Schweizer Altersvorsorge – ein Mustermodell?

Das Schweizer Vorsorgemodell punktet im Ländervergleich mit einer einkommensabhängigen Lohnersatzrate, einer tiefen erforderlichen privaten Sparquote und einem hohen Anteil an Vorsorgekapital. Reformbedarf besteht hinsichtlich des demografischen Wandels.
Melanie Häner, Tamara Erhardt
  |  18. Januar 2023
  • Alters- & Hinterlassenenversicherung
Seniorinnen in London im Frühling 2021. (Alamy)

Auf einen Blick

  • Eine Studie des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern vergleicht die Altersvorsorge der Schweiz, Deutschlands, Frankreichs, Schwedens und des Vereinigten Königreichs.
  • Untersucht wurden die Nettolohnersatzrate, die erforderliche private Sparquote, der Anteil des Vorsorgekapitals am BIP sowie das Rentenalter.
  • Das Schweizer Modell sichert einerseits den Grundbedarf im Alter, begünstigt andererseits aber auch das private Sparen.

Oft wird das Schweizer Altersvorsorgemodell von internationalen Experten als Musterbeispiel gelobt. So kam die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrer Länderanalyse im Jahr 2019 zum Schluss, das Schweizer Rentensystem sichere – trotz fehlender Reformen – ein gutes Alterseinkommen (OECD 2019). Die Messlatte für einen Ländervergleich ist also hoch gesetzt.

In einer Studie haben wir die Vorsorgemodelle von Deutschland, Frankreich, Schweden und des Vereinigten Königreichs mit dem Schweizer Modell verglichen (Häner et al. 2022). Die Wahl fiel auf diese Länder, da sie unterschiedliche Vorsorgesysteme repräsentieren. So wendet das Vereinigte Königreich das sogenannte Beveridge-System an (IFO 2008). Der Beveridge-Plan beschreibt ein Modell der sozialen Sicherheit, wonach der Staat die Aufgabe hat, Bürger vor Armut zu schützen und ihre Existenz zu sichern.

Deutschland und Frankreich hingegen folgen dem «Bismarck-Modell», das auf die Sozialgesetzgebung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck zurückgeht (Leimgruber 2008). Es charakterisiert sich dadurch, dass sich der Kreis der Versicherten auf die Erwerbstätigen beschränkt und die Finanzierung über einkommensabhängige Lohnbeiträge erfolgt. Des Weiteren bezogen wir in den Vergleich auch Schweden ein, dessen Vorsorgesystem sich durch eine starke staatliche Beteiligung am Kapitalmarkt auszeichnet.

Grundsätzlich gilt zu beachten: Eine strikte Einteilung in Beveridge- oder Bismarck-Modelle ist heute nicht mehr möglich, weil sich die beiden Finanzierungssysteme zusehends vermischen (Kolmar 2007).

Mehrsäulensystem setzt sich durch

In allen fünf untersuchten Ländern (inklusive der Schweiz) beruht die Altersvorsorge auf einem Mehrsäulensystem, wobei die einzelnen Säulen unterschiedlich gewichtet sind. Alle Länder verfügen über eine gesetzliche erste Säule, die den Grundbedarf sichern soll. In der Schweiz untersteht auch die zweite Säule dem Obligatorium.

Die dritte Säule ist überall freiwillig und gegenüber den ersten beiden Säulen weniger bedeutsam. Den grössten Stellenwert hat sie in der Schweiz (Säule 3a) und in Deutschland («Riester-Rente»). In Frankreich, Schweden und dem Vereinigten Königreich sind die Bedeutungsunterschiede der drei Säulen am stärksten ausgeprägt. Umgekehrt sind die drei Säulen in der Schweiz am ausgeglichensten gewichtet.

Lohnersatzrate als erster Indikator

Einen guten Vergleich der Vorsorgesysteme bietet die Nettolohnersatzrate («Ersatzquote»), die für den obligatorischen Bereich das Verhältnis zwischen dem individuellen Nettorentenanspruch und dem Nettoverdienst vor Eintritt in den Ruhestand abbildet (OECD 2021).

Im Vereinigten Königreich, in der Schweiz und in Deutschland nimmt die Ersatzquote mit steigendem Einkommen ab: Im Vereinigten Königreich beträgt sie bei Geringverdienenden beispielsweise 80 Prozent, bei Gutverdienenden aber nur noch 48 Prozent (siehe Grafik 1). Ein ähnliches Verhältnis zeigt sich in der Schweiz (mit 58 Prozent bei Geringverdienenden und 28 Prozent bei Gutverdienenden) und in Deutschland (58 Prozent beziehungsweise 42 Prozent).

Der Grund für die tiefe Ersatzquote bei Gutverdienenden in der Schweiz liegt im limitierten Leistungsumfang des Obligatoriums: Die AHV-Einzelrente beträgt derzeit maximal 2450 Franken pro Monat, und in der zweiten Säule liegt der maximal versicherte Lohnbeitrag im Obligatorium bei 88 200 Franken pro Jahr. Somit sparen Erwerbstätige mit hohen Einkommen primär im überobligatorischen Bereich der zweiten und in der freiwilligen dritten Säule.

Anders verhält es sich in Frankreich und in Schweden, wo die tiefsten Einkommen nicht die höchsten Ersatzquoten aufweisen. In Schweden beispielsweise haben Gutverdienende die grösste Ersatzquote. Ein Grund dafür ist, dass Beschäftigte, die mehr als den schwedischen Durchschnittslohn verdienen, grösstenteils durch quasiobligatorische betriebliche Altersversorgungssysteme abgesichert sind. Dies wiederum erhöht die Renten der Gutverdienenden stark.

Aus ökonomischer Sicht sind einkommensabhängige Ersatzquoten (wie in Deutschland, im Vereinigten Königreich oder in der Schweiz) optimal, weil die staatliche Altersvorsorge das freiwillige Sparen von einkommensstarken Personen nicht bremst. Gleichzeitig vermag eine höhere Ersatzquote bei tiefen Einkommen das Altersarmutsrisiko für Haushalte mit geringen Einkommen zu minimieren.

Private Sparquote: Schweden an der Spitze

Eine weitere Messgrösse des Ländervergleichs ist die erforderliche private Sparquote. Diese entspricht der Differenz zwischen dem tatsächlichen Renteneinkommen, das eine Rentenbezügerin aus der obligatorischen Altersvorsorge erhält und dem Renteneinkommen, das notwendig wäre, um einen durchschnittlichen Lebensstandard auch im Alter zu sichern. Je tiefer die erforderliche private Quote ist, desto weniger muss ausserhalb der obligatorischen Altersvorsorge für das Alter gespart werden. Hier schneidet Schweden mit einer Sparquote von 9 Prozent am besten ab, gefolgt von der Schweiz mit 14 Prozent (siehe Grafik 2). Am höchsten ist die erforderliche private Sparquote in Frankreich mit 44 Prozent.

Bei der kapitalgedeckten Vorsorge steht die Schweiz im Ländervergleich unangefochten an der Spitze: Der Anteil des Vorsorgekapitals am Bruttoinlandprodukt (BIP) betrug im Jahr 2020 167 Prozent (siehe Grafik 3). Danach folgen das Vereinigte Königreich und Schweden, die ebenfalls relativ hohe BIP-Anteile aufweisen. Am anderen Ende der Skala finden sich Frankreich und Deutschland.

Vorsorgekapital schafft Investitionsmöglichkeiten

Ein hoher Anteil des Vorsorgekapitals am BIP ist aus ökonomischer Sicht positiv: Indem über Jahrzehnte am Kapitalmarkt angelegt wird, entstehen Investitionsmöglichkeiten. Auch wird ein auf dem Kapitaldeckungsverfahren basierendes Vorsorgesystem weniger stark vom demografischen Wandel tangiert als ein Umlagemodell, das die Gelder einfach von Jung zu Alt umverteilt. Umgekehrt sind kapitalgedeckte Systeme stärker von einem Tiefzinsumfeld und der Inflation betroffen als umlagefinanzierte Modelle.

Dennoch lässt sich insgesamt feststellen, dass ein hoher Vorsorgekapitalanteil am Bruttoinlandprodukt vorteilhaft ist. So zeigt die empirische Evidenz einen positiven Einfluss auf das Wirtschaftswachstum (Davis und Hu 2008).

Schlechter schneidet die Schweiz im Ländervergleich punkto Resilienz gegenüber dem demografischen Wandel ab. So blieb etwa das Rentenalter für Männer seit 1948 unverändert (für Frauen hat sich das Rentenalter seither mehrmals verändert, und mit der AHV 21 wird es ab Anfang Januar 2024 schrittweise den Männern angeglichen). Eine Anpassung des Rentenalters an die Lebenserwartung ist in der Schweiz aktuell nicht vorgesehen. Hinzu kommen negative Anreize zur Weiterbeschäftigung nach dem Erreichen des ordentlichen Rentenalters. So ist eine Weiterbeschäftigung der älteren Arbeitnehmenden für Arbeitgeber oftmals teurer aufgrund der Sozialversicherungsbeiträge und der im Alter steigenden Löhne (Eichenberger und Koukal 2012).

Dreisäulenmodell überzeugt

Fassen wir zusammen: Im Ländervergleich überzeugt das Schweizer Dreisäulenmodell durch eine einkommensabhängige Lohnersatzrate. Aufgrund der stark umverteilenden Wirkung der AHV ist insbesondere die Ersatzrate für hohe Einkommen gering. Gleichzeitig fällt aber auch die erforderliche private Sparquote tief aus. Gemäss der Literatur handelt es sich hierbei um eine gute Mischung aus Grundsicherung und verminderter Verdrängung privaten Sparverhaltens. Dies entlastet die Sozialsysteme. Ferner lässt sich der hohe Anteil an kapitalgedeckter Vorsorge in der Schweiz positiv bewerten.

Verbesserungspotenzial lässt sich für die Schweiz punkto Resilienz des Vorsorgesystems bezüglich des demografischen Wandels orten. Hier gilt es bei künftigen Reformen ein Hauptaugenmerk zu legen. Vorschläge, die bei unterschiedlichen Parametern ansetzen, wären dabei durchaus vorhanden (siehe etwa Brunetti und Zimmermann 2021; Feld und Schaltegger 2011).

Literaturverzeichnis

Brunetti, Aymo und Zimmermann, Heinz (2021). Nachhaltigkeitsprobleme der Schweizer Altersvorsorge: Analyse und Ableitung eines Reformpakets.

Davis, Philip und Hu, Yu-Wei (2008). Does funding of pensions stimulate economic growth? Journal of Pension Economics and Finance, 7, 221–249.

Eichenberger, Reiner und Koukal, Anna M. (2012). Alte an die Arbeit – Bonus für Altersarbeit. Zenit 1, 16–17.

Feld, Lars und Schaltegger, Christoph A. (2011). Soziale Sicherheit sichern. Ein Plädoyer für eine Schuldenbremse. Avenir Suisse. Verlag Neue Zürcher Zeitung.

Häner, Melanie, Erhardt, Tamara, Koch, Nadja und Schaltegger, Christoph A. (2022). Das Drei-Säulen-Modell der Schweizer Altersvorsorge: Ein kompakter Überblick nach 50 Jahren. IWP Policy Papers 5.

IFO (2008). DICE Report 8, 69–71.

Kolmar, Martin (2007). Beveridge versus Bismarck Public-pension Systems in Integrated Markets. Regional Science and Urban Economics 37, 649–69.

Leimgruber, Matthieu (2008). Solidarity without the State?: Business and the Shaping of the Swiss Welfare State, Cambridge: 1890–2000.

OECD (2019). OECD Economic Surveys: Switzerland 2019.

OECD (2021). Pensions at a glance.

UBS (2021). UBS International Pension Gap Index.

Dr. oec., Bereichsleiterin Sozialpolitik, Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern
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Doktorandin und wissenschaftliche Assistentin, Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern
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