Auf einen Blick
- Im Jahr 2019 wurde das Ausländer- und Integrationsgesetz verschärft.
- Allfällige ausländerrechtliche Konsequenzen halten Migrantinnen und Migranten davon ab, ihren Anspruch auf Sozialhilfe geltend zu machen.
- Die Verschränkung von Sozialhilfebezug und Migrationsrecht droht das Vertrauen der ausländischen Bevölkerung in die staatliche Unterstützung zu schmälern.
Sozialhilfe ist für viele Menschen in der Schweiz das letzte Auffangnetz. Und zwar dann, wenn sie keine Erwerbstätigkeit finden, ihr Vermögen aufgebraucht ist und allfällige Sozialversicherungsleistungen (insbesondere der Arbeitslosenversicherung, der Invalidenversicherung oder der AHV) nicht ausreichen, um den Lebensunterhalt zu sichern.
Die Sozialhilfe ist kantonal geregelt – es gibt kein Bundesgesetz, das vorschreibt, wie die Sozialhilfe ausgestaltet sein muss. Für die Berechnung der Sozialhilfe hat die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) Richtlinien veröffentlicht. Diese legen unter anderem fest, welche Massnahmen die berufliche und soziale Integration von Personen, die Sozialhilfe beziehen, unterstützen sollen. Die SKOS-Richtlinien gelten in der schweizerischen Sozialpolitik und in der Gerichtspraxis als verbindliche Richtgrösse. Allerdings können die Kantone von diesen Empfehlungen abweichen oder nur Teile davon anwenden.
Entsprechend bestehen zwischen den Kantonen Unterschiede in Bezug auf die Höhe der Sozialhilfe oder auch der Rückerstattungspflicht. Denn Sozialhilfegelder müssen in der Schweiz, im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland oder Österreich, in bestimmten Fällen zurückbezahlt werden.
Ausländerrechtliche Konsequenzen
Für ausländische Personen kann der Sozialhilfebezug Folgen haben: So muss, wer die Schweizer Staatsbürgerschaft erhalten will, die während der letzten drei Jahre bezogene Sozialhilfe zurückerstatten (Art. 7 Abs. 3 BüV). Zudem können die zuständigen Behörden sowohl die Aufenthalts- als auch die Niederlassungsbewilligung aufgrund von Sozialhilfebezug entziehen oder deren Verlängerung ablehnen.
Verschärft hat sich die Situation mit dem Inkrafttreten des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) im Jahr 2019. Seither sind ausländische Personen mit einer Niederlassungsbewilligung und einer Aufenthaltsdauer von mindestens 15 Jahren nicht mehr vor einem Bewilligungsentzug bei Sozialhilfebezug geschützt.
Ausserdem müssen die Sozialdienste den Sozialhilfebezug einer ausländischen Person den zuständigen Migrationsbehörden unaufgefordert melden. Diese Verschränkung von Migrationsrecht und Sozialhilfebezug gelangt zunehmend in den Fokus der Forschung. Sie war auch Gegenstand eines abgeschlossenen Forschungsprojektes im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunktes NCCR – on the move, der Themen rund um Migration und Mobilität erforscht.
Die Studienergebnisse zeigen, dass Migrationsämter teilweise die Aufgaben von Sozialdiensten übernehmen, etwa wenn sie die ausländische Person mit der Androhung des Entzugs der Aufenthaltsbewilligung für den Arbeitsmarkt «aktivieren». Umgekehrt übernehmen die Sozialdienste Aufgaben der Migrationskontrolle, wenn sie die «Integration» der Sozialhilfebeziehenden im Dienst von migrationsrechtlichen Entscheiden kontrollieren und bewerten. Sie fungieren hier sozusagen als verlängerter Arm der Migrationsbehörden.
Schwindendes Vertrauen
Die Verschränkung von Migrationsrecht und Sozialhilfebezug kann dazu führen, dass armutsbetroffene Migrantinnen und Migranten das ihnen zustehende Recht auf Sozialhilfe nicht in Anspruch nehmen. Verschiedene Studien, die insbesondere auf Befragungen unter Fachpersonen im Sozialbereich basieren, weisen klar darauf hin, dass Migrantinnen und Migranten aus Angst vor ausländerrechtlichen Konsequenzen nicht wagen, ihr Recht auf Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, und dass in der Schweiz generell Unsicherheiten in Bezug auf ausländerrechtliche Konsequenzen eines Sozialhilfebezugs zugenommen haben (Guggisberg und Gfeller 2022; Meier et al. 2021; Hümbelin et al. 2023). Dabei wird nicht nur seitens der Sozialdienste, sondern selbst aus sehr niederschwelligen staatlichen Unterstützungsangeboten wie etwa der Mütter- und Väterberatung berichtet, wie ausländische Personen vermehrt darauf bedacht seien, nicht aufzufallen – aus Angst, ins Visier der Migrationsbehörden zu gelangen.
Solche Ängste mögen übertrieben scheinen. Sie werden aber durch die uneinheitliche Praxis der kantonalen Migrationsbehörden genährt. Derzeit fehlt es an repräsentativen Daten, die zeigen, welche Gründe im Einzelfall für den Entzug einer Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung ausschlaggebend waren (Meier et al. 2021). Die vorhandenen Befunde und Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Verschärfungen im Kontext des neuen Ausländer- und Integrationsgesetzes das Vertrauen der Migrationsbevölkerung in staatliche Unterstützung empfindlich geschwächt haben.
Ungenügende soziale Sicherung
In dieses Bild passt auch das Verhalten der ausländischen Wohnbevölkerung während der COVID-19-Pandemie: Ausländische Personen – auch solche, die schon seit vielen Jahren in der Schweiz leben und über eine Niederlassungsbewilligung verfügen – wandten sich aus Angst vor ausländerrechtlichen Konsequenzen selbst in ausgeprägten Notlagen nicht an die Sozialdienste. Im Dilemma zwischen drohender finanzieller Prekarisierung einerseits und der Prekarisierung des Aufenthaltsrechts andererseits gewichteten viele die Sorge um das Bleiberecht in der Schweiz offensichtlich höher.
Statt an staatliche Stellen zu gelangen, suchten Personen in Notlagen vermehrt Kirchen und Nichtregierungsorganisationen für beraterische, finanzielle und materielle Unterstützung auf (Götzö et al. 2022). Diese nicht staatlichen Akteure konnten jedoch meist nicht alle Bedarfe im Sinne einer nachhaltigen Stabilisierung abdecken. Als mögliche längerfristige Folgen der ungenügenden sozialen Sicherung nennen Fachpersonen unter anderem finanzielle Verschuldung oder psychische Probleme.
Armut ist kein Verbrechen
Im Juni 2023 hat das Parlament die parlamentarische Initiative «Armut ist kein Verbrechen» der SP-Nationalrätin Samira Marti angenommen. Demnach darf, wer seit zehn Jahren rechtmässig in der Schweiz wohnhaft ist und über eine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung verfügt, die Aufenthaltsberechtigung aufgrund von Sozialhilfe nicht mehr verlieren. Derzeit arbeitet die Staatspolitische Kommission des Nationalrats einen Gesetzesentwurf aus.
Die durch die Motion in Aussicht gestellten Änderungen der gesetzlichen Grundlage sind ein erster wichtiger Schritt, damit ausländische Personen ihr Recht auf soziale Sicherung ohne ausländerrechtliche Konsequenzen geltend machen können und ihr Vertrauen in staatliche Institutionen zurückgewinnen. Längerfristig wird aber nur eine vollständige Entkoppelung von Sozialhilfebezug und Aufenthaltsberechtigung garantieren können, dass für alle in der Schweiz lebenden armutsbetroffenen Menschen der Zugang zur verfassungsmässig garantierten Unterstützung in Notlagen gleichermassen gegeben ist.
Literaturverzeichnis
Götzö, Monika; Herzig, Michael; Mey, Eva; Adili, Kushtrim; Brüesch, Nina; Hausherr, Mirjam (2021). Datenerhebung pandemiebedingte, kostenlose Mahlzeiten-, Lebensmittel- und Gutscheinabgaben in der Stadt Zürich. ZHAW.
Guggisberg, Jürg; Gerber, Celine (2022). Nichtbezug von Sozialhilfe bei Ausländer/-innen mit Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung in der Schweiz. Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS.
Hümbelin, Oliver; Elsener, Nadine; Lehmann, Olivier (2023). Nichtbezug von Sozialhilfe in der Stadt Basel, 2016 – 2020. Bericht zuhanden der Sozialhilfe Basel-Stadt. Version vom 29. August.
Meier, Gisela; Mey, Eva; Strohmeier Navarro Smith, Rahel (2021). Nichtbezug von Sozialhilfe in der Migrationsbevölkerung. 27. August.