«Armutsbetroffene müssen unbedingt einbezogen werden»

An der Nationalen Konferenz gegen Armut vom August 2024 ist das Konzept eines Rats für Armutsfragen in der Schweiz vorgestellt worden. Das Projekt basiert auf den gemeinsamen Überlegungen von Fachleuten und armutserfahrenen Personen. Eine davon ist Karine Donzallaz aus Freiburg.
Gabrielle D’Aloia, Mélanie Sauvain
  |  22. August 2024
    Interview
  • Armut
Die 44-jährige Karine Donzallaz lässt ihre Beteiligung am Projekt «Rat für Armutsfragen» Revue passieren. (Foto: BSV)

Frau Donzallaz, Sie gehören zu den 50 Personen mit Armutserfahrung, die das Projekt «Rat für Armutsfragen in der Schweiz» mitgestaltet haben. Wie sind Sie zu diesem Projekt gekommen?

Ich habe bereits zuvor an verschiedenen Projekten von Sophie Guerry und Caroline Reynaud zum Thema Armut teilgenommen. Wenn die beiden Professorinnen der Hochschule für soziale Arbeit in Freiburg ein neues Projekt haben, bin ich immer dabei, weil ich weiss, wie engagiert sie sind. So war ich 2018 als Sozialhilfeempfängerin an einem Pilotprojekt für angehende Sozialarbeiterinnen und -arbeiter sowie Sozialpädagoginnen und -pädagogen beteiligt.

Was hat Sie zur Teilnahme an diesem Projekt bewogen?

Durch das Projekt bekommen meine Armutserfahrung und meine Zeit als Sozialhilfeempfängerin einen Sinn. Bevor ich selbst betroffen war, wusste ich nichts über Personen, die Sozialhilfe empfangen, oder über die Gesetze und Auflagen. Als ich dann selber armutsbetroffen war, erfuhr ich institutionelle Gewalt. Es wird viel über die Pflichten und Aufgaben gesprochen, aber nie wirklich über die Rechte von Armutsbetroffenen. Das Gefühl, die eigene Würde und Freiheit sowie gewissermassen auch den freien Willen zu verlieren, ist sehr präsent. Das Projekt machte mich wieder mehr zur Akteurin meines eigenen Lebens. Ich empfand die Teilnahme als anregend, wertschätzend und bereichernd. Durch meine Stimme kann ich den Belangen von Armutsbetroffenen Gehör verschaffen. Ausserdem konnte ich durch das Projekt neue soziale Kontakte knüpfen.

«Es wird viel über die Pflichten gesprochen, aber nie wirklich über die Rechte von Armutsbetroffenen»

Wie haben Sie sich konkret eingebracht?

Es fanden Workshops, Brainstormings und teilweise sehr lebhafte Treffen statt. Ich fand es interessant, so viele Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund – Sozialarbeit, Forschung, Politik, Armutserfahrung –, unterschiedlichen Lebensverläufen und aus unterschiedlichen Positionen zu treffen. Wir haben uns vor allem über die Integration von Armutsbetroffenen, über die verfügbare Ressourcen und die Prioritäten ausgetauscht. Zudem war für alle Beteiligten wichtig, dass wir Armutsbetroffenen nachhaltig bei Armutsfragen einbezogen werden.

Hatten Sie ein Hauptanliegen?

Für mich wäre der Zugang zu Rechtsberatung ein grosses Anliegen gewesen. Mir fehlten die finanziellen Mittel und ich musste versuchen, meine Rechte selbst zu vertreten. Man wird aber nicht von heute auf morgen zur juristischen Fachperson. Die rechtliche Unterstützung stand in den Workshops jedoch nicht im Vordergrund, auch wenn sie indirekt auf die eine oder andere Weise thematisiert wurde.

Welche Bilanz ziehen Sie nach der Zusammenarbeit von Armutserfahrenen und Fachpersonen aus dem Armutsbereich? Sehen Sie ein Vorher-Nachher?

Ja, ich sehe tatsächlich ein Vorher-Nachher, versuche aber, realistisch zu bleiben. Bei einigen Personen aus Politik und Sozialarbeit habe ich gemerkt, dass sie sich wirklich engagieren und nach Lösungen suchen wollen. Das beruhigt und ermutigt mich. Ich bin überzeugt, dass das gemeinsame Engagement von Armutsbetroffenen und Fachpersonen hilfreich sein wird und der Rat tatsächlich umgesetzt werden kann.

Welche Vorteile sehen Sie darin, wenn armutserfahrene Personen an Projekten zur Armutsbekämpfung mitwirken?

Niemand kennt sich so gut mit dem Thema aus wie die Betroffenen. Es gibt immer wieder politische Bestrebungen, das Sozialhilfebudget zu kürzen. Es heisst, die Sozialhilfe würde zum Leben mehr als ausreichen oder sie würde Sozialhilfebeziehende dazu verleiten, auf der faulen Haut zu liegen. Doch wer nicht selber betroffen ist, ist sich möglicherweise nicht bewusst, dass die Sozialhilfe kaum zum Überleben reicht und zu einer sozialen Isolation führen kann. Von Armutsbetroffenen werden Mobilität, Flexibilität und ein gepflegtes Erscheinungsbild erwartet. Ohne die entsprechenden finanziellen Mittel ist all das aber unmöglich.

«Ich konnte durch das Projekt neue soziale Kontakte knüpfen»: Karine Donzallaz. (Foto: BSV)

Voraussichtlich Ende Jahr soll darüber entschieden werden, ob der Rat für Armutsfragen geschaffen wird. Mit welchen Argumenten würden Sie den Bundesrat davon überzeugen, dass es den Rat braucht?

Soziale Fragen haben in der Schweiz keine Priorität, vor allem, wenn es etwas kostet. Ich glaube aber an dieses Projekt und daran, dass es sinnvoll ist. Die Angelegenheit ist dringend, denn die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer grösser. Wir müssen schnell handeln. Wenn die Schweiz als eines der reichsten Länder der Welt kein tragfähiges System der sozialen Sicherheit zustande bringt, wer dann? Und als Rechtsstaat gehört der Zugang zur sozialen Sicherheit in der Schweiz zu den Grundrechten. Ausserdem würde ich dem Bundesrat sagen, dass Armutsbetroffene einbezogen werden müssen, da sie die Herausforderungen am besten beurteilen können und am besten wissen, wie der Alltag einer Person aussieht, die sich beim Einkaufen zwischen einem Joghurt und einem Salat entscheiden muss. Im Hinblick auf die aktuelle Politik würde ich anfügen, dass gezielte Präventionsmassnahmen letztlich billiger sind als die Folgen von Alibi-Massnahmen. Dadurch könnten die Kosten der sozialen Sicherheit gesenkt werden.

Wird Armutsfragen Ihrer Meinung nach genug Bedeutung beigemessen? Ist die Schweiz auf dem richtigen Weg?

Ich denke, dass wir auf dem Weg sind und uns in die richtige Richtung bewegen. Davon, dass sich ein Bewusstsein für Armutsfragen entwickelt, kann man aber noch nicht sprechen. Es sind Ideen da, aber die Finanzierung für die Umsetzung fehlt. Dieser Schritt ist schwierig und ich fürchte, dass es letztlich am Geld scheitern wird.

Was ist zu tun?

Man müsste gezielter vorgehen und Betroffene stärker einbeziehen. Vielleicht muss man auch daran erinnern, dass man sich das Armsein nicht aussucht. Die Gründe sind meist strukturell und nicht persönlich bedingt. Hinzu kommt, dass sich Vorurteile leider hartnäckig halten. Personen, die Sozialhilfe beziehen, werden immer wieder als Betrüger bezeichnet. Für mich ist dieser Vorwurf gleichbedeutend mit der Aussage, dass alle Politiker korrupt sind.

Wenn der Rat für Armutsfragen tatsächlich geschaffen wird, würden Sie dann gerne Einsitz nehmen?

Ich bin sehr zuversichtlich, dass der Rat geschaffen wird. Und ich wäre gerne Mitglied. Ich verspüre eine innere Rebellion, die mich antreibt. Und als Ratsmitglied könnte ich auf pragmatische und effiziente Weise dazu beitragen, die Situation zu verändern.

Bericht «Rat für Armutsfragen in der Schweiz»

Im Auftrag der Nationalen Plattform gegen Armut schlägt ein Forschungsbericht vor, in der Schweiz einen Rat für Armutsfragen einzurichten. Eine solche Struktur würde es ermöglichen, das Fachwissen von Menschen mit Armutserfahrung in die gesellschaftspolitische Debatte einzubringen. Der Bericht wurde im Rahmen eines partizipativen Prozesses erstellt, an dem über 50 Personen mit Armutserfahrung sowie Fachleute aus der Verwaltung und der Sozialen Arbeit beteiligt waren.

Redaktorin, Öffentlichkeitsarbeit, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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Projektleiterin,
Öffentlichkeitsarbeit, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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