Auf einen Blick
- Eine Studie der Berner Fachhochschule hat untersucht, welche Hürden und Chancen die Digitalisierung für Armutsbetroffene und Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen mit sich bringt.
- Die Studie empfiehlt den staatlichen Akteuren, funktionierende Geräte und einfach verständliche, kostenfreie Kurse anzubieten.
- Ergänzend zur Unterstützung durch digital geschulte Fachpersonen ist ebenso die Peerarbeit aufgrund der Alltagsnähe, Akzeptanz, Motivation und des Zugangs zu bestehenden Unterstützungsangeboten besonders nützlich.
Dank der Digitalisierung können die meisten Menschen den Alltag einfacher bewältigen. Wer jedoch über keinen ausreichenden Zugang zu digitalen Kanälen verfügt, droht gesellschaftlich abgehängt zu werden. Für diese Gruppe wird beispielsweise der Kauf eines Busbilletts auf der Smartphone-App oder das E-Banking zu einer Herausforderung oder gar unmöglich. Zudem dringen Informationen – insbesondere auch über Unterstützungsangebote oder öffentliche soziale und gesundheitliche Unterstützungsleistungen – nicht mehr bis zu allen durch.
Die Digitalisierung stellt insbesondere für armutsbetroffene Personen und Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen oft eine Herausforderung dar. Angesichts der Tatsache, dass Armutsbetroffene bereits heute relativ häufig keine sozialen und gesundheitlichen Leistungen in der Schweiz beziehen, besteht das Risiko einer weiteren sozialen Ausgrenzung (Lucas et al. 2021).
Vor diesem Hintergrund setzt die interdisziplinäre Studie «ProDigitAll» an, welche das Forschungsteam des Departements Soziale Arbeit und des Departements Gesundheit der Berner Fachhochschule (BFH) im Rahmen des BFH-Themenschwerpunkts «Humane digitale Transformation» durchgeführt hat (Hegedüs et al. 2023).
Ziel der Studie war es, Chancen und Hürden der Digitalisierung insbesondere für armutsbetroffene Menschen und Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen (zum Beispiel Schizophrenie, schwere Depression oder bipolare Störung) zu erörtern. Welche Chancen nehmen diese Menschen in ihrem Alltag wahr, und was empfinden sie als hinderlich? Beide Personengruppen sind aufgrund ähnlich erschwerter Alltagssituationen, wie beispielsweise bescheidener finanzieller Mittel oder sozialen Rückzugs, besonders vulnerabel.
Im Rahmen der Studie wurde zunächst eine systematische Literaturrecherche durchgeführt. So konnten, empirisch belegt, Chancen und Barrieren identifiziert werden, die sich Armutsbetroffenen und Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen stellen, wenn sie digitale Kommunikationsmittel und Informationen nutzen. In einem zweiten Schritt wurde die Sichtweise von betroffenen Personen und Fachpersonen aus den Bereichen psychische Gesundheit und Soziale Arbeit in einem partizipativen Workshop exemplarisch erörtert. In einer offenen Runde fand ein gegenseitiger Austausch zwischen Direktbetroffenen und Fachpersonen zur Frage statt, wie sie digitale Medien in ihrem Alltag nutzen (für detaillierte Methodik siehe Hegedüs et al. 2023: S. 5).
Mit diesem methodischen Vorgehen konnten sowohl Personen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen als auch Armutsbetroffene in die Erarbeitung der Ergebnisse einbezogen werden (vgl. Co-Konstruktion und User Involvement in Chiapparini und Eicher 2019). Zudem wurden durch den Vergleich verschiedener Praxisfelder und den Einbezug verschiedener Personengruppen (betroffene Personen und Fachpersonen) verschiedene Sichtweisen bearbeitet und das Verständnis für andere Sichtweisen gefördert (Müller de Menezes und Chiapparini 2021).
Modell zur digitalen Gesundheitskompetenz
Die Befunde aus der Literaturreche wurden anhand des Modells «e-health literacy framework» der Universität Kopenhagen (Noorgard et al. 2015) systematisch mit Blick auf die digitalen Gesundheitskompetenzen dargestellt. Mit digitaler Gesundheitskompetenz ist gemäss der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Fähigkeit gemeint, Gesundheitsinformationen und dafür entwickelte technische Kommunikationsmittel zu nutzen. Das «e-health literacy»-Modell basiert auf den drei Ebenen «Individuum», «System» und «Interaktion», wobei letztere die Schnittfläche zwischen den beiden ersten Ebenen bildet (siehe Abbildung). Die Ebenen bilden die Voraussetzungen ab, die für eine digitale Gesundheitskompetenz erforderlich sind.
Auf der Individuum-Ebene erschweren beispielsweise psychische Erkrankungen die Nutzung von digitalen Medien, und auf der Systemebene ist etwa eine funktionierende Internetverbindung eine Voraussetzung für die digitale Gesundheitskompetenz. Auf der Interaktionsebene bildet schliesslich das Sicherheitsgefühl während der Nutzung der digitalen Medien eine solche Voraussetzung: Vulnerable Personen sind eher bereit, digitale Kanäle zu nutzen, wenn sie wissen, zu welchen Zwecken ihre Daten benutzt werden und welchen Mehrwert sie selbst daraus ziehen.
Digitale Gesundheitskompetenz von Armutsbetroffenen und Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen
Auf der Interaktionsebene hat die Studie das «e-health literacy framework»-Modell mit der Dimension der Sozialen Interaktion ergänzt. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Digitalisierung die Isolation verstärkt und persönliche Kontakte im Sozialwesen und Gesundheitssystem reduziert.
Herausforderungen überwiegen
Insgesamt überwiegen für die beiden untersuchten Gruppen beim Zugang zu funktionierenden Hilfsmitteln die Hürden. So verfügen sie häufig über keine funktionierenden Geräte oder über keine stabile Internetverbindung. Weiter mangelt es ihnen oft an Motivation, die digitalen Kanäle zu nutzen, und nur wenige betrachten digitale Hilfsmittel als Mehrwert für die Alltagsgestaltung. Schliesslich fehlt es vielen vulnerablen Personen an Computer- und Medienkompetenz.
Punktuell gibt es aber auch Chancen: Die digitalen Medien können ortsunabhängig genutzt werden, was bei knappen Kosten für Mobilität oder gewissen körperlichen Einschränkungen von Vorteil sein kann. Zum anderen belegen Evaluationen eine motivierende Wirkung auf das Engagement der betroffenen Personen, die eine der zahlreichen Apps im Bereich der psychischen Gesundheit nutzen. Gleichzeitig sind diese Befunde mit Vorsicht zu geniessen, weil es sich oft um interne Evaluationen handelt und zahlreiche Herausforderungen mit den Apps ebenfalls erwähnt werden.
Fachpersonen als Schlüssel
Eine Schlüsselrolle beim Zugang zur digitalen Welt spielen Fachpersonen, die nah an der Lebenswelt der Betroffenen sind – also zum Beispiel Personen, die ambulant psychiatrische Pflegeleistungen erbringen. Sie können Hindernisse im Umgang mit digitalen Medien erkennen, Unterstützung anbieten oder andere Angebote vermitteln. Fachpersonen der sozialen Arbeit hingegen können aufgrund ihrer ungünstigen Arbeitsbedingungen (wie etwa eine hohe Fallbelastung), der fehlenden technischen Ausstattungen und der geringen digitalen Kompetenzen Sozialhilfebeziehende nur bedingt unterstützen.
Im Bereich der sozialen Arbeit bietet die Digitalisierung mit neuen Angeboten wie der Online-Beratung auch Chancen. Allerdings kann sich die Implementierung und Nutzung dieser Angebote in die tägliche Arbeit für die Zielgruppe kontraproduktiv auswirken, was bei der Weiterverfolgung dieser Diskussionen zu beachten ist.
Daneben zeichnen sich multiple Herausforderungen in der Nutzung ab, welche auf individueller, aber auch politischer Ebene zu verorten sind. Nebst der notwendigen Schulung der Fachpersonen stellen insbesondere der zeitliche Faktor und die hohe Fallbelastung ein Hindernis dar, um betroffene Personen zu begleiten. Diese bedingen eine sozialpolitische Veränderung, wie beispielsweise mehr Zeit für eine Fallbearbeitung oder höhere Investitionen in der digitalen Ausgestaltung und Weiterbildung der Sozialdienstmitarbeitenden.
Ganzheitliche Perspektive
Nicht ganz unerwartet zeigt sich: Armutsbetroffene Personen sind im Alltag stark mit der Existenzsicherung und dem sozialen Ausschluss beschäftigt. Wenig beachtet wird dabei der Umstand, dass sie häufig auch unter psychischen Belastungen leiden und umgekehrt auch Menschen mit psychischen Erkrankungen vielfach in prekären finanziellen Situationen zurechtkommen müssen.
Hier wäre eine engere Verzahnung und eine ganzheitliche Perspektive auf die Betroffenen nötig, um ihre Bedürfnisse erfassen und die entsprechenden Unterstützungsmöglichkeiten (bereits präventiv) anbieten zu können. Dies könnte beispielsweise durch eine vermehrte Sensibilisierung und Kompetenzerweiterung der Fachpersonen geschehen, damit diese die gesundheitliche wie auch die soziale Situation der Betroffenen besser erkennen können.
Peer-Ansatz
Zielführend bei der Bewältigung von herausfordernden Lebenslagen von vulnerablen Personen scheint der sogenannte Peer-Ansatz (Chiapparini et al. 2020; Hegedüs et al. 2016). Bei diesem Ansatz stammen die Beratenden aus den Reihen der Betroffenen selbst – wozu sie eine professionelle Schulung erhalten. Oft nehmen armutsbetroffene Personen die Unterstützung von Personen mit gleichen Erfahrungshintergründen eher an, unter anderem, weil das Schamgefühl geringer ist und sie sich freier fühlen, Fragen zu stellen (Chiapparini et al. 2020). In der Schweiz sind hierzu Internetcafés («Planet 13», «Power-Point» oder «Kafi Klick») etabliert und bekannt, die teils von armutsbetroffenen Menschen geleitet werden oder in denen sie zumindest mitwirken oder sich begegnen. Der Peer-Ansatz scheint sowohl in der Psychiatrie als auch in der Sozialhilfe geeignet, um den digitalen Zugang von Armutsbetroffenen und Personen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen zu fördern.
Abschliessend lässt sich sagen: Um die digitale Gesundheitskompetenz zu verbessern, werden funktionierende digitale Geräte und ein funktionierendes Netzwerk benötigt. Darüber hinaus braucht es digitale Grundkenntnisse, Motivation und eine Kombination aus Off- und Online-Begleitung durch dazu ausgebildete Fachpersonen und Peers.
Literaturverzeichnis
Chiapparini, Emanuela; Schuwey, Claudia; Beyeler, Michelle; Reynaud, Caroline; Guerry, Sophie; Blanchet, Nathalie; Lucas, Barbara (2020). Modelle der Partizipation armutsbetroffener und -gefährdeter Personen in der Armutsbekämpfung und -prävention. Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Soziale Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 7/20.
Chiapparini, Emanuela; Eicher, Véronique (2019). User Involvement in der Sozialen Arbeit – Anknüpfungspunkte für Praxis-, Forschungs- und Lehrprojekte in der Schweiz. Schweizerische Zeitschrift für Soziale Arbeit 24.18, 117–134.
Hegedüs, Anna; Domonell, Kristina; Willener, Daniela; Chiapparini, Emanuela (2023). Digitalisierung. Hürden und Chancen für vulnerable Personengruppen (ProDigitAll). Berner Fachhochschule BFH.
Hegedüs, Anna; Zanoni, Sylvie; Bischofberger, Iren (2016). Patienten und Angehörige wirken mit. Experten durch Erfahrung. NOVAcura (10), 36–39.
Lucas, Barbara; Bonvin, Jean-Michel; Hümbelin, Oliver (2021). The Non-Take-Up of Health and Social Benefits: What Implications for Social Citizenship? Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 47(2), 161–180.
Müller de Menezes, Rahel; Chiapparini, Emanuela (2021). «Wenn ihr mich fragt…». Das Wissen und die Erfahrung von Betroffenen einbeziehen Grundlagen und Schritte für die Beteiligung von betroffenen Personen in der Armutsprävention und -bekämpfung. Leitfaden im Auftrag der Nationalen Plattform gegen Armut (BSV).
Norgaard, Ole; Furstrand, Dorthe; Klokker, Louise; Karnoe, Astrid; Batterham, Roy; Kayser, Lars; Osborne, Richard (2015). The e-health literacy framework: A conceptual framework for characterizing e-health users and their interaction with e-health systems. Knowledge Management & E-Learning: An International Journal, 522–540.
Witting, Tanja (2018). Digitale Ungleichheiten. In: Ernst-Ulrich Huster, Jürgen Boeckh und Hildegard Mogge-Grotjahn (Hg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden: Springer VS (Handbuch). 457–478.