Unter der Vermittlung von Compasso tauschten sich Ende 2015 verschiedene Facharztgesellschaften und Arbeitgeber sowie Vertreter des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) und der Privatversicherer aus, um das wenig konstruktive Zusammenwirken von Arbeitgebern und Ärzteschaft in Fragen der beruflichen Eingliederung zu diskutieren. Dieses erste Treffen kam auf Anregung der Post und des Netzwerks «Psychische Gesundheit Schweiz» zustande. Es wurde deutlich, dass die Zusammenarbeit in der beruflichen Integration gemeinsam neu definiert und gestaltet werden soll. Die Analyse der Ausgangslage, die Formulierung der Zielsetzung und die Entwicklung der entsprechenden Massnahmen wurde unter der Leitung von Compasso durch eine Projektgruppe, bestehend aus Vertretern der Ärztegesellschaften, des BSV, einzelner Arbeitgeber, des Verbands Inclusion Handicap und des schweizerischen Versicherungsverbands (SVV), an die Hand genommen.
Compasso
Compasso nimmt als neutrales Netzwerk eine wichtige Rolle in der beruflichen Eingliederung ein: Es vernetzt die Arbeitgeber mit den relevanten Systempartnern, um gemeinsam passende Instrumente zu entwickeln. Mitglieder wie Grossunternehmen, Branchen- und weitere Verbände, Sozial- und Privatversicherer bringen sich solidarisch ein. Dadurch erhalten insbesondere KMU kostenlos Informationen und Instrumente zu ihrer Unterstützung bei der beruflichen (Wieder-) Eingliederung.
Unterschiedliche Bedürfnisse – unklare Zielsetzung – fragmentierte Ansätze Im Rahmen der Analyse wurden die vielfältigen branchenspezifischen Rollen und Bedürfnisse der Arbeitgeber ebenso aufgezeigt wie die zahlreichen Rollen der Ärzteschaft. Weiter zeigte sich, dass die diversen in den vergangenen Jahren von IV-Stellen und Versicherern entwickelten Formulare, in denen die Arbeitgeber die Anforderungen am Arbeitsplatz und die Ärzte die Beurteilung der Arbeits(un-)fähigkeit festhalten konnten, inhaltlich sowie formal nicht genügten und überdies meist zu spät eingesetzt wurden. Ihre Vielfältigkeit erschwerte es den Beteiligten, sie korrekt auszufüllen, weshalb sie wenig genutzt wurden. Zudem wurden vorwiegend körperliche, nicht aber psychosoziale Anforderungen erfasst. Folglich bildeten die Formulare die verfügbaren Ressourcen nur ungenügend ab. Erwähnt sei auch die Feststellung der Taggeldversicherer und der Swiss Insurance Medicine, dass in den vergangenen Jahren selten Teilarbeitsfähigkeit attestiert und in 80 Prozent der Arztzeugnisse Arbeitsfähigkeiten von entweder 0 oder 100 Prozent bescheinigt wurden.
Trotz unterschiedlicher Rollen und Bedürfnisse überzeugte die Analyse die Beteiligten von der Notwendigkeit, einen gemeinsamen Eingliederungsprozess zu entwickeln, der sich hauptsächlich an den Ressourcen der Betroffenen orientiert.
Ausgliederung verhindern Obwohl die Evaluation verschiedener Eingliederungsansätze und v. a. der eingliederungsorientierten Rentenrevision der Invalidenversicherung (Guggisberg et. al. 2015, S. 70) zeigten, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Rückkehr an den Arbeitsplatz bei früher Intervention deutlich erhöht, erfolgt diese zu selten und wenn, dann auch zu spät. V. a. bei psychisch beeinträchtigten Mitarbeitenden tauschen sich Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Ärzteschaft selten früh genug aus: Aufgrund der schlechteren Aussicht, ihren Arbeitsplatz zu erhalten, ist die Wahrscheinlichkeit, dass psychisch beeinträchtigte Mitarbeitende ihr Problem am Arbeitsplatz nie mitteilen, deutlich höher als bei körperlich beeinträchtigten.
Eine unveröffentlichte Befragung, die die Psychiatrie Baselland u. a. zusammen mit dem Arbeitgeberverband Basel und dem Gewerbeverband Basel-Stadt bei allen kleinen und mittleren Betrieben (KMU) der Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Aargau und Solothurn durchführte und im Februar 2018 an verschiedenen Veranstaltungen im Raum Basel vorstellte, ergab, dass bei einer nicht näher definierten gesundheitlichen Beeinträchtigung deutlich mehr als vier Fünftel der rund 500 antwortenden Betriebe keinen Kontakt zum behandelnden Arzt hatten, drei Viertel einen solchen aber gerade bei psychischen Beeinträchtigungen wünschten.
Mögliche Teilarbeitsfähigkeiten früh klären, Gesundheitsdaten schützen Aus Sicht des erkrankten Mitarbeiters oder der erkrankten Mitarbeiterin stellt das Anliegen einer möglichst frühen Intervention bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen heikle Fragen in Bezug auf den Schutz ihrer Gesundheitsdaten. Und in der Wahrnehmung der Ärzteschaft steht dabei nicht nur das Arztgeheimnis zur Debatte, sondern auch das Vertrauensverhältnis zum Patienten. Gerade deshalb bietet das REP eine sach- und ressourcenfokussierte Basis, die weder Befunde, noch Diagnosen oder medizinische Therapieempfehlungen enthält.
Aufbau und Einsatz des REP Ausgehend von den bereits vorhandenen Eingliederungsansätzen wurden die bekannten Massnahmen und Instrumente gebündelt und unter Einbezug bisher fehlender Aspekte, wie psychosozialer Anforderungen und Rahmenbedingungen, zum REP weiterentwickelt.
Um eine einfache Handhabung zu gewährleisten, ist das REP über das Internet greifbar und so vorstrukturiert, dass viele Eingaben per Mausklick erfolgen können. Sein modularer Aufbau ist darauf ausgerichtet, möglichst viele Fälle so detailliert wie möglich und individuell wie nötig zu erfassen. Im Sommer 2017 wurde der Prototyp zielgruppenspezifisch validiert. Von etwas mehr als hundert kontaktierten Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Ärzten gab gut die Hälfte eine Rückmeldung. Gerade das Feedback der grösseren Arbeitgeber sowie der KMU war mit 30 von 42 bzw. 17 von 18 angefragten äusserst erfreulich. Die überwiegend konstruktiven Rückmeldungen erlaubten die zielgerichtete Optimierung des REP, das bei einem Medienanlass am 22. November 2017 im Beisein von Vertretern des BSV, des Arbeitgeberverbands, der FMH und weiterer Ärztegesellschaften sowie der SBB, die das REP im Tessin einsetzen wird, lanciert wurde.
Kernstück des REP sind die Arbeitsplatzanforderungen und Rahmenbedingungen in den Kategorien «Körperliche Anforderungen», «Anforderungen an Verstand, Denken, Persönlichkeit und weitere psychosoziale Aspekte», «Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz» und «Ärztliche Beurteilung», die Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam per Mausklick aus einer Liste auswählen und mithilfe des Internettools als Word-Dokument abspeichern. Beim nächsten Arztbesuch nimmt der Arbeitnehmer das vorbereitete REP mit und übergibt es dem behandelnden Arzt oder der Ärztin. Diese hält anhand vorgegebener Kriterien und allenfalls eigener Ergänzungen auf dem Dokument fest, ob und wie der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin den aufgeführten Anforderungen und Rahmenbedingungen gesundheitlich gewachsen ist. Ergänzt wird das Dokument durch Basisinformationen über Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie die Unterschriften der Beteiligten, mit denen diese ihren Willen bekräftigen, die Intervention zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit und des Arbeitsplatzes erfolgreich zu gestalten (vgl. Grafiken G1 und G2).
Der Einsatz des REP eignet sich vor allem dort, wo Mitarbeitende länger arbeitsunfähig sind oder regelmässige Kurzabsenzen ausweisen. Es soll aufzeigen helfen, was einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen noch bzw. wieder zugemutet werden kann, sodass sie oder er nicht längere Zeit voll krankgeschrieben dem Arbeitsplatz fernbleibt. Dabei besteht die berechtigte Hoffnung, dass das REP besonders bei psychischen Beeinträchtigungen den Beteiligten den Einstieg in ein Eingliederungsgespräch erleichtert.
Gewinn für Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Ärzteschaft und Sozialversicherer Mit dem REP erhalten Arbeitnehmende zu Beginn des Eingliederungsprozesses die Sicherheit, dass ihr Arbeitgeber auf sie zählt. Sie werden so rasch und so nah wie möglich an ihren Ausgangskompetenzen und ihrer ursprünglichen Leistungsfähigkeit in den Arbeitsprozess zurückgeführt. Ihr Arbeitsplatz und ihre Arbeitsmarktfähigkeit bleiben erhalten; und der Arbeitgeber kann drohenden und kostenaufwendigen Know-how-Verlust abwenden. Durch das sorgfältige Benennen der vorhandenen gesundheitlichen Einschränkungen, aber auch der verbleibenden Leistungsfähigkeit durch ärztliches Fachwissen, kann einer Überforderung oder zu frühen Rückkehr in den Arbeitsprozess vorgebeugt werden.
Die Orientierung des REP an den Ressourcen und weniger an den Defiziten erleichtert und unterstützt auch allfällige Rücksprachen der Arbeitgeber mit der Ärzteschaft. Letztere kann davon ausgehen, dass der Arbeitgeber grundsätzlich gewillt ist, ihre Informationen dazu zu nutzen, den Arbeitsplatz ihrer Patientin bzw. ihres Patienten möglichst zu erhalten. Im Gegenzug erhöht sich die Bereitschaft der Ärzte, den stabilisierenden Beitrag einer sinnvollen Arbeit an die Gesundheit anzuerkennen und ihre Patienten im Genesungsprozess zu unterstützen.
Die Absichten des REP decken sich mit den Zielen, die der Bundesrat in seiner Botschaft zur Weiterentwicklung der IV formuliert, indem er sowohl eine Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen IV-Stellen und Ärzteschaft (Weiterentwicklung der IV, S. 2610ff.) als auch eine optimale Ausrichtung der Eingliederungsmassnahmen auf Arbeitsplatzgegebenheiten und Ressourcen vorsieht (ibid., S. 2613). Stefan Ritler, Leiter des Geschäftsfelds IV beim Bundesamt für Sozialversicherungen, zeigte sich anlässlich der Lancierung des REP überzeugt, dass dieses für die Sozialversicherungen, insbesondere die IV, von Nutzen sein kann, da die rechtzeitige Intervention das Invaliditätsrisiko verringern kann. Auch die Taggeld- und Unfallversicherer sollten durch frühe Massnahmen zum Arbeitsplatzerhalt und zur Stabilisierung der Arbeitsfähigkeit profitieren können (Kaiser/Knöpfel 2018).
Dank seiner Verankerung als erfolgsversprechender und praxisnaher Handlungsansatz durch die Nationale Konferenz zur Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Beeinträchtigungen empfiehlt sich das REP allen Beteiligten als nachhaltiges Instrument, eine längere und massnahmenbedürftige Arbeitsunfähigkeit koordiniert und zielgerichtet anzugehen und zu überwinden.
Bisherige Rückmeldungen an Compasso zum REP bestätigen seinen Nutzen v. a. bei psychischen Erkrankungen, die zu Arbeitsunfähigkeiten von mehr als 30 Tagen führen.
- Literatur
- Kaiser, Martin; Knöpfel, Regina (2018): «Frühe Zusammenarbeit lohnt sich», in Soziale Sicherheit CHSS 1/2018, S. 25–28: www.soziale-sicherheit-chss.ch > Ausgaben & Schwerpunkte.
- Guggisberg, Jürg et al. (2015): Evaluation der Eingliederung und der eingliederungsorientierten Rentenrevision der Invalidenversicherung; [Bern: BSV]. Beiträge zur sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 18/15: www.bsv.admin.ch > Publikationen & Service > Forschung und Evaluation > Forschungsberichte.
- Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (Weiterentwicklung der IV); BBl 2017 2535: www.admin.ch > Bundesrecht > Bundesblatt > 2017.