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«Das Verhalten von Menschen lässt sich nur begrenzt vorhersagen»

Der wohl grösste Unsicherheitsfaktor bei Wirtschaftsprognosen ist der Mensch. Beim Versuch, das Handeln der Menschen abzubilden, stosse man naturgemäss an Grenzen, sagt Ökonom Daniel Kaufmann.
Stefan Sonderegger
  |  26. August 2025
    Forschung und StatistikInterviewMeinungPerspektiven
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  • Sozialpolitik allgemein
«Die Unsicherheit einer Prognose sollte transparent gemacht werden»: Der Neuenburger Wirtschaftsprofessor Daniel Kaufmann. (Foto: Marcel Giebisch/BSV)

Die erratische Politik von US-Präsident Donald Trump bestimmt derzeit das Geschehen an den Weltmärkten: Sind zuverlässige Wirtschaftsprognosen angesichts solcher Unsicherheiten überhaupt möglich?

Daniel Kaufmann: Prognosen sind auf jeden Fall schwieriger geworden. Umso sinnvoller scheint es, mit Szenarien zu arbeiten.

Warum braucht es überhaupt Prognosen?

Prognosen zeigen eine bestimmte Richtung an. Sie bieten damit eine Entscheidungsgrundlage für Wirtschaft und Politik. Zudem lässt sich die Unsicherheit selbst quantifizieren: Wie wahrscheinlich ist das Eintreffen einer Vorhersage?

Wie unterscheiden sich Wirtschaftsprognosen von Wetterprognosen?

Ein zentraler Unterschied liegt im Prognosehorizont: Wetterprognosen beziehen sich meist auf die nächsten Tage, Wirtschaftsprognosen hingegen oft auf mehrere Monate oder Jahre. Auch die Datenlage ist anders: Wirtschaftsdaten müssen in der Regel von den statistischen Ämtern aufbereitet werden. So wissen wir heute beispielsweise nicht, wie stark das BIP in den letzten zwei Wochen gewachsen ist. Schliesslich nutzen wir oft Zeitreihenmodelle oder versuchen das Verhalten der Wirtschaftsakteure anhand von theoretischen Modellen abzubilden. Dabei stösst man jedoch an Grenzen: Das Verhalten von Menschen lässt sich nur begrenzt vorhersagen. Im Gegensatz dazu folgt das Wetter physikalischen Gesetzen, was die Modellierung wesentlich erleichtert.

Auf welche Echtzeitdaten greifen Prognostikerinnen und Prognostiker zurück?

Traditionell sind das vor allem Finanzmarktdaten. Weiter verwendet man zusehends hochfrequente Daten zu Finanztransaktionen, also beispielsweise Zahlungen mit Debitkarten. Noch neuere Ansätze zielen auf Textdaten aus Wirtschaftsbeiträgen von Zeitungen und sozialen Medien ab. Auf dieser Basis lässt sich etwa das Konsumverhalten schätzen. Die Schwierigkeit bei all diesen Datenquellen ist jedoch, dass es sich nicht um Statistiken, sondern um unstrukturierte Daten handelt.

Warum müssen Prognosen regelmässig revidiert werden?

Revisionen sind ein Qualitätsmerkmal von Prognosen. Sobald neue Daten verfügbar sind, sollte eine Prognose revidiert werden. Die Nationalbank revidiert ihre Prognosen zum Beispiel einmal pro Quartal. Bei einer Krise müssen Wirtschaftsprognosen allerdings sofort aktualisiert werden. Bei jeder neuen Zollankündigung von Donald Trump arbeiten die Prognoseinstitute entsprechend auf Hochtouren.

Was ist komplexer: globale Entwicklungen vorherzusehen oder nationale?

In der kleinen, offenen Schweizer Volkswirtschaft hängt beides stark zusammen. In der Praxis prognostiziert man daher zuerst das internationale Wirtschaftsgeschehen und erstellt dann darauf basierend eine Prognose für die Schweiz. Dies ist derzeit wie gesagt recht schwierig.

Welche Faktoren sind derzeit neben der US-Politik Haupttreiber für die Wirtschaftsentwicklung der Schweiz?

Der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Schweiz ist die EU, und China hat an Bedeutung gewonnen. Aber auch die nationale Wirtschaftspolitik ist wichtig: Wenn man zum Beispiel eine Prognose für die Inflation in der Schweiz machen muss, dann muss man Annahmen treffen, wie sich die Wirtschaftspolitik allgemein entwickelt – insbesondere die Geldpolitik der Nationalbank.

Werden in den Prognosen auch unwahrscheinliche, aber folgenreiche Ereignisse in den Wirtschaftsprognosen berücksichtigt?

Bis zur Finanzkrise von 2008 hat man Extremereignisse mehrheitlich ausgeblendet. Zuvor war man in den Modellen davon ausgegangen, dass sich die Wirtschaft und die Unsicherheit ungefähr im bisherigen Rahmen entwickeln würden. Während einer Krise ist die Prognoseunsicherheit jedoch grösser. Die Finanzkrise war diesbezüglich ein Weckruf. Extremereignisse vorherzusehen, bleibt jedoch enorm schwierig. Wichtiger scheint hier: Wenn einmal ein Extremereignis eintritt, muss man schnell reagieren können.

Sind Ökonominnen und Ökonomen gefangen in ihrem Denken? In Experimenten haben Affen zum Teil bessere Resultate erzielt als Börsenhändler.

Das sind natürlich gute Storys. Aber eine durchschnittliche Prognose ist besser als diejenige von Affen, die Darts auf eine Zielscheibe werfen. Als Prognostiker muss man jedoch aufpassen, dass man den Blick fürs grosse Ganze nicht verliert. Ich habe bei der Nationalbank beispielsweise ein Prognosemodell für die Inflation betreut, in welchem sich die Inflation oft ziemlich rasch normalisiert hat. Rückblickend war ich etwas naiv: Ein Blick in die Geschichte hätte gezeigt, dass es früher sehr hohe Inflation sowie Deflation in der Schweiz gab, was in Modellen nur unvollständig abgebildet werden kann.

Hat es auch damit zu tun, dass ein Menschenleben zu kurz ist, um selbst solche Erfahrungen zu machen?

Ja. Und da spielt die Wirtschaftsgeschichte eben eine grosse Rolle. Diese Ereignisse kann man zwar nicht formell in die Prognose einbauen, aber man kann das Bewusstsein dafür schärfen.

Wie wichtig bleibt der Mensch beim Erstellen von Prognosen?

Der Mensch spielt in verschiedenen Etappen bei einer Prognose nach wie vor eine Schlüsselrolle: Man muss ein Prognosemodell aufbauen, einen Modellansatz wählen, Datenquellen wählen und aufbereiten. Anschliessend plausibilisiert man die Prognose – denn im ganzen Prognoseprozess können Fehler passieren. Da braucht es den gesunden Menschenverstand. Wenn die Prognose nicht plausibel scheint, bessert man nach. Ich kann mir zwar vorstellen, dass die künstliche Intelligenz in Zukunft bessere Wirtschaftsprognosen als Menschen machen wird, aber davon sind wir noch weit entfernt.

Wie geht man bei einer solchen Nachbesserung vor?

Man kann beispielsweise das Modell anpassen, man kann aber auch verschiedene Modellansätze nehmen und einen Durchschnitt bilden, damit diese extremen Prognosen weniger ins Gewicht fallen. Oder man bespricht die Prognose mit anderen Ökonominnen und Ökonomen. Das wird in der Praxis oft gemacht und ist sehr wichtig.

«KI-Modelle sind oft eine Blackbox»

Inwiefern wird künstliche Intelligenz in den Prognosen eingesetzt?

KI wird vor allem technisch genutzt – etwa beim Schreiben von Computercode für Prognosemodelle. Das macht die Arbeit effizienter und reduziert Fehler. Schwieriger ist hingegen der direkte KI-Einsatz zur Erstellung von Prognosen: KI-Modelle sind oft eine Blackbox, schwer zu evaluieren, und es fehlt noch an Erfahrung, ob sie besser sind als traditionelle Ansätze. Zudem können vertrauliche Daten nicht einfach in Chatbots eingespeist werden.

Welche Methoden stehen bei Wirtschaftsprognosen im Einsatz?

Zum einen gibt es qualitative Methoden. Das sind beispielsweise Experteneinschätzungen und Konsumentenbefragungen wie der Konsumentenstimmungsindex des SECO. Dann gibt es quantitative Methoden wie etwa sogenannte Zeitreihenmodelle. Hier nimmt man eine Datenreihe wie das BIP und versucht, das mit statistischen Methoden so gut wie möglich zu modellieren. Und schliesslich werden theoretische Modelle verwendet. Dort versucht man – analog zu Klimamodellen – ökonomische Zusammenhänge zu modellieren.

Was sind Szenarien?

Ein Szenario ist eigentlich eine Prognose der zukünftigen Entwicklung, wobei man aber eine oder mehrere Variablen auf gewisse Werte fixiert. Beispielsweise: Wie fällt die Wirtschaftsprognose aus, wenn die USA einen bestimmten Zoll erheben? Wie lautet die Prognose, wenn dieser tief ausfällt? Das erlaubt, verschiedene Handlungsoptionen durchzuspielen.

Was ist der Unterschied zu einer Prognose?

Für eine Prognose müsste man einschätzen, wie sich die Zölle voraussichtlich entwickeln werden. Das heisst, eine Prognose ist die wahrscheinlichste Entwicklung nach bestem Wissen und Gewissen.

Wie hat sich die Qualität von Wirtschaftsprognosen in den letzten Jahren verändert?

Konjunkturprognosen sind generell besser geworden. Heute gibt es mehr Daten, die zudem früher verfügbar sind. Hinzu kommen methodologische Fortschritte und eine bessere Rechenleistung der Computer. Zudem entsprechen die volkswirtschaftlichen Statistiken heute in der Schweiz den hohen Standards der europäischen Statistikbehörde Eurostat. Das ist eine Folge der bilateralen Verträge, in denen sich die Schweiz dazu verpflichtet hat.

Wo besteht Nachholbedarf bei der Datenlage?

Ein Wunsch wäre der Zugang zu sogenannten Mikrodatensätzen, in denen man granulare Daten auf der Ebene von Firmen oder Konsumenten analysieren kann. In skandinavischen Ländern sind diese Daten einfacher zugänglich als in der Schweiz. Eine Herausforderung ist auch der Föderalismus: Weil bestimmte Daten auf kantonaler Ebene erhoben werden, ist ein schweizweiter Vergleich manchmal schwierig.

Wie optimistisch sind Sie, dass die Prognosegenauigkeit in den nächsten Jahren zunimmt?

Das Potenzial ist begrenzt. Das menschliche Verhalten bleibt schwer vorhersehbar – gerade bei Extremereignissen. Zwar gab es in den letzten 20 Jahren Fortschritte, auch durch KI-ähnliche Methoden, aber die Verbesserungen sind nicht riesig.

«Im Sozialversicherungsbereich sind die wichtigsten
Variablen alle miteinander verknüpft»

Welche Faktoren sind für Prognosen im Sozialversicherungsbereich besonders wichtig?

Im Sozialversicherungsbereich gibt es mehrere Herausforderungen. Einerseits erhöht die Langfristigkeit der Prognosen die Unsicherheit, und andererseits lässt sich die Treffsicherheit der Prognosen nur schwierig evaluieren – man erfährt erst nach Jahrzehnten, ob eine Prognose zutrifft. Schliesslich sind die wichtigen Variablen alle miteinander verknüpft: Man kann die Löhne beispielsweise nicht isoliert von den Zinsen prognostizieren, und die Zinsen wiederum sind nicht unabhängig von der Inflation. Wenn die Wirtschaft in der Schweiz gut läuft, führt das häufig zu mehr Zuwanderung – das heisst, auch das Bevölkerungswachstum ist mit der wirtschaftlichen Entwicklung verflochten.

Wie geht man mit der Erwartungshaltung um, dass Prognosen möglichst genau sein sollen?

Wichtig ist eine klare Kommunikation: Man muss deutlich machen, ob es sich um eine Prognose oder ein Szenario handelt. Szenarien sind oft nicht die wahrscheinlichste Entwicklung, sondern dienen der Illustration. Ebenso sollte die Unsicherheit einer Prognose transparent gemacht werden. Bei Konjunkturprognosen lässt sich diese aus früheren Fehlern abschätzen. Auch wenn das die Glaubwürdigkeit scheinbar reduziert, ist es ehrlicher und hilft beim Erwartungsmanagement. Statt Punktwerte sollte man Bandbreiten kommunizieren – ähnlich wie bei Wetterprognosen. So lässt sich etwa die Wahrscheinlichkeit angeben, dass das BIP-Wachstum in einem bestimmten Bereich liegt oder dass eine Rezession eintritt. Wenn die Unsicherheit von Anfang an mitkommuniziert wird, sind spätere Abweichungen besser nachvollziehbar und führen zu weniger Kritik.

Daniel Kaufmann

Der 44-jährige Daniel Kaufmann ist Professor für Angewandte Makroökonomie an der Universität Neuenburg. Er ist zudem Research Fellow am KOF Swiss Economic Institute der ETH Zürich und Mitherausgeber des «Swiss Journal of Economics and Statistics». Zuvor arbeitete er für die Schweizerische Nationalbank.

Chefredaktor, Soziale Sicherheit (CHSS)
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