Individueller Kompetenznachweis für Jugendliche ohne Berufsabschluss

Wer eine standardisierte Ausbildung ausserhalb der beruflichen Grundbildung ­absolviert, soll in Zukunft einen individuellen Kompetenznachweis (IKN) und damit bessere ­Chancen für die Integration in den ersten Arbeitsmarkt erhalten. Über den Einsatz des IKN entscheiden die Branchenorganisationen.
Christine Davatz-Höchner, Annina Studer, Mark Gasche, Peter Dolder
  |  01. Juni 2018
  • Eingliederung
  • Interinstitutionelle Zusammenarbeit
  • Jugend

Nachdem das Anfang 2004 in Kraft gesetzte Berufsbildungsgesetz (BBG) vom 13. Dezember 2002 die Anlehre mit dem individuellen Augenschein durch die standardisierte zweijährige Grundbildung mit eidgenössischem Berufsattest (sog. EBA oder Attestausbildung) ersetzte, kam schnell die Frage auf, wie die Position derjenigen Jugendlichen verbessert werden kann, die diese Ausbildung nicht schaffen. Kantonale Lösungen waren nicht erwünscht und so präsentierte das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) mit dem Projekt «individueller Kompetenznachweis (IKN)» einen Lösungsansatz für diese Gruppe von Jugendlichen. Der Leitfaden 2014 des SBFI zur Attestausbildung hält zum individuellen Kompetenznachweis folgendes fest:

«Personen, die nach Wiederholung des Qualifikationsverfahrens den Abschluss nicht bestehen, haben ein Anrecht, sich ihre Kompetenzen individuell bestätigen zu lassen. Dabei sind die in den entsprechenden Bildungsverordnungen und Bildungsplänen über die zweijährige berufliche Grundbildung definierten Handlungskompetenzen massgebend. Der Kompetenznachweis soll als Dokument im Bewerbungsdossier bei der Stellensuche auf dem Arbeitsmarkt verwendet werden können. Der Kompetenznachweis kann auch Lernenden in einer dreijährigen oder vierjährigen beruflichen Grundbildung vom Lehrbetrieb abgegeben werden.

Der Kompetenznachweis ist eine standardisierte Ergänzung zum Lehrzeugnis und stellt die in der betrieblichen Ausbildung effektiv vorhandenen Kompetenzen am Ende der beruflichen Grundbildung dar. Die Bescheinigung dieser Kompetenzen ist Sache der Kantone und der Organisationen der Arbeitswelt. Sie einigen sich auf ein geeignetes gesamtschweizerisches und branchenübergreifendes Verfahren und arbeiten eng zusammen.»

Der IKN wurde für die EBA-Ausbildungen von den Kantonen und einigen Organisationen der Arbeitswelt (OdA) bereits 2005 eingeführt. Parallel dazu entwickelten Bildungsanbieter für Menschen, die aufgrund einer Lern- oder Leistungsbeeinträchtigung (noch) nicht in eine EBA-Ausbildung einsteigen konnten, Angebote wie z. B. die Praktischen Ausbildungen (PrA) nach INSOS oder Ausbildungen in Jugendheimen etc. Diese stehen allerdings ausserhalb der formalen beruflichen Grundbildungen, wie sie im BBG geregelt sind, und waren anfangs auch nicht mit den ausbildungs- und prüfungsverantwortlichen Organisationen der Arbeitswelt (OdA) abgesprochen.

Damit aber auch diese Jugendlichen einen werthaltigen Nachweis ihrer erbrachten Lernleistungen erlangen konnten, lancierten das SBFI, die OdA, repräsentiert durch den Schweizerischen Gewerbeverband (sgv), sowie Vertretungen von den Gewerkschaften, den Kantonen, den Sozialbehörden und von INSOS, dem nationalen Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Behinderung, gemeinsam das Projekt «Individueller Nachweis der Kompetenzen für Jugendliche, die keinen eidgenössischen Berufsbildungsabschluss erlangen».

Projektstand Inzwischen liegen in den vier Pilotberufen Logistiker/-in EBA bzw. Praktiker/-in PrA Logistik, Schreinerpraktiker/-in EBA bzw. Praktiker/-in PrA Schreinerei, Büroassistent/-in EBA bzw. Praktiker/-in PrA Büroarbeiten und neu auch für den/die Hauswirtschaftspraktiker/-in EbA bzw. Praktiker/-in PrA Hauswirtschaft praxis­erprobte IKN vor. Diese enthalten für Arbeitgeber aussagekräftige und für lernbeeinträchtigte Jugendliche erlernbare Kompetenzen, die gemeinsam mit Fachpersonen der Berufsbranchen und INSOS-Ausbildungsbetrieben auf der Basis des jeweiligen EBA-Bildungsplanes bestimmt wurden. Sobald der Übergang von der Projektphase in den Regelbetrieb erfolgt ist, stehen die Unterlagen für die Einführung eines IKN allen interessierten Berufen resp. den zuständigen OdA und Bildungsanbietern zur Verfügung. Kernstück hierzu ist die Orientierungshilfe zum IKN, die die Verbundpartner ausgearbeitet haben (vgl. Schluss des Artikels).

Zielsetzung des IKN Ziel des IKN ist es, Jugendlichen ohne Abschluss einer beruflichen Grundbildung die Handlungskompetenzen zu attestieren, die sie im Laufe einer zweijährigen Ausbildung erworben haben. Dank seiner standardisierten Form ist der IKN für alle Interessierten klar lesbar, sodass die Chancen der Jugendlichen steigen, im ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen.

Zu den Jugendlichen, deren berufliche Handlungskompetenzen mit einem IKN anerkannt werden können, gehören einerseits EBA-Absolventen und Absolventinnen, die den Abschluss nicht bestehen. Für diese Gruppe von Jugendlichen wurde der IKN, wie eingangs erwähnt, bereits 2005 von den Kantonen und einzelnen OdA eingeführt. Andererseits sind die Verbundpartner auch bestrebt, die Voraussetzungen für branchenanerkannte Abschlussmöglichkeiten für Jugendliche zu schaffen, die eine standardisierte zweijährige Ausbildung ausserhalb der beruflichen Grundbildung absolvieren, die sich am Qualifikationsprofil eines EBA-Berufs orientiert.

Der IKN bildet damit eine standardisierte branchenspezifische Ergänzung zum Lehrzeugnis und hält den Stand der in der betrieblichen Ausbildung erworbenen Handlungskompetenzen entlang des Qualifikationsprofils eines EBA-Berufs fest. Er bildet Teil des Bewerbungsdossiers bei der Stellensuche auf dem Arbeitsmarkt und erleichtert die Anrechnung von Bildungsleistungen.

Nicht vorgesehen ist demgegenüber der Einsatz des IKN, um berufliche Handlungskompetenzen aus langjähriger Berufspraxis ohne standardisierte Ausbildung zu dokumentieren. Ebenfalls nicht eingesetzt wird der IKN zur Bescheinigung von Kompetenzen, die in sozialpädagogischen, therapeutischen oder sozialpolitischen Beschäftigungsprogrammen erworben wurden, da diese in der Regel keinen Bezug zu den Handlungskompetenzen einer EBA-Ausbildung haben.

Dokumentation Um seine Ziele – Arbeitsmarktintegration, Durchlässigkeit im Bildungssystem, Anrechnung von Bildungsleistungen – wirksam zu fördern, enthält der IKN folgende Elemente:

  • Formular für die Dokumentation der erworbenen Handlungskompetenzen. Dieses ist ressourcen- und kompetenz­orientiert strukturiert und auf die Bildungsziele und Handlungskompetenzen ausgerichtet, wie sie in der Bildungsverordnung und im Bildungsplan des jeweiligen EBA-Berufs verankert sind. Damit sind sie für potenzielle Arbeitgeber gut zu erkennen und zu beurteilen.
  • Deckblatt für den IKN mit der Nennung des EBA-Referenzberufs.

Die unterstützende Dokumentation besteht aus

  • einem Bildungsplan,
  • Instrumenten zur Lernprozessbegleitung und einer Leistungsdokumentation, die den Erwerb der Handlungskompetenzen während der Ausbildung festhalten,
  • bei Bedarf einer Anleitung für die Anwendung des IKN.

Der Weg zum IKN Über die Entwicklung und den Einsatz des IKN entscheidet grundsätzlich die nationale OdA der zweijährigen beruflichen Grundbildung EBA für ihren Beruf. Sie ist in ihrem Entscheid frei, die Anwendung des IKN wird aber von den Verbundpartnern sehr empfohlen. Die nationale OdA erarbeitet in Zusammenarbeit mit ihrer Kommission B&Q das Formular für die Dokumentation der erworbenen Handlungskompetenzen.

Die nationale OdA entscheidet auch über die Öffnung des IKN für standardisierte zweijährige Ausbildungen ausserhalb der beruflichen Grundbildung. Die Zulassung dieser Ausbildungen zum IKN ist an klare Vorgaben gebunden. Die Ausbildung muss zwei Jahre dauern, über ein standardisiertes Ausbildungsprogramm verfügen und sich an den Handlungskompetenzen einer der über 50 EBA-Grundbildungen orientieren. Verlangt wird zudem, dass der Erwerb der Handlungskompetenzen mithilfe der Instrumente zur Lernprozessbegleitung und der Leistungsdokumentation strukturiert erfasst und beurteilt wird. Die Anbieter dieser Ausbildungen stellen der nationalen OdA Antrag auf Öffnung für den IKN und erarbeiten die nötigen Grundlagen.

Die Qualitätssicherung Die nationale OdA einer EBA-Grundbildung sichert zusammen mit ihrer Kommission B&Q die Qualität der in den Ausbildungsgrundlagen verankerten Elemente des IKN. Sie evaluiert diese und entwickelt sie weiter. Für standardisierte zweijährige Ausbildungen ausserhalb der beruflichen Grundbildung übernimmt der Bildungsanbieter die entsprechende Qualitätssicherung.

Die Ausbildungsbetriebe verantworten die Qualität der praktischen Ausbildung und stellen den IKN aus. In diesem Rahmen nehmen sie die folgenden Aufgaben wahr:

  • Sie führen die praktische Ausbildung gemäss Ausbildungsprogramm durch.
  • Sie dokumentieren den Lernprozess vollständig und nutzen hierzu die Instrumente der Lern- und Leistungsdokumentation.
  • Sie stellen den IKN gemäss der Anleitung unter Einbezug der Lern- und Leistungsdokumentation und – soweit vorhanden – der Ergebnisse des Qualifikationsverfahrens aus.

Die Aufsicht über die Lehrbetriebe für die zweijährige berufliche Grundbildung EBA wird wie üblich auch für den IKN bei den kantonalen Berufsbildungsämtern liegen.

Für die Aufsicht über die Ausbildungsbetriebe von standardisierten zweijährigen Ausbildungen ausserhalb der beruflichen Grundbildung sind die Ausbildungsanbieter zuständig. Sie prüfen die Bildungsvoraussetzungen des Ausbildungsbetriebs, ermächtigen den Betrieb zur Ausbildung, nehmen die Aufsicht über die Bildungsprozesse wahr und leisten Unterstützung in kritischen Situationen.

Informationen und Unterstützung Die «Orien­tierungshilfe zum individuellen Kompetenznachweis (IKN)» der Verbundpartnerschaft mit umfassender Information zum IKN wird im Sommer 2018 publiziert. Ab diesem Zeitpunkt wird das Zentrum für Berufsentwicklung des Eidgenössischen Hochschulinstituts für Berufsbildung zur beratenden Anlaufstelle für Trägerschaften, die einen IKN erarbeiten möchten. Während Informationen kostenlos sind, erfolgt die Unterstützung bei der ­Erarbeitung eines IKN gegen ein Honorar. Weitere nütz­liche Informationen sind auch über das Portal zur Berufsbildung greifbar.

Vizedirektorin des Schweizerischen ­Gewerbe­verbands (sgv).
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Leiterin des Bereichs Arbeitswelt, INSOS.
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Geschäftsführer der Schweizerischen ­Berufs­bildungsämter-Konferenz (SBBK).
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Projektleiter IKN.
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