Das schweizerische Sozialversicherungsrecht verpflichtet die versicherte Person, alles ihr Zumutbare zu unternehmen, um die Dauer und das Ausmass einer Arbeitsunfähigkeit zu verringern und so den Eintritt der Invalidität zu verhindern (Art. 21 Abs. 4 ATSG; Art. 7 Abs. 1 IVG). Dieser Grundsatz der Schadenminderungspflicht konkretisiert sich in der Invalidenversicherung (IV) unter anderem darin, dass die IV-Stelle der versicherten Person im Zusammenhang mit einer Leistung zusätzliche Auflagen machen kann.
Auflagen sind sowohl im Renten- als auch im Eingliederungsbereich möglich. Ist zum Beispiel bei einer IV-Rentnerin zu erwarten, dass sie ihre Erwerbsfähigkeit dank einer bestimmten medizinischen Behandlung zu erhöhen vermag, kann ihr die IV-Stelle eine solche auferlegen. Wenn die Rentnerin eine zumutbare Auflage nach angemessener Mahn- und Bedenkzeit nicht befolgt, kann die IV-Stelle die Rente so kürzen, als ob die von der Behandlung erwartete Verbesserung eingetreten wäre. Wenn die IV-Stelle bei einer Person mit einer beruflichen Eingliederungsmassnahme Hinweise hat, dass sie daran nicht engagiert teilnimmt und z. B. häufig unentschuldigt fehlt, kann sie dies mittels einer Auflage explizit einfordern. Befolgt die versicherte Person die Auflage nicht, kann die IV-Stelle die Eingliederungsmassnahme abbrechen. Auch im Eingliederungsbereich sind medizinische Auflagen möglich.
Forschungsprojekt zu Umsetzung und Wirkungen Um mehr über die Praxis der IV-Stellen zur Schadenminderungspflicht zu erfahren, hat das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) untersuchen lassen, wie häufig, in welchen Konstellationen und wie die IV-Stellen Auflagen zur Schadenminderung machen und welche Wirkungen das Instrument entfaltet.
Für einen gesamtschweizerischen Überblick stützte sich die Studie auf eine Onlinebefragung der kantonalen IV-Stellen sowie auf eine statistische Analyse zur Häufigkeit von Auflagen zur Schadenminderung und zur Charakterisierung der Zielgruppen. Hierfür wurden Daten aus dem IV-Register und – soweit vorhanden – Individualdaten der IV-Stellen zu Auflagen verwendet. Basierend auf der Auswertung der Register- und Individualdaten wurden vier IV-Stellen für vertiefende Untersuchungen ausgewählt. Diese umfassten eine quantitative Analyse der Fallverläufe von 206 Versichertendossiers, die mindestens eine Auflage zur Schadenminderung enthielten. Ergänzend dazu wurde ein Teil dieser versicherten Personen schriftlich befragt. Schliesslich wurde bei den vier ausgewählten IV-Stellen mittels einer Dokumentenanalyse, Informationsgesprächen und je einem Gruppengespräch genauer untersucht, wie die Auflagen erfolgten und durchgesetzt wurden, und es wurde auch diskutiert, welche Vorgehensweisen sich erfahrungsgemäss gut bewährt haben.
Häufigkeit und Inhalte von Auflagen Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die meisten IV-Stellen Auflagen zur Schadenminderung sehr zurückhaltend einsetzen. Pro Jahr sind rund 1,9 Prozent der laufenden Leistungen von einer Auflage betroffen. Das entspricht etwa 1,7 Prozent der Leistungsbeziehenden, die unter Umständen mehrere Auflagen auferlegt erhalten. Gemäss Erfassung der IV-Stellen können zudem bis zu einem Drittel der Auflagen bereits vor der Zusprache einer Leistung erfolgen, diese Angaben sind aber in den untersuchten Datengrundlagen meist nicht enthalten. Dadurch erhöht sich die Schätzung der von einer Auflage betroffenen Personen auf bis zu 2,5 Prozent.
Bezüglich der Häufigkeit von Auflagen unterscheiden sich die Kantone recht deutlich. In den 18 Kantonen, für die eine Schätzung möglich war, waren zwischen 0,1 Prozent und 3,5 Prozent der Renten oder Eingliederungsleistungen von einer Auflage betroffen. Der Anteil an Auflagen, die sich auf eine Rentenleistung beziehen, schwankt in den untersuchten Kantonen zwischen einem knappen Viertel und fast 90 Prozent.
Im Eingliederungsbereich verlangen mehr als zwei Drittel der Auflagen eine aktive Teilnahme an den Eingliederungsmassnahmen. Am zweithäufigsten beinhalten Auflagen die Aufforderung zu einer psychiatrisch-psychologischen Behandlung. In drei Viertel der Fälle stehen Letztere auch bei Auflagen zu Renten im Vordergrund. Aufforderungen zu einer medikamentösen Therapie unabhängig von einer psychiatrisch-psychologischen Behandlung oder zu einem operativen Eingriff machen je rund ein Prozent aller Auflagen aus und sind damit sehr selten.
Am häufigsten werden psychisch beeinträchtigte Personen mit Auflagen belegt: Während sie in der Grundgesamtheit jeweils nur je knapp die Hälfte der Leistungsbeziehenden ausmachen, sind 77 Prozent der Personen mit einer Auflage im Rentenbereich und 54 Prozent der Personen mit einer Auflage im Eingliederungsbereich psychisch beeinträchtigt. Auflagen betreffen vor allem 25- bis 44-Jährige. Diese machen 47 Prozent der Personen mit Auflagen im Rentenbereich aus sowie 39 Prozent der Personen mit Auflagen im Eingliederungsbereich.
Umsetzung der Schadenminderungspflicht Die IV-Stellen erleben die Umsetzung der Schadenminderungspflicht als anspruchsvolle Aufgabe. Sie empfinden es etwa als schwierig, die Wirkung einer möglichen Auflage im Voraus zu beurteilen. So ist es zum Beispiel nicht einfach, einzuschätzen, ob eine psychiatrisch-psychologische Behandlung die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person so stark zu erhöhen vermag, dass sie die Höhe der IV-Rente beeinflusst. Anspruchsvoll ist es auch festzulegen, wie konkret beispielsweise eine Massnahme in der Auflage zu umschreiben ist.
Bei der Art und Weise der Umsetzung bestehen deutliche Unterschiede zwischen den IV-Stellen, aber auch zwischen dem Eingliederungs- und dem Rentenbereich innerhalb der IV-Stellen. Dies betrifft zum Beispiel die Frage, wie oft sie die versicherte Person (vgl. Grafik G1), den behandelnden Arzt bzw. die Ärztin oder den Durchführungspartner von Eingliederungsmassnahmen in die Abklärung einbeziehen, wenn eine bestimmte Auflage zur Schadenminderung zur Diskussion steht.
Im Eingliederungsbereich arbeiten die IV-Stellen partizipativer mit den Versicherten zusammen als im Rentenbereich. Häufig versuchen sie, die aktive Teilnahme der versicherten Person an einer schadenmindernden Eingliederungsmassnahme im persönlichen Gespräch oder mittels Vereinbarungen zu erwirken. Beispielsweise thematisiert die IV-Stelle häufige Absenzen oder Verspätungen zunächst in einem Standortgespräch mit der versicherten Person und der durchführenden Institution und hält entsprechende Präsenzregeln in der Zielvereinbarung der Eingliederungsmassnahme fest. Mahn- und Bedenkzeitverfahren werden tendenziell erst dann eingesetzt, wenn die Überzeugungsarbeit misslingt.
Als Vorteil erweist sich gelegentlich auch der Einbezug der behandelnden Ärztin bzw. des Arztes. In einer der vier untersuchten IV-Stellen liess sich dadurch eine bessere Befolgung von Auflagen zu den Renten erreichen. Dies wird aber nicht überall gleich gehandhabt.
Wirkungen Die schriftliche Befragung der Versicherten zeigt, dass diese die Auflagen inhaltlich grossmehrheitlich verstehen. Über die Hälfte der Befragten fühlte sich durch die Auflage jedoch unter Druck gesetzt; ein Viertel war überrascht, eine Auflage zu erhalten.
Die Auswertung der Dossiers zeigt, dass Auflagen zur Schadenminderung in rund der Hälfte der untersuchten Fälle ganz befolgt wurden. Zwischen dem Eingliederungs- und dem Rentenbereich gibt es diesbezüglich grosse Unterschiede (vgl. Grafik G2). Während im Eingliederungsbereich ein Drittel der Auflagen ganz befolgt wurde, waren es im Rentenbereich zwei Drittel.
Befolgt die versicherte Person eine Auflage nicht und ergreift die IV-Stelle deshalb eine Sanktionsmassnahme, hat die versicherte Person das Recht, dagegen eine Beschwerde einzureichen. Aus den untersuchten Dossiers geht hervor, dass davon nur selten Gebrauch gemacht wird. In 70 Fällen mit Sanktionsmassnahmen wurde insgesamt nur sechsmal eine Beschwerde eingereicht, und davon war nur eine erfolgreich.
Die Befolgung von Auflagen entfaltet vor allem im Eingliederungsbereich eine gewisse Wirkung: 57 Prozent der Personen, die eine Auflage (zumindest teilweise) befolgten, führten danach eine Ausbildungsmassnahme, ein Arbeitstraining oder ein Praktikum weiter oder schlossen diese ab. Im Rentenbereich hingegen erzielten Auflagen seltener eine Wirkung. Bei 85 Prozent der Personen, welche die Auflage auf eine Rente zumindest teilweise befolgten, veränderte sich der Invaliditätsgrad nicht.
Die befragten versicherten Personen selbst schätzten die Wirkungen von Auflagen als eher gering ein. Über zwei Fünftel waren der Meinung, die Auflage habe ihnen nichts gebracht. Mehr als ein Viertel der Befragten gab an, die Auflage habe zu einer psychischen Belastung geführt. Weitaus häufiger als die IV-Stellen (in der Onlinebefragung) gaben die befragten Versicherten an, dass die Auflage zu einer Verschlechterung der Gesundheit geführt und damit genau das Gegenteil bewirkt habe, als die von der IV-Stelle beabsichtigte gesundheitliche Verbesserung.
Fazit Die IV-Stellen machen in rund zwei Prozent der Fälle Auflagen zur Schadenminderung. Der Umgang mit der Schadenminderungspflicht ist anspruchsvoll, aber das Instrument der Auflage kann von den IV-Stellen durchaus wirksam eingesetzt werden. In der Handhabung offenbaren sich bedeutende Unterschiede zwischen den IV-Stellen, aber auch zwischen dem Eingliederungs- und dem Rentenbereich. Dieser Befund gilt sowohl für die Anwendungspraxis als auch für die Wirkungen von Auflagen zur Schadenminderung:
- Im Eingliederungsbereich zielt die Schadenminderung auf eine aktive, engagierte Teilnahme an der zugesprochenen Eingliederungsmassnahme ab. Tendenziell führt die IV-Stelle das Mahn- und Bedenkzeitverfahren erst dann durch, wenn mildere, partizipative Strategien nicht zum angestrebten Verhalten geführt haben. Befolgt wird eine Auflage im Eingliederungsbereich dann zwar vergleichsweise selten. Wird sie aber befolgt, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass die versicherte Person die Eingliederungsmassnahme fortsetzen oder gar abschliessen kann.
- Im Rentenbereich streben die Auflagen, wie typischerweise eine psychiatrisch-psychologische Behandlung, eine bessere Gesundheit und einen niedrigeren IV-Grad der versicherten Person an. Versuche, diese im Vorfeld für eine Massnahme zur Schadenminderung zu gewinnen, sind selten und die Umsetzungskontrolle während der Behandlung eher schwach; allenfalls beziehen der Regionalärztliche Dienst (RAD) oder die IV-Stelle die behandelnde Ärztin oder den behandelnden Arzt ein. Zwar befolgen die versicherten Personen die Auflagen relativ häufig. Dass danach die von der IV-Stelle erhoffte Wirkung eintritt, ist aber deutlich seltener als bei Auflagen im Eingliederungsbereich.
- Literatur
- Bolliger, Christian; Champion, Cyrielle; Gerber, Michèle; Fritschi, Tobias; Neuenschwander, Peter; Kraus, Simonina; Luchsinger, Larissa; Steiner, Carmen (2020): Auflagen zur Schadenminderungspflicht in der Invalidenversicherung; [Bern: BSV]. Beiträge zur sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 1/20: www.bsv.admin.ch > Publikationen & Service > Forschungspublikationen.