Auf einen Blick
- Das «Nationale Armutsmonitoring» arbeitet den Wissensstand zur Armut in der Schweiz auf – im November 2025 ist der erste Bericht des Bundesrats erschienen.
- Das Monitoring hat ein multidimensionales Armutsverständnis und vertieft im ersten Bericht die Lebensbereiche Bildung, Erwerbsarbeit sowie materielle Existenzsicherung.
- Das Ziel des Bundesrats, die Armutsquote von derzeit rund 8 Prozent zu senken, wurde in den letzten Jahren verfehlt.
Im November 2025 hat der Bundesrat den ersten Bericht des «Nationalen Armutsmonitorings» veröffentlicht (Bundesrat 2025). Das Nationale Armutsmonitoring arbeitet den Wissensstand zur Armut in der Schweiz auf. Es beschreibt die Armutssituation und bildet die relevanten Akteure und Massnahmen zur Armutsprävention und -bekämpfung ab. Der erste Bericht gliedert sich in vier umfassende Einzelhefte – ein Grundlagenheft und drei Schwerpunkthefte zu Bildung, Erwerbsarbeit und materieller Existenzsicherung. Sie sind als Nachschlagewerk zur Armut in der Schweiz konzipiert. Zusätzlich fasst ein Syntheseheft zentrale Erkenntnisse des ersten Berichts zusammen.
Zentrale Datenbasis des ersten Berichts bildet die Erhebung über Einkommen und Lebensbedingungen (SILC) des Bundesamts für Statistik (BFS). Hinzu kommen Auswertungen weiterer Datenquellen sowie Ergebnisse aus begleitenden Forschungsberichten zur Armut in der Schweiz. Die Materialien aus den begleitenden Forschungsberichten wurden im Bericht verarbeitet und werden auf der Website Armutsmonitoring.ch publiziert.
Armut ist mehr als fehlendes Geld
Bei der Armutsmessung knüpft das Monitoring an bestehende Konzepte des Bundesamts für Statistik (BFS) an. Als einkommensarm gilt, wer mit dem verfügbaren Haushaltseinkommen – nach Berücksichtigung aller Einkünfte und Sozialleistungen – unter dem sozialen Existenzminimum nach SKOS-Richtlinien liegt. Das Monitoring erweitert diesen finanziellen Armutsbegriff, denn Armut bedeutet mehr als fehlendes Geld. Porträts von Betroffenen in den Schwerpunktheften zeigen, dass entscheidend ist, welche Möglichkeiten Menschen haben, ein selbstbestimmtes und sinnerfülltes Leben zu führen. Berechnungen der Oxford Poverty and Human Development Initiative (OPHI) bestätigen: Über 80 Prozent der einkommensarmen Personen in der Schweiz sind in mindestens in einer weiteren Lebensdimension eingeschränkt.
Das Nationale Armutsmonitoring folgt deshalb einem multidimensionalen Armutsverständnis und nimmt Auswirkungen und Wechselwirkungen mit weiteren Lebensbereichen in den Blick (siehe Abbildung). Neben der finanziellen Situation werden die Lebensbereiche Bildung, Erwerbsarbeit, Gesundheit, Wohnen, soziale Beziehungen und politische Teilhabe einbezogen. Im ersten Bericht wurden die Dimensionen Bildung, Erwerbsarbeit und materielle Existenzsicherung vertieft analysiert; die übrigen folgen in den nächsten Zyklen.
Armutsquote nicht gesunken
Die Quote der Einkommensarmut liegt seit 2017 stabil bei etwa 8 Prozent (siehe Grafik). Das Ziel, Armut zu reduzieren, wurde bislang nicht erreicht – obwohl sich die Schweiz im Rahmen der Agenda
Die Armutsgrenze vermittelt den Eindruck einer klaren Trennlinie zwischen einkommensarmen und nicht einkommensarmen Haushalten. Tatsächlich kann sich der statistische Status bereits durch geringe Veränderungen im Haushaltseinkommen verschieben. Die Analysen zeigen, dass relativ viele Menschen im unmittelbaren Umfeld der Armutsgrenze leben. Dabei zeigt sich, dass eine Erhöhung des sozialen Existenzminimums um monatlich 500 Franken die Armutsquote ungefähr verdoppeln würde. Insbesondere Haushalte mit Kindern leben relativ oft knapp über dem sozialen Existenzminimum.
Armut ist in der Schweiz selten dauerhaft, kehrt aber häufig zurück: Rund die Hälfte der Menschen, die sich aus der Armut ablösen, sind innerhalb von fünf Jahren erneut betroffen. Auslöser von Armut sind häufig kritische Ereignisse im Lebensverlauf. Dies zeigt sich in hohen Armutsquoten von Nichterwerbstätigen, Alleinerziehenden, kinderreichen Paarfamilien oder Alleinlebenden. Die Risiken treffen aber nicht alle Menschen in gleichem Masse, die soziale Stellung spielt eine wichtige Rolle. Besonders gefährdet sind Personen ohne nachobligatorischen Bildungsabschluss oder Menschen aus Drittstaaten.
Der wichtigste Schutz vor Armut ist Erwerbsarbeit: Bei Erwerbstätigen liegt die Armutsquote in den letzten zehn Jahren bei etwa 4 Prozent und damit deutlich tiefer als bei Nichterwerbstätigen (rund 15%). Dennoch lebten im Jahr 2023 rund 168 000 Erwerbstätige trotz Arbeit in Einkommensarmut. Zusammen mit ihren Angehörigen waren 300 000 Personen betroffen – darunter 78 000 Kinder.
Armut im Alter: Vermögen berücksichtigen
Die Quote der Einkommensarmut von Personen im Rentenalter ist ungefähr doppelt so hoch wie jene der 0- bis 64-Jährigen. Dieser Unterschied ist jedoch mit Vorsicht zu interpretieren: Personen im Rentenalter berichten seltener, dass sie unter Entbehrungen leiden oder Schwierigkeiten haben, finanziell über die Runden zu kommen. Dies ist teilweise auf Vermögen zurückzuführen, die im Rentenalter eine wichtige Rolle spielen können, um den Lebensstandard über längere Zeit zu finanzieren.
Zieht man das Vermögen in die Berechnung ein, so reduziert sich die Einkommensarmut für Personen in Rentnerhaushalten um rund die Hälfte. In der Gesamtbevölkerung ist die Veränderung weniger stark ausgeprägt und beträgt ungefähr ein Drittel. Weil die Vermögensdaten in der SILC-Erhebung einen experimentellen Status haben und aktuell nur für zwei Jahre (2020 und 2022) genutzt werden können, bleibt die Einkommensarmut aktuell noch der zentrale Referenzpunkt der statistischen Armutsberichterstattung. Steuerdaten würden hier neue Möglichkeiten eröffnen.
Etabliertes Sozialsystem – mit Lücken
Das System der sozialen Sicherheit trägt wesentlich zur Verringerung der Armut in der Schweiz bei. Sozialversicherungen und bedarfsabhängige Sozialleistungen senken die Armutsquote bei Personen in der Erwerbsphase und ihren Kindern von rund 16 Prozent auf etwa 6 Prozent. Etwa zwei Drittel dieser Reduktion sind den Sozialversicherungen zuzuschreiben.
Gleichzeitig zeigt sich, dass Anspruchsberechtigte bestehende Unterstützungsangebote teilweise nicht beziehen. Schätzungen zufolge verzichten 20 bis 40 Prozent der Berechtigten auf bedarfsabhängige Sozialleistungen – oft aus Unkenntnis, Scham oder auch wegen administrativer Hürden. Auch Angebote in der frühkindlichen Bildung oder Weiterbildung werden von einkommensarmen Gruppen seltener genutzt. Dies weist auf strukturelle Hürden im Zugang zu Unterstützungs- und Förderangeboten hin.
Prävention durch Bildung?
Bildung hat einen massgeblichen Einfluss auf die Arbeitsmarktchancen. Personen ohne nachobligatorische Ausbildung haben ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko. Auch der Sozialhilfebezug ist bei dieser Personengruppe hoch. Weiter haben Personen mit geringen Kompetenzen häufiger ein tiefes Erwerbseinkommen und sind öfter von Erwerbslosigkeit betroffen. Der Erwerb von Bildungsabschlüssen und Kompetenzen ist damit ein zentrales Instrument zur Armutsprävention und -bekämpfung.
Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die Bildungschancen von Kindern aus armutsbetroffenen Familien. Die statistischen Kennzahlen zeigen, dass in der Schweiz ein klarer Zusammenhang zwischen den finanziellen Mitteln eines Haushalts und den Bildungsergebnissen der Kinder besteht. So verfügen beispielsweise Kinder aus Haushalten mit Bezug von wirtschaftlicher Sozialhilfe dreimal häufiger über keinen nachobligatorischen Abschluss als Kinder aus Haushalten ohne wirtschaftliche Sozialhilfe – und dreimal seltener eine gymnasiale Maturität.
Der Bildungsabschluss hängt dabei nicht nur von der individuellen Leistung ab, sondern auch von der sozialen Herkunft und den Bedingungen des Schulsystems – etwa dem Zeitpunkt der Leistungsselektion auf der Sekundarstufe I, der Zusammensetzung der Schulklassen, oder den Fördermöglichkeiten. Auch die Ausgestaltung der schulischen Bewertungssysteme kann eine Rolle spielen, denn Erwartungen von Lehrpersonen können die tatsächliche Schulleistung mitbeeinflussen.
Im Erwachsenenalter zeigen sich strukturelle Hürden bei der Weiterbildung: Personen mit tiefem Einkommen, geringen Kompetenzen oder in atypischen Beschäftigungsverhältnissen nehmen seltener an Weiterbildungen teil – nicht nur aufgrund geringer Wahrnehmung der Relevanz, sondern auch wegen direkter und indirekter Hürden wie Kosten, Zeitmangel, Stress oder fehlender organisatorischer Unterstützung.
Erwerbspensum als Stellschraube?
Das Armutsrisiko von Personen, die überwiegend in Teilzeit arbeiten, war im Jahr 2023 mit 5,8 Prozent doppelt so hoch wie von Personen, die in Vollzeit arbeiten (2,8%). Auch auf der Haushaltsebene wird deutlich: Haushalte mit einer sehr niedrigen Erwerbsintensität sind trotz Erwerbsarbeit deutlich häufiger von Armut betroffen.
Frauen arbeiten deutlich häufiger in Teilzeit als Männer. Dahinter stehen jedoch oft strukturelle Hindernisse wie fehlende oder unflexible Kinderbetreuung, starre Arbeitsbedingungen, segmentierte Arbeitsmärkte oder traditionelle Rollenbilder. Letztere prägen nicht nur Paarbeziehungen, sondern teilweise auch das Rekrutierungsverhalten von Arbeitgebern.
Vor allem bei Personen, die ihr Pensum erhöhen möchten, für Mehrarbeit verfügbar sind, aber keine entsprechende Arbeitsstelle finden, zeigt sich: Die Realisierung des gewünschten Pensums gelingt nicht immer. Insbesondere Frauen sind von Unterbeschäftigung betroffen – mit Folgen für das individuelle Erwerbseinkommen und die individuelle Absicherung im Fall von einer Trennung oder im Hinblick auf das Rentenalter.
Wohnort spielt eine Rolle
Das Armutsrisiko wird auch durch regionale Rahmenbedingungen am Wohnort geprägt. Dies betrifft die Ausgestaltung und der Zugang zu Bildungsangeboten, die Verfügbarkeit und Qualität von Angeboten der frühen Kindheit, der regionale Arbeitsmarkt die Verfügbarkeit und Qualität von Angeboten der frühen Kindheit, die Ausgestaltung und die Bedürfnisse des regionalen Arbeitsmarktes, das Steuersystem oder auch die Ausgestaltung der Instrumente der materiellen Existenzsicherung.
Dementsprechend sind die Instrumente der Armutsprävention und -bekämpfung regional und lokal unterschiedlich ausgestaltet – etwa bei der Verfügbarkeit und Finanzierung von Kinderbetreuung oder dem Angebot an bedarfsabhängigen Sozialleistungen.
Der Föderalismus ermöglicht dabei einerseits Lösungen, die innovativ sind und flexibel auf die Verhältnisse vor Ort eingehen. Andererseits kann die Vielfalt aber auch dazu führen, dass Menschen in vergleichbaren Lebenslagen unterschiedlich behandelt werden.
Individuelle und strukturelle Faktoren berücksichtigen
In der öffentlichen Debatte über Armut stehen häufig individuelle Faktoren im Vordergrund – wie Bildungsabschluss, Migrationsstatus oder Erwerbsbeteiligung, aber auch Vorstellungen von mangelnder Anstrengung, Fehlentscheidungen oder fehlender Bildungsbereitschaft. Ein solcher Fokus auf individuelle Faktoren zur Erklärung von Armut greift jedoch zu kurz.
Denn Armut kann nicht allein durch individuelle Merkmale erklärt werden kann. Entscheidend ist das Zusammenspiel mit strukturellen Rahmenbedingungen – etwa Bildungssystem, Kinderbetreuung, Arbeitsmarkt oder soziale Sicherung.
Für eine wirksame Armutsbekämpfung ist deshalb das Zusammenspiel individueller und struktureller Massnahmen zentral. Individuelle Massnahmen wie beispielsweise Coaching, Beratung und Aktivierungsangebote müssen mit einem chancengerechten Zugang zu Bildung, Betreuung, Gesundheit und sozialen Leistungen kombiniert werden. So können Handlungsspielräume erweitert und Armutsrisiken langfristig reduziert werden.
Literaturverzeichnis
Bundesrat (2025). Armutsmonitoring der Schweiz. Synthesebericht 2025, 26. November.