Auf einen Blick
- Eine Studie der Berner Fachhochschule und der Hochschule für Soziale Arbeit Freiburg hat in einem partizipativen Ansatz einen Vorschlag für einen «Rat für Armutsfragen in der Schweiz» entwickelt.
- In einem künftigen Rat für Armutsfragen wären armutserfahrene Menschen und Fachpersonen vertreten.
- Ziel des «Rats für Armutsfragen» ist die politische Einflussnahme auf nationaler, kantonaler und kommunaler Ebene.
In der Schweiz leben gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS) rund 700 000 armutsbetroffene Personen, und 1,3 Millionen gelten als armutsgefährdet (BFS 2024a und BFS 2024b). Für diese Menschen ist der Zugang zu politischen Prozessen häufig erschwert. Denn im Gegensatz beispielsweise zu Kindern und Jugendlichen oder zu Menschen mit Behinderung, die von Lobbyingorganisationen (zum Beispiel Jugend- und Behindertensession) vertreten werden, verfügen armutserfahrene Personen nicht über passende Gefässe, um ihre Anliegen kollektiv in politische, gesellschaftliche oder auch wissenschaftliche Diskurse einzubringen.
In politischen Debatten – zum Beispiel zur Teuerung – wird sichtbar, dass die Gesellschaft für das Thema Armut sensibilisiert werden sollte, um Schuldzuweisungen, verzerrten Bildern und Vorurteilen zu begegnen. Diese Stigma- oder Ausschlusserfahrungen armutserfahrener Personen führen oft zu Schamgefühlen, selbst wenn die eigene Lebenssituation mehrheitlich strukturelle Ursachen hat, wie etwa wirtschaftliche, sozialpolitische oder bildungspolitische Dynamiken. Kontinuierliche Beteiligungsstrukturen sind also dringend nötig, damit armutserfahrene Personen sich selbstermächtigend in die Diskussion einbringen und damit ein anderes Bild von sich, nämlich als handlungsfähige Personen, vermitteln können.
Wie kann also die Beteiligung von armutserfahrenen Menschen und ihren Organisationen an gesellschaftspolitischen Diskussionen in der Schweiz strukturell verbessert werden? Im Auftrag der Nationalen Plattform gegen Armut haben wir in einem partizipativen Forschungsprojekt nach Lösungsansätzen gesucht (Chiapparini et al. 2024). Daraus resultierte ein Vorschlag für eine ständige Beteiligungsstruktur: der «Rat für Armutsfragen in der Schweiz».
Positive internationale Erfahrungen
Zahlreiche Länder verfügen bereits über Strukturen und Gefässe, um armutserfahrene Personen in ihrer Armutspolitik mit einzubeziehen. In unserer Studie haben wir 15 Strukturen in 14 Ländern – darunter auch unsere Nachbarländer Deutschland, Frankreich und Österreich sowie das Europäische Netzwerk zur Armutsbekämpfung (EAPN) der EU-Kommission – untersucht, in denen eine Beteiligungsstruktur für Armutserfahrene ein fester Bestandteil gesellschaftlicher und politischer Diskurse bildet.
Die jeweiligen Strukturen haben in den untersuchten Ländern unterschiedliche Bezeichnungen und sind den jeweiligen Kontexten angepasst. In Belgien beispielsweise ermöglicht die «Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung» den Dialog zwischen Entscheidungsträgern und Armutserfahrenen. Und in Frankreich sowie in Kanada beurteilen armutserfahrene Personen im Auftrag politischer Entscheidungsträgerinnen und -träger mittels etablierter Räte und Kommissionen Geschäfte der nationalen Armutspolitik.
Evaluationen der untersuchten Gefässe deuten darauf hin, dass eine Beteiligungsstruktur die politische Teilhabe von Armutserfahrenen unter gewissen Voraussetzungen tatsächlich begünstigt (Chiapparini et al. 2024). Gleichzeitig können positive Effekte für ein Empowerment auf kollektiver und individueller Ebene beobachtet werden (Herriger 2020).
Partizipation bringt Vorteile
Unser Forschungsprojekt unterscheidet sich von bisherigen Untersuchungen dadurch, dass wir Armutserfahrene im Rahmen von Workshops ins Zentrum stellen. Aus wissenschaftlicher Sicht weist diese Partizipation von Armutsbetroffenen mehrere Vorteile auf. So kann ihre Sichtweise beispielsweise blinde Flecke in Abläufen von Organisationen aufzeigen. Weiter stärken solche Projekte die Kommunikationsfähigkeiten sowie die sozialen Kompetenzen der Fachleute und der Betroffenen (vgl. Müller de Menezes und Chiapparini 2021 sowie Chiapparini et al. 2020). Darüber hinaus fördert der gegenseitige Perspektivenwechsel das Verständnis zwischen Armutserfahrenen und Fachpersonen.
Die Workshops führten wir im Frühjahr 2023 mit über 50 armutserfahrenen Personen und 15 Fachleuten aus der Verwaltung und der Sozialen Arbeit in Bern, Freiburg und Biel auf Deutsch und Französisch durch. Im Laufe dieser Workshops wurde diskutiert, wie eine ständige Beteiligungsstruktur für die Schweiz ausgestaltet sein könnte.
Ein «Rat für Armutsfragen für die Schweiz»
Unser Projekt zeigt: Mit einem «Rat für Armutsfragen in der Schweiz» könnte eine ständige Beteiligungsstruktur für armutsbetroffene Personen geschaffen werden. So könnte die grosse Gruppe armutserfahrener Personen vermehrt in die Diskussion und die Gestaltung der schweizerischen Armutspolitik einbezogen werden.
Der Rat hat dabei zum Ziel, Akteure aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft zu beraten oder ihnen Vorschläge zur Weiterentwicklung der Armutsprävention und -bekämpfung zu unterbreiten. Gleichzeitig soll er den Austausch zwischen armutserfahrenen Menschen, Fachleuten und weiteren Akteuren aus Politik und Verwaltung fördern sowie die Öffentlichkeit für das Thema Armut sensibilisieren.
Wie könnte ein «Rat für Armutsfragen» konkret aussehen? Wir schlagen vor, dass der Rat aus beschlussfähigen armutserfahrenen Mitgliedern sowie aus beratenden Mitgliedern besteht, die ihre jeweiligen Fachexpertisen dem Rat zur Verfügung stellen (siehe Abbildung). Die beschlussfähigen Mitglieder halten mehrmals jährlich gemeinsame Treffen ab und nehmen Stellung zu aktuellen Themen oder organisieren jährliche öffentliche Veranstaltungen zur Integration einer breiten Vertretung von armutsbetroffenen Personen.
Die Finanzierung sowie die Bereitstellung der notwendigen Ressourcen sollen in einem ersten Schritt auf Bundesebene ermöglicht werden. Sinnvoll scheint, den Rat vorerst an eine Struktur wie die Nationale Plattform gegen Armut, die vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) koordiniert wird, anzugliedern.
Ein starkes Zeichen
Eine Umsetzung des «Rats für Armutsfragen» hätte einen starken Pioniercharakter in der Schweiz: Es wäre ein symbolisches Zeichen der Anerkennung der Lebensweltexpertise armutserfahrener Personen seitens der Politik. Aufgrund von Erfahrungen aus anderen Ländern haben solche Strukturen besonders hohe Legitimität, wenn sie von den zuständigen politischen Stellen (zum Beispiel dem Bundesrat) unterstützt und in Auftrag gegeben werden. Dies würde eine erfolgreiche Umsetzung sicherlich begünstigen.
Wie und allenfalls ob eine ständige Beteiligungsstruktur für armutsbetroffene Personen in der Schweiz realisiert werden kann, ist letztlich ein politischer Entscheid. Unser Vorschlag liefert die Grundlage dafür, die aber noch verfeinert werden müsste. In einem weiteren partizipativen Schritt wäre zu definieren, über welche Kanäle und in welchen Gefässen der politische Austausch aufgebaut werden soll.
Literaturverzeichnis
BFS (2024a). Armutsquote 2022.
BFS (2024b). Armutsgefährdungsquote 2022.
Chiapparini, Emanuela; Guerry, Sophie; Reynaud, Caroline (2024). Wie können armutserfahrene Personen mit ihrer Erfahrungsexpertise dauerhaft in die Schweizer Armutspolitik einbezogen werden und mitwirken? Grundlagen und Konzept einer ständigen Beteiligungsstruktur, die forschungsbasiert gemeinsam mit armutserfahrenen Personen entwickelt wurde. Studie im Auftrag der Plattform gegen Armut (BSV).
Chiapparini, Emanuela; Schuwey, Claudia; Beyeler, Michelle; Reynaud, Caroline; Guerry, Sophie; Blanchet, Nathalie; Lucas, Barbara (2020). Modelle der Partizipation armutsbetroffener und -gefährdeter Personen in der Armutsbekämpfung und -prävention. Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Soziale Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 7/20.
Herriger, Norbert (2020). Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. 6. Auflage.
Müller de Menezes, Rahel; Chiapparini, Emanuela (2021). «Wenn ihr mich fragt…». Das Wissen und die Erfahrung von Betroffenen einbeziehen Grundlagen und Schritte für die Beteiligung von betroffenen Personen in der Armutsprävention und -bekämpfung. Leitfaden im Auftrag der Nationalen Plattform gegen Armut (BSV).