«Viele Fragen drehen sich um die Altersvorsorge»

Bei Migrantinnen und Migranten besteht Erklärungsbedarf bei den Sozialversicherungen: «Für viele ist unser Sozialversicherungssystem ohne fremde Hilfe nicht verständlich», sagt Tom Morgenegg, Leiter der Isa-Fachstelle Migration in Bern.
Stefan Sonderegger
  |  10. Oktober 2024
    Interview
  • Migration
«Es ist auf jeden Fall besser, Sozialhilfe zu beziehen, als sich zu verschulden»: Tom Morgenegg, Leiter Isa-Fachstelle Migration in Bern. (Foto: Marcel Giebisch / BSV)

Herr Morgenegg, vor welchen Herausforderungen stehen Migrantinnen und Migranten im Bereich der Sozialversicherungen?

Das System ist komplex – auch für Schweizerinnen und Schweizer. Nehmen wir die Altersvorsorge: Um über AHV-Beitragslücken Bescheid zu wissen, muss man einen Auszug von der AHV-Ausgleichskasse bestellen. Doch Hand aufs Herz: Wer macht das regelmässig? Für viele Personen, die in unsere Beratungen kommen, ist unser Sozialversicherungssystem ohne fremde Hilfe nicht verständlich.

Inwiefern ist die Sprache eine Hürde?

Die Sprache ist fast immer ein Thema. Das sehen wir bei den Beratungsgesprächen, die wir im Auftrag des Kantons führen.

Mit welchen Fragen kommen die Leute zu Ihnen?

Viele Fragen drehen sich um die Altersvorsorge: Wir müssen beispielsweise erklären, wie die Beiträge für berufliche Vorsorge auf dem Lohnausweis zu lesen sind. Andere – darunter typischerweise viele ehemalige Saisonniers aus Italien, Spanien und Portugal im Pensionsalter – wollen wissen, wie lange sie in ihr Heimatland reisen können, ohne den Anspruch auf die Ergänzungsleistungen zu verlieren. Und Drittstaatenangehörige befürchten, dass sie die Aufenthaltsbewilligung verlieren, wenn sie Sozialhilfe beziehen.

Was raten Sie Letzteren?

Es ist auf jeden Fall besser, Sozialhilfe zu beziehen, als sich zu verschulden. Schulden sind ein Teufelskreis, aus dem man fast nicht mehr herauskommt. Aber es ist tatsächlich so: Je nach zuständiger Migrationsbehörde riskieren Sozialhilfebeziehende, den C-Ausweis zu verlieren. Gerade in der Ostschweiz wird das Ausländerrecht sehr restriktiv angewendet, während es in der Westschweiz grosszügiger ausgelegt wird. Das erlebe ich im Austausch mit meinen Kolleginnen und Kollegen im Netzwerk Schweizerische Konferenz der Fachstellen für Integration. Beim Vollzug des Ausländerrechts herrscht keine Chancengleichheit.

«Beim Vollzug des Ausländerrechts herrscht keine Chancengleichheit»

Aus welchen Herkunftsländern stammen besonders viele Personen, die sich an die Fachstelle Isa wenden?

Derzeit stammen viele Menschen aus Drittstaaten wie Afghanistan, dem Iran, Äthiopien, Eritrea, dem Sudan, Türkei und Sri Lanka. Aus dem EU-Raum stammen die meisten aus Deutschland, Spanien, Portugal und Italien. Hingegen beraten wir keine Personen, die dem Asylgesetz unterstehen, da wir gemäss unserem Leistungsauftrag mit dem Kanton Bern für sie nicht zuständig sind.

Wer droht durchs Netz der sozialen Sicherheit zu fallen?

Armutsgefährdet sind vor allem Menschen im Niedriglohnsegment – darunter viele Frauen und Drittstaatenangehörige. Bereits eine hohe Zahnarztrechnung bringt sie ans finanzielle Limit. Besonders herausfordernd ist die Situation für Menschen mit Behinderungen. Oft ist ihnen nicht klar, auf welche Leistungen aus der Invalidenversicherung sie Anspruch haben. Das sind beispielsweise Integrationsmassnahmen oder Hilfsmittel. Allerdings: Wenn bereits vor der Einreise in die Schweiz ein Gesundheitsschaden vorhanden war, haben sie unter Umständen kein Anrecht auf eine IV-Rente.

«Viele Migrantinnen und Migranten in der Schweiz erreichen in den nächsten Jahren das Pensionsalter»

Wie sieht es bei der Altersvorsorge aus?

Viele Migrantinnen und Migranten in der Schweiz erreichen in den nächsten Jahren das Pensionsalter. Weil sie häufig Beitragslücken in der ersten und der zweiten Säule aufweisen, droht ihnen Altersarmut. Dabei wissen sie oftmals nicht, dass sie Ergänzungsleistungen beziehen können. Hier besteht Aufklärungsbedarf: Die Behörden müssten Informationen beispielsweise auch auf Arabisch zur Verfügung stellen und nicht nur in den Landessprachen.

Welche Sozialversicherungen stehen in Ihren Beratungen im Vordergrund?

Das kommt auf die Lebenssituation an. Arbeitstätige vergessen beispielsweise manchmal, sich bei der privaten Unfallversicherung abzumelden. Die Arbeitgeber informieren aber zum Glück meist gut. Bei Älteren steht die Altersvorsorge im Vordergrund, bei Menschen mit Behinderungen die IV.

Wie sieht es bei der Krankenversicherung aus, die man so im Ausland nicht kennt?

Das Wissen diesbezüglich ist relativ gut. Denn die Gemeinden legen beim Erstgespräch mit den Neuzuziehenden den Fokus auf die Krankenversicherung. Eine Ausnahme bilden natürlich Sans-Papiers, die durch die Maschen fallen.

Sie setzen auf den sogenannten Empowerment-Ansatz. Was bedeutet das?

Wir versuchen die Menschen zu befähigen, dass sie ihr Leben möglichst selbstständig bewältigen können. Zum Beispiel geben wir ihnen eine Anleitung, wie sie ein Gesuch für einen Kinderbetreuungsgutschein in der Stadt Bern stellen können – wir erledigen es aber nicht für sie.

Die Fachstelle Isa bietet auch Deutschkurse, Töpfern, Gärtnern, Kochen, Wandern an. Nutzen Sie die Gelegenheit, um dort auch über Sozialversicherungen zu sprechen?

Bei den Deutschkursen können gelegentlich Sozialversicherungsthemen in den Unterricht mit einfliessen. Die Kursleitenden bieten aber keine Sozialberatungen an – da wissen unsere Fachleute besser Bescheid: Wenn jemand mit einer konkreten Frage an uns gelangt, vereinbaren wir einen Beratungstermin. Das ist auch für die Betroffenen die beste Lösung.

Eine wichtige Rolle bei der Integration von Ausländerinnen und Ausländern spielt die Wirtschaft. Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit den Unternehmen?

Es ist noch mehr Sensibilisierungsarbeit bei den Betrieben nötig. Wir müssen sie dafür gewinnen, bewusst Migrantinnen und Migranten anzustellen. Man spricht ja von «migrantischem Gold».

Müssten Bund, Kantone und Gemeinden bei der Integration mehr tun?

Grundsätzlich funktioniert das durchlässige Schweizer Berufsbildungssystem sehr gut. Es ist aber vor allem auf Jugendliche zugeschnitten – und nicht auf Erwachsene. So stellt ein Lehrabschluss für über 25-jährige Migrantinnen und Migranten eine hohe Hürde dar. Viele absolvieren Praktikum um Praktikum und schaffen es doch nie, einen unbefristeten Arbeitsvertrag im ersten Arbeitsmarkt zu unterschreiben. Wir brauchten Ausbildungen, die auch für ältere Migranten machbar sind.

«Ein Lehrabschluss stellt für über 25-jährige Migrantinnen und Migranten eine hohe Hürde dar»

Die Integration von Migrantinnen und Migranten ist ein politisch aufgeladenes Thema. Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern?

Wir sind keine politische Organisation und arbeiten mit den gegebenen Rahmenbedingungen. Auch aus fachlicher Sicht unterstützen wir gelegentlich politische Vorstösse wie etwa «Armut ist kein Verbrechen». Diese parlamentarische Initiative will eine Ausschaffung wegen unverschuldeten Sozialhilfebezugs verunmöglichen, wenn jemand seit zehn Jahren in der Schweiz lebt.

Wie steht es um die Vernetzung unter Fachpersonen?

Im Raum Bern ist die Vernetzung sehr gut. Die Triage funktioniert. Fälle von häuslicher Gewalt etwa geben wir direkt an die zuständigen Stellen weiter.

Tom Morgenegg und die Fachstelle Isa

Der 55-jährige Tom Morgenegg ist Leiter der Isa-Fachstelle Migration (Isa steht für Info, Sprache, Arbeit) in der Region Bern. Die Fachstelle bietet unter anderem Beratungen sowie Sprachkurse für Migrantinnen und Migranten an. Finanziert wird der politisch und konfessionell unabhängige Verein über Leistungsvereinbarungen mit dem Kanton Bern sowie über Spenden. Derzeit arbeiten 35 Personen bei der Fachstelle.

Chefredaktor, Soziale Sicherheit (CHSS)
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