«Anliegen von Jüngeren haben es in der Politik oft schwerer»

Die jungen Generationen plagen Zukunftssorgen. Umso wichtiger sei es, die politischen Anliegen der Jungen ernst zu nehmen, sind sich Jan Burckhardt, Co-Präsident des Dachverbandes der Jugendorganisationen SAJV, und Eveline Widmer-Schlumpf, Präsidentin von Pro Senectute, einig.
Urs Keller, Stefan Sonderegger
  |  25. Mai 2023
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Anlässlich des 75-Jahre-Jubiläums der AHV haben sich Jan Burckhardt, Co-Präsident von SAJV, und Eveline Widmer-Schlumpf, Präsidentin von Pro Senectute, zu einem Gespräch getroffen. (Foto: Marcel Giebisch/BSV)

Lässt es sich in der Schweiz gut alt werden?

Eveline Widmer-Schlumpf: Meine Generation konnte gut alt werden. Als wir jung waren, blickten wir zuversichtlich in die Zukunft. Diese positive Grundeinstellung ist heute vielleicht weniger vorhanden. Den heutigen Jungen bereiten die Klima- und Biodiversitätskrise, die demografische Alterung oder der Krieg in der Ukraine Sorge. Trotzdem hoffe ich, dass auch meine Enkelkinder gut alt werden können.

Jan Burckhardt: Die Zuversicht von früher – eine feste Stelle und der Traum vom Einfamilienhäuschen – fehlt heute. Ich rechne nicht damit, dass ich ein Leben lang einem einzigen Beruf nachgehen und mich dann pensionieren lassen werde. Die Arbeitswelt verändert sich rasend schnell.

Glauben Sie, dass Sie in über 40 Jahren eine AHV-Rente erhalten werden?

Burckhardt: Ja. Das Umlageverfahren verleiht der AHV Stabilität. Finanziert wird sie vor allem von den Reichen – und von denen gibt es in der Schweiz viele.

Welche Bedeutung hat die AHV für Sie?

Burckhardt: Dank der AHV können ältere Menschen in Würde leben – und das relativ fair, sicher und kostengünstig. Ich muss aber zugeben: Für mich liegt die Altersvorsorge in weiter Ferne. Themen wie die Klimakrise, der Krieg in der Ukraine oder die psychische Gesundheit der jungen Menschen beschäftigen mich stärker.

Widmer-Schlumpf: Die AHV ist das wichtigste Sozialwerk der Schweiz. Zusammen mit den Ergänzungsleistungen sichert sie die Existenz der älteren Menschen, unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Situation. Ich sehe aktuell keine Alternative zu diesem Modell. Die Ergänzungsleistungen reichen aber manchmal nicht aus – sie müssen dort, wo finanzielle Not existiert, gezielt ausgebaut werden. So werden Betreuungsleistungen derzeit nicht entschädigt. Die AHV generell auszubauen wäre meines Erachtens aus heutiger Sicht nicht zielführend.

Einige schämen sich, Ergänzungsleistungen zu beziehen.

Widmer-Schlumpf: Dafür muss sich niemand schämen – das ist ein Anspruch. Allerdings wissen viele ältere Menschen gar nicht, dass sie Ergänzungsleistungen beziehen könnten, wie eine Umfrage von Pro Senectute Schweiz zeigte. Daneben ist oftmals auch ein freiwilliger Vermögensverzicht ein Grund dafür, dass ältere Menschen keinen Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben. Diesbezüglich ist eine Sensibilisierung wichtig. Am nachhaltigsten ist es jedoch, sich schon in jungen Jahren mit der Altersvorsorge zu beschäftigen. Grundsätzlich gilt: Wer einen guten Job hat, verfügt in der Regel über eine zweite Säule. Wir müssen daher allen eine möglichst gute Ausbildung ermöglichen.

Burckhardt: Nicht alle haben einen guten Job – und viele Menschen sind nicht mehr bereit, ein Leben lang 100 Prozent zu arbeiten. Neue Lebensrealitäten und Familienmodelle sind in den Sozialversicherungen zu wenig stark abgebildet.

Widmer-Schlumpf: Reformbedarf besteht vor allem in der zweiten Säule: In der beruflichen Vorsorge gehen Teilzeitarbeitende mit tiefen Einkommen heute praktisch leer aus – darunter auch viele Frauen. In der AHV lassen sich Erziehungs- und Betreuungsgutschriften hingegen anrechnen.

«Arbeit ist nicht per se etwas Negatives»: Eveline Widmer-Schlumpf (Foto: Marcel Giebisch/BSV)

Herr Burckhardt, Sie gehören zur Generation Z, der man nachsagt, sie strebe vor allem nach Sinnhaftigkeit. Stimmen Sie dem zu?

Burckhardt: Karriere als Selbstzweck macht vor dem Hintergrund der Klimakrise wenig Sinn. Und logisch: Mitbestimmung im Job ist wichtig. Viele meiner Generation sind nicht bereit, auf Kosten ihrer psychischen Gesundheit zu arbeiten. Eine politische Forderung der Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände ist deshalb eine Arbeitszeitreduktion während der Ausbildung. Gemäss einer Umfrage der Uni Basel leiden seit der Corona-Pandemie ein Drittel der 14- bis 24-Jährigen an schweren depressiven Symptomen – das ist ein Drittel einer Generation. Diese Menschen müssen wir schützen: Auch während einer Lehre sollen soziale Kontakte und freiwilliges Engagement möglich sein.

Widmer-Schlumpf: Arbeit ist nicht per se etwas Negatives. Keine Arbeit zu haben, ist mindestens so belastend. Auch junge Menschen arbeiten gerne und haben Freude an einem Karriereschritt. Kommt hinzu: Jeder hat andere Ressourcen. Das war schon früher so. Wichtig scheint mir eine gute Atmosphäre im Betrieb: Welchen Umgang pflegen die Vorgesetzten mit den Lernenden? Gehen Sie auf Bedürfnisse der Mitarbeitenden mit Kindern ein?

Burckhardt: Die Alltagsrealität ist leider zu oft eine andere, und da müssten gerade Sozialwerke besser greifen. Auch jemand, der mit 30 Jahren ein Burnout erleidet, soll ein würdevolles Leben führen können.

Widmer-Schlumpf: Ihre Generation hat stark unter den Einschränkungen der Corona-Pandemie gelitten. Etwas Vergleichbares haben wir in unserer Jugend nicht erlebt.

Burckhardt: Schon vor Corona war die Versorgungslücke in der Jugendpsychiatrie dramatisch. Aber es stimmt: Die Pandemie hat meine Generation psychisch am stärksten getroffen. Trotzdem ist bisher kein Rappen der staatlichen Corona-Gelder in die Förderung der psychischen Gesundheit von jungen Menschen geflossen. Das stimmt mich traurig.

Widmer-Schlumpf: Die Situation ist tatsächlich unbefriedigend. Anlass zur Sorge gibt vor allem die Tatsache, dass auch in diesem Bereich ein Fachkräftemangel herrscht.

«Viele meiner Generation sind nicht bereit, auf Kosten ihrer psychischen Gesundheit zu arbeiten»

Während der Pandemie mussten sich die Jungen stark einschränken, um die Älteren zu schützen. Wie haben Sie diese Solidarität zwischen den Generationen erlebt?

Burckhardt: Die meisten jungen Menschen haben die Massnahmen solidarisch mitgetragen. Mich wurmt es, wenn ich nun sehe, wie wir mit den negativen Nachwirkungen alleine gelassen werden.

Widmer-Schlumpf: Auch Betagte in Heimen haben stark unter den Kontakteinschränkungen gelitten. Ich meine aber, dass die Solidarität zwischen den Generationen während des Lockdowns gut funktioniert hat. So gingen beispielsweise viele Junge für ältere Personen einkaufen.

Während der Pandemie spielte Solidarität zwischen den Generationen eine grosse Rolle. Wie sieht es grundsätzlich aus?

Widmer-Schlumpf: In der Familie funktioniert die Solidarität gut, sogar besser als vor 40 Jahren. Viele Grosseltern – ich miteingeschlossen – helfen beispielsweise bei der Kinderbetreuung oder pflegen ihre betagten Eltern. Am meisten Freiwilligenarbeit leisten die 65- bis 74-Jährigen, auch in Sport und Kultur. Trotzdem habe ich das Gefühl: Die Generationen leben mehr nebeneinander als miteinander.

Burckhardt: Gerade in der Bewältigung der Klimakrise fühle ich mich von den älteren Generationen im Stich gelassen. Ermutigende Gegenbeispiele wie die Klimaseniorinnen scheinen eine schöne Ausnahme zu bleiben.

Widmer-Schlumpf: Im Kleinen funktioniert der Austausch zwischen den Generationen. So haben wir in meiner Wohngemeinde beispielsweise vor Jahren mit grosser Mehrheit den Solarausbau beschlossen – Junge und Ältere zusammen.

Burckhardt: Einverstanden. Wir müssen deshalb Gefässe schaffen, die eine Diskussion auf Augenhöhe ermöglichen. Ein positives Beispiel war der «Bürger:innenrat für Ernährungspolitik», wo 80 zufällig ausgewählte Menschen aus der ganzen Schweiz über die Zukunft der Ernährung diskutierten.

«In der Bewältigung der Klimakrise fühle ich mich von den älteren Generationen im Stich gelassen»: Jan Burckhardt (Foto: Marcel Giebisch/BSV)

Wie pflegen Sie persönlich die Generationensolidarität?

Burckhardt: Ich wohne in einem Haus, in dem vom Baby bis zur Seniorin alle Generationen vertreten sind. Da hüte ich Kinder oder helfe beim Kistentragen – im Gegenzug näht die pensionierte Lehrerin mal was für mich. Das ist inspirierend.

Widmer-Schlumpf: Durchmischte Quartiere sind wichtig. Dabei müssen die Gemeinden auch baulich stärker auf die Bedürfnisse von Jung und Alt eingehen: Wo ein Kinderwagen durchpasst, passt auch ein Rollator durch.

Auf politischer Ebene drohen die Jungen von den Älteren überstimmt zu werden. Wie sehen Sie das?

Burckhardt: Die älteren Generationen sind am Schalthebel der Macht. Im Nationalrat ist das jüngste Drittel der Bevölkerung nur mit drei Prozent vertreten – im Ständerat gar nicht.

Widmer-Schlumpf: Eine Frage beschäftigt mich schon lange: Warum gehen nicht mehr Junge abstimmen? Wie können wir das ändern?

Burckhardt: Wenn wir jungen Menschen schon früh die Möglichkeit geben, politisch mitzureden, wecken wir das Interesse an der Politik. Eine einfache Lösung wäre das Stimmrechtsalter 16, dem der Nationalrat im Juni hoffentlich zustimmt. Zudem müssen wir vermehrt über Adultismus reden – die allgegenwärtige Diskriminierung junger Menschen. Diese manifestiert sich beispielsweise, wenn wir eine Forderung oder Kritik unreflektiert als «kindisch» bezeichnen. Statt Kinder zu belächeln, sollten wir ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie sich einbringen dürfen.

Widmer-Schlumpf: Sie haben sicher recht damit, dass Diskriminierung auch über die Ausdrucksweise erfolgt. Auch ältere Menschen sind davon betroffen. «Âgisme» ist ein Problem, das auch Pro Senectute beschäftigt.

«Wo ein Kinderwagen durchpasst, passt auch ein Rollator durch.»

Was ist zu tun?

Widmer-Schlumpf: Wir müssen in der Schule mehr über Politik sprechen. Pro Senectute plant mit einem sogenannten Debattiermodul rund um die Altersvorsorge in die Schulen zu gehen.

Burckhardt: Eine wichtige Rolle spielen auch die Jugendsession, Jugendparlamente und Kinderräte.

Die demografische Alterung verschiebt das Gleichgewicht zuungunsten der Jungen.

Widmer-Schlumpf: Es ist eine Verallgemeinerung, alle älteren Menschen in einen Topf zu werfen. Es gibt auch unter den Jungen solche, die traditioneller argumentieren als viele 80-Jährige – etwa indem sie gegen Umweltschutz und gegen Gleichstellung sind. Aber im Grundsatz ist es wohl schon so: Anliegen von Jüngeren haben es in der Politik oft schwerer. Denken wir nur an die Krippenfinanzierung.

Burckhardt: Ich bin überzeugt: Auch alte Menschen könnten im Interesse junger und zukünftiger Generationen abstimmen.

Das Bild des Alters hat sich in den vergangenen 75 Jahren AHV verändert. Heutige Senioren biken oder machen Aktivferien.

Widmer-Schlumpf: Nicht alle machen nur Ferien. Sehr viele sind als Freiwillige im Einsatz. Ohne sie würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren.

Inwiefern hat sich auch das Bild der Jungen verändert?

Widmer-Schlumpf: Das traditionelle Familienmuster verändert sich. Heute ist es gesellschaftlich besser akzeptiert, dass sich Frauen und Männer berufliche und familiäre Arbeit aufteilen. Unbezahlte Arbeit wird aber weiterhin mehrheitlich von Frauen geleistet. Da sind die jungen Männer gefordert.

Burckhardt: Die Wertschätzung von Care-Arbeit muss verbessert werden. Zusammen mit einer soliden AHV, einem funktionierenden Klima- und Biodiversitätsschutz und einem ausgebauten Service Public ist sie ein wichtiger Faktor, damit auch ich mich dereinst auf meine Pensionierung freuen kann.

Eveline Widmer-Schlumpf

Die ehemalige Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf ist Präsidentin von Pro Senectute Schweiz. Sie wohnt in Felsberg GR und hat drei Kinder, sieben Enkelkinder und ist 67 Jahre alt.

Jan Burckhardt

Der 21-jährige Jan Burckhardt ist Co-Präsident der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV). Er lebt in Urtenen BE in einer generationenübergreifenden Wohngemeinschaft.

Leiter Öffentlichkeitsarbeit, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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Chefredaktor, Soziale Sicherheit (CHSS)
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