Wie lässt sich der Nichtbezug von Sozialleistungen bekämpfen?

Viele Menschen beziehen Sozialleistungen nicht, obwohl sie ihnen zustehen. Effektive Ansätze setzen auf proaktive, lokal angepasste Massnahmen. Eine entscheidende Rolle spielen auch die sozialpolitischen Rahmenbedingungen auf Kantons- und Bundesebene.
Max Lovey
  |  13. März 2025
    Forschung und Statistik
  • Armut
  • Sozialhilfe
Erfolgsversprechend ist das Konzept der Kontaktaufnahme («reaching out»), das auch Hausbesuche einschliesst. (Alamy)

Auf einen Blick

  • Ursachen für den Nichtbezug von Sozialleistungen sind insbesondere mangelnde Informationen, Stigmatisierung und administrative Hürden.
  • Immer häufiger werden Massnahmen ergriffen, um Gegensteuer zu geben.
  • Das Konzept der Kontaktaufnahme, bei denen die Zielgruppe aktiv angesprochen und auf sie zugegangen wird, hat sich besonders bewährt, um die Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu verbessern.
  • Die Wirksamkeit der Massnahmen zur Bekämpfung des Nichtbezugs ist jedoch von den Modalitäten der Sozialpolitik abhängig, die damit zugänglicher gemacht werden soll.

Der Begriff des Nichtbezugs bezeichnet gemeinhin eine Situation, in der eine Person eine Sozialleistung nicht erhält, obwohl sie Anspruch darauf hätte. Zunächst wurde der Begriff von der Forschung geprägt, die sich mit dem Ausmass und den Ursachen des Nichtbezugs befasste. Im Laufe des letzten Jahrzehnts fand der Ausdruck dann allmählich Eingang in die Sozialarbeit und die Sozialpolitik. In Bezug auf das Ausmass des Nichtbezugs gehen Schätzungen in verschiedenen europäischen Ländern davon aus, dass rund 30 Prozent der Anspruchsberechtigten soziale Mindestleistungen nicht in Anspruch nehmen, obwohl sie dazu berechtigt wären (Marc et al. 2022). Die wenigen in der Schweiz durchgeführten Erhebungen – die erforderlichen Daten sind schwer zugänglich – förderten ähnliche Werte zutage. Sie ergaben eine Quote des Nichtbezugs von Sozialhilfe von 26,3 Prozent im Kanton Bern (Hümbelin et al. 2019), 31 Prozent im Kanton Basel-Stadt (Hümbelin et al., 2021) und 23 Prozent im Kanton Wallis (Rosset et al. 2024).

Mehr öffentliche Massnahmen

Die Forschung macht drei Hauptursachen für den Nichtbezug verantwortlich (Janssens and van Mechelen 2022):

  • mangelnde Information,
  • Stigmatisierung im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Hilfe
  • sowie administrative Hürden, auf die potenzielle Bezügerinnen und Bezüger stossen.

Diese Erkenntnis führte dazu, dass die politischen Akteurinnen und Akteure den Nichtbezug zunehmend als öffentliches Problem betrachteten, das es anzugehen gilt. Entsprechend wurden verschiedene konkrete Massnahmen zur Bekämpfung eingeführt.

In meiner Doktorarbeit (Lovey 2024) habe ich mich mit den unterschiedlichen Arten von Massnahmen zur Förderung des Zugangs zu Leistungen befasst. Gestützt auf qualitative Interviews untersuchte ich, wie diese die Dynamiken des (Nicht-)Bezugs und die Beziehung potenzieller Nutzerinnen und Nutzer zu den angebotenen öffentlichen Dienstleistungen beeinflussen.

Die Massnahmen können grob zwei Konzepten zugeordnet werden: Zum einen dem Konzept Zugänglichkeit («inviting in») und zum anderen dem Konzept der Kontaktaufnahme («reaching out») (Mazé et Rode 2019).

Zur Zugänglichkeit zählen Massnahmen, die darauf abzielen, die Leistungen zugänglicher zu machen, typischerweise indem die notwendigen administrativen Schritte vereinfacht oder verringert oder die Anspruchskriterien klarer und transparenter dargelegt werden. Beim Konzept der Kontaktaufnahme werden die potenziellen Anspruchsberechtigten direkt aufgesucht, um sie zu informieren und im Antragsverfahren zu begleiten. Damit wird der «Schalterlogik» entgegengewirkt, die bei der Inanspruchnahme von Sozialleistungen üblich ist. Im Gegensatz zu den Massnahmen der Zugänglichkeit, die eher auf der Ebene der Modalitäten oder der Verwaltung der Sozialpolitik angesiedelt sind, liegen Massnahmen der Kontaktaufnahme eher in den Händen der sozialen Dienste vor Ort, die als Bindeglied zwischen der Bevölkerung und der Sozialpolitik fungieren.

Erfolgsversprechende Kontaktaufnahme

Das in der Genfer Gemeinde Vernier eingeführte System veranschaulicht die positiven Aspekte des Konzeptes der Kontaktaufnahme Das Angebot richtet sich spezifisch an Seniorinnen und Senioren. Dafür nimmt der Sozialdienst systematisch schriftlich und telefonisch Kontakt mit allen in der Gemeinde wohnhaften Personen ab 75 Jahren auf, um ihnen eine administrative Begleitung zu Hause anzubieten und sie insbesondere auf ihre möglichen Ansprüche hinzuweisen. Personen ab 65 Jahren können das Angebot ebenfalls nutzen, wenn sie von einer nahestehenden Person oder einer Fachperson des medizinisch-sozialen Netzwerks weiterverwiesen werden oder sich von sich aus an die Sozialdienste wenden. Die administrative Begleitung findet dann entweder in regelmässigen Abständen oder punktuell auf Anfrage der betreffenden Person statt.

Aus den Gesprächen mit der Zielgruppe geht hervor, dass mit diesem proaktiven Ansatz nicht nur die fehlenden Informationen und die administrativen Hürden als Gründe für den Nichtbezug behoben werden, sondern dass damit auch das Stigma im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme einer öffentlichen Hilfe in den Hintergrund rückt. Den aufgesuchten Personen wird die Last der Antragstellung abgenommen. Ihnen wird eine Unterstützung angeboten, um die sie nicht ersucht haben und die sie nur anzunehmen brauchen. Die Sozialdienste, die als Inbegriff des Staates wahrgenommen werden, bieten eine Leistung an und geben den potenziellen Empfängerinnen und Empfängern damit explizit zu verstehen, dass es legitim ist, diese Leistung auch in Anspruch zu nehmen, im Sinne von: «Wenn es mir schon angeboten wird, dann habe ich wohl ein Recht darauf».

Was den Aspekt der Begleitung und Unterstützung zu Hause angeht, belegen die Aussagen der Beteiligten, dass damit ein informellerer und horizontaler Kontakt entsteht, der am Schalter einer Sozialbehörde normalerweise so nicht zustande kommt. Das stärkt das Vertrauen in die Behörden und deren Mitarbeitende. Ein Auszug aus dem Gespräch mit einer 70-jährigen Frau, die in den 90er-Jahren in die Schweiz flüchtete, zeigt, wie sie dank der Beziehung zur Sozialarbeiterin der Gemeinde Vernier wieder Vertrauen in den Staat gewonnen hat, nachdem sie in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht hatte:

«Wir wollten nicht um Sozialhilfe bitten. Der Antrag ist nicht das Problem, aber wenn man unabhängig ist, hat man sein Leben im Griff und will nicht zur Sozialarbeiterin gehen, denn dann muss man alles erzählen, […] sie wollen alles wissen und manchmal ist das unangenehm […]. Dann gibt es Sozialarbeitende, die sind wirklich gemein. Zu Beginn, als wir hier ankamen, hatten wir eine Sozialarbeiterin, die war wirklich sehr mühsam. Sie meinte, wir wären reich […] und würden eigentlich keine Sozialhilfe brauchen. […] » (70-jährige Schweizerin)

Anschliessend erzählt die Frau, wie die Sozialarbeiterin, die sie heute in administrativen Belangen begleitet, mit ihrer informellen Haltung ihr Vertrauen wiedererlangt und ihr ermöglicht hat, ihre Rechte besser wahrzunehmen:

«Wenn ich mit dieser Frau Kontakt habe, ist sie wirklich sehr nett […]. Sie sieht den Leuten an, ob sie Hilfe benötigen. […] Ich rede zum Beispiel viel mit ihr. […] Sie kommt nur für die Rechnungen, aber wir reden immer über alles Mögliche.» (70-jährige Schweizerin)

Ein Besuch bei der Person zu Hause ermöglicht zudem einen objektiven Einblick in die materielle Situation, der dann der allfälligen Aussage der Person, dass sie keine Unterstützung braucht, gegenübergestellt werden kann. Mit der informellen Begleitung zu Hause kann der erklärte Wunsch nach Unabhängigkeit von jeglicher Art von Hilfe thematisiert werden. Manchmal stellt sich dabei heraus, dass dies eher Ausdruck einer Anpassung an die sozialen Normen ist, als eine eigene Präferenz.

Mehrere Massnahmen nötig

Massnahmen zur Bekämpfung des Nichtbezugs, die auf einer Logik der direkten Kontaktaufnahme gründen und eine individuelle Begleitung, vor allem zu Hause vorsehen, erweisen sich folglich als besonders wirksam, um die drei grössten Hindernisse bei der Inanspruchnahme von Leistungen abzubauen, das heisst mangelnde Information, administrative Komplexität und die Stigmatisierung im Zusammenhang mit der Bitte um Unterstützung.

Dennoch hängt die Wirksamkeit solcher Massnahmen stark von den Modalitäten der Sozialleistungen ab, die dadurch zugänglicher gemacht werden sollen. So ist die Bereitschaft der betroffenen Leistungserbringenden zur Erhöhung der Bezugsquote von Sozialleistungen jedoch noch lange nicht gesichert. Aus Gesprächen mit Sachbearbeitenden und Leitenden der Genfer Stelle für Ergänzungsleistungen geht beispielsweise hervor, dass der Bekämpfung von missbräuchlichem Leistungsbezug weiterhin höhere Priorität eingeräumt wird als dem Nichtbezug.

Dieser Fokus auf die Verhinderung von Missbrauch und Betrug beeinflusst die Komplexität der erforderlichen Schritte für den Zugang zu Ergänzungsleistungen. Das wirkt sich auch auf die Mittel aus, die auf lokaler Ebene gegen den Nichtbezug von Leistungen eingesetzt werden müssen. Nicht jede Gemeinde ist in der Lage oder gewillt, die notwendigen Ressourcen bereitzustellen, um ein System wie das oben beschriebene einzurichten; damit stellt sich die Frage der territorialen Gerechtigkeit innerhalb eines Kantons, in dem alle Einwohnerinnen und Einwohner die gleichen formellen Rechte haben.

Obwohl die auf lokaler Ebene eingeführten Ansätze die erwähnten positiven Effekte haben können, würden die Massnahmen gegen den Nichtbezug insgesamt an Wirkung gewinnen, wenn sie auf den verschiedenen institutionellen Ebenen kohärent durchdacht und abgestimmt würden. Das Konzept der direkten Kontaktaufnahme auf lokaler öffentlicher Ebene könnte den Nichtbezug noch wirksamer angehen, wenn gleichzeitig die Zugänglichkeit zu Sozialleistungen des Bundes und der Kantone (Vereinfachung, Harmonisierung) ausgebaut würde.

Literaturverzeichnis

Eurofound (2015). Access to social benefits : Reducing non-take-up. Publications Office of the European Union.

Hümbelin, O. (2019). Non-Take-Up of Social Assistance : Regional Differences and the Role of Social Norms. Schweizerische Zeitschrift für Soziologie. Revue suisse de sociologie, 45, 7–35.

Hümbelin, O.; Richard, T.; Schuwey, C.; Luchsinger, L.; Fluder, R. (2021). Nichtbezug von bedarfsabhängigen Sozialleistungen im Kanton Basel-Stadt.

Janssens, J.; Van Mechelen, N. (2022). To take or not to take? An overview of the factors contributing to the non-take-up of public provisions. European Journal of Social Security, 24(2), 95–116.

Lovey, M. (2024, unpublished). Du droit formel au droit réel : le non-recours et les actions pour le réduire au prisme des capabilités. Doctoral Thesis.

Marc, C. ; Portela, M. ; Cyrine, H. ; Le Gall, R. ; Rode, A.; Laguérodie, S. (2022). Quantifier le non-recours aux minima sociaux en Europe : Un phénomène d’ampleur qui peine à susciter le débat. Les dossiers de la DREES, 94, 64.

Mazé, A.; Rode, A. (2019). Adapter l’aide et l’action sociales des collectivités territoriales. In P. Warin (Éd.), Agir contre le non-recours aux droits sociaux : Scènes et enjeux politiques.

Post-Doktorand, Institut für Demografie und Sozioökonomie, Universität Genf
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