr Professor Dr. Michael Liebrenz zu ihrem ersten Präsidenten gewählt.
Die Kommission wird in folgenden Themenbereichen öffentliche Empfehlungen aussprechen:
- Anforderungskriterien und Qualitätsvorgaben für das Verfahren zur Erstellung von Gutachten (Prozessqualität);
- Kriterien für die Tätigkeit sowie die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Sachverständigen (Strukturqualität);
- Kriterien für die Zulassung von Gutachterstellen und deren Tätigkeit (Strukturqualität);
- Kriterien und Instrumente für die Beurteilung der Qualität von Gutachten (Qualitätsüberprüfung);
- Einhaltung der Kriterien durch die Sachverständigen und Gutachterstellen (Qualitätsüberprüfung).