Auf einen Blick
- Über 1,3 Millionen Menschen in der Schweiz leben am Existenzminimum oder darunter.
- Besonders armutsgefährdet sind Familien – und damit auch Kinder.
- Bund, Kantone und Gemeinden müssen eine gemeinsame Armutsstrategie mit messbaren Zielen und verbindlichen Massnahmen entwickeln.
Über 1,3 Millionen Menschen in der Schweiz waren im Jahr 2022 von Armut betroffen oder bedroht. Knapp ein Sechstel der Bevölkerung hat also ein deutlich tieferes Einkommen als die Mitte der Gesellschaft. Von diesen Personen erreichten gut 700 000 das Existenzminimum der Sozialhilfe nicht. Viele leben gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS) in einem Haushalt mit mindestens einem Erwerbseinkommen.
Arbeit reduziert das Armutsrisiko zwar deutlich, bietet aber keinen garantierten Schutz. Ein tiefer Lohn, Teilzeitarbeit oder atypische Arbeitsverhältnisse wie Arbeit auf Abruf im Stundenlohn führen häufig zu prekären Situationen.
Betroffen sind auch viele Kinder: Im Schnitt leben etwa drei Kinder pro Schulklasse in einem Haushalt, der sich das Nötigste kaum leisten kann. Kinder, die mit einer alleinerziehenden Mutter oder (seltener) mit einem alleinerziehenden Vater aufwachsen, sind laut dem BFS besonders gefährdet. Das ist dramatisch, denn Kinder, die in Armut aufwachsen, sind häufig auch als Erwachsene in einer prekären finanziellen Situation und haben gesundheitliche Probleme.
Armut bedeutet nicht nur, zu wenig Geld zum Leben zu haben. Häufig gehen fehlende finanzielle Ressourcen einher mit weiteren Einschränkungen oder mangelnden Chancen. Ein Beispiel sind eingeschränkte Bildungschancen: Eine Weiterbildung im Erwachsenenalter ist selten eine Option, da die Bildungskosten und ein Einkommensausfall nicht tragbar sind. Und viele Betroffene kämpfen mit gesundheitlichen Problemen. Gerade die psychische Belastung einer prekären Situation ist nicht zu unterschätzen.
Armutsgrenze restriktive definiert
Armut wird in der Schweiz sehr eng definiert. Im Jahr 2022 lag die Armutsgrenze des BFS für Einzelpersonen bei durchschnittlich 2284 Franken pro Monat. Bei einer vierköpfigen Familie liegt die Armutsgrenze bei 4010 Franken. Davon müssen Wohnen, Essen, Kleider, Mobilität, Haushaltsführung, Handy und Internet, persönliche Pflege sowie Bildungs- und Freizeitangebote bezahlt werden.
Diese Grenze orientiert sich an den Ausgaben des einkommensschwächsten Zehntels der Bevölkerung. Die Definition beruht auf der Annahme, dass die Ausgaben der ärmsten zehn Prozent für ein würdiges Leben ausreichen.
Aus Sicht von Caritas Schweiz ist das ein gefährlicher Zirkelschluss: Diese Haushalte geben so wenig aus, weil sie nicht mehr Geld zur Verfügung haben. Das bedeutet nicht, dass das genug ist. Sicher reicht dieser Betrag nicht für die Teilhabe an der Gesellschaft. Ein Kaffee auswärts oder ein Schwimmbadeintritt für die ganze Familie sind nur selten und unter Entbehrungen in anderen Bereichen möglich.
Familien besonders betroffen
Auch Haushalte, die knapp über der Armutsgrenze leben, haben nicht genug zum Leben. Und das betrifft viele, wie eine Untersuchung der Berner Fachhochschule im Auftrag von Caritas Schweiz zeigt: Würde die Armutsgrenze im Kanton Bern um 500 Franken erhöht, wären doppelt so viele Menschen arm. Das bedeutet, dass sich sehr viele Haushalte in einem prekären Bereich knapp über der Armutsgrenze befinden – und das sind zu einem grossen Teil Haushalte mit Kindern (Hümbelin und Lehmann 2022).
Es erstaunt nicht, dass Familien finanziell deutlich schlechter dastehen als vergleichbare kinderlose Haushalte – denn Kinder verursachen Kosten, können aber nichts zum Einkommen beitragen. Mit Kindern braucht man eine grössere Wohnung, man bezahlt mehr Krankenkassenprämien, und die Ausgaben für Essen, Kleider und so weiter steigen. Zudem fallen hohe Kosten für die familienexterne Kinderbetreuung an, oder mindestens ein Elternteil – häufig die Mutter – reduziert das Erwerbspensum deutlich. In beiden Fällen schrumpft das verfügbare Einkommen.
Eine gute Familienpolitik könnte dem entgegenwirken. Die Sozialleistungen für Familien sind in der Schweiz aber gering und die Kitakosten sehr hoch.
Wohnen und Krankenkasse als Armutstreiber
Armut ist kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem. Es sind beispielsweise die fehlende Chancengleichheit im Bildungssystem, prekäre Arbeitsverhältnisse, teure Kinderbetreuung oder Sparmassnahmen bei Sozialversicherungen, die viele Menschen in prekäre Situationen drängen. In den vergangenen Jahren haben die steigenden Lebenshaltungskosten – insbesondere die hohen Krankenkassenprämien und die steigenden Wohnungsmieten – den Druck auf das verfügbare Einkommen erhöht. Für viele Haushalte und besonders für Familien sind diese Kosten nicht mehr tragbar.
Das spürt auch die Caritas in ihren Angeboten. In den Caritas-Märkten wurde im Jahr 2023 fast ein Drittel mehr Einkäufe getätigt als noch 2021. Vor allem Grundnahrungsmittel wurden verstärkt nachgefragt. Auch die Nachfrage nach Sozial- und Schuldenberatungen und finanzieller Unterstützung hat deutlich zugenommen. Viele Hilfesuchenden haben bereits Ausstände bei den Krankenkassenprämien. Im Kanton Jura unterstützte die Caritas im Jahr 2023 über 20 Prozent mehr Personen als im Vorjahr – viele von ihnen kamen zum ersten Mal in die Beratungsstelle. In anderen Regionen sind die Erfahrungen ähnlich.
Armutspolitik muss höhere Priorität haben
Die Bundesverfassung sichert in Artikel 12 allen Menschen in der Schweiz ein Leben in Würde und die dazu notwendigen Mittel zu. Artikel 41 hält zudem fest, dass Bund, Kantone und Gemeinden sich für angemessene Arbeitsbedingungen, gerechte Bildungschancen, angemessene Wohnungen, Zugang zu Gesundheit und einen besonderen Schutz für Familien und Kinder einsetzen. Zudem hat sich die Schweiz mit der Agenda 2030 zu einer nachhaltigen Entwicklung verpflichtet: Ziel 1 lautet, die Armut bis 2030 um mindestens die Hälfte zu reduzieren.
Trotzdem hat die Armutspolitik in der Schweiz bislang kaum Priorität. Das sieht man unter anderem an folgenden Tatsachen:
- In den vergangenen zehn Jahren hat die Armut in der Schweiz zugenommen. Zu viele Menschen und vor allem Kinder leben unter dem oder am Existenzminimum.
- Schätzungsweise rund ein Drittel all jener, die Anspruch auf Sozialhilfe haben, verzichtet auf diese Unterstützung. Das ist ein Problem für die Betroffenen und den Sozialstaat. Es gibt bislang zu wenig Anstrengungen, den Nichtbezug zu reduzieren.
- Es gibt keine gesamtschweizerische Armutsstrategie mit verbindlichen Zielen und Massnahmen. Die Nationale Plattform gegen Armut ist eine wertvolle Koordinationsplattform, kann aber keine verbindlichen Massnahmen beschliessen.
- Die Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 und die entsprechenden Aktionspläne, quasi die Umsetzung der UNO-Agenda 2030 in der Schweiz, setzen keinen Schwerpunkt bei der Armutsbekämpfung, und es fehlen entsprechende Massnahmen. Obwohl die Agenda 2030 klar das Ziel festhält, dass der Anteil Menschen unter der Armutsgrenze um die Hälfte reduziert werden soll.
- Es gibt zu wenig belastbare Daten zur Armutssituation in der Schweiz. Einige Kantone haben angefangen, die Situation in ihrem Kanton anhand von verknüpften Steuerdaten abzubilden. Leider ist das immer noch eine Minderheit. Und nur vereinzelt werden aufgrund der Analysen konkrete Massnahmen ergriffen.
Armutspolitik ist eine klassische Querschnittsaufgabe. Sie betrifft alle Staatsebenen und fast alle Politikbereiche. Das macht sie komplex. Und deshalb ist eine gute Koordination aller Akteure so wichtig. Es ist erfreulich, dass die eidgenössischen Räte den Bundesrat in der Herbstsession 2024 mit der Annahme einer Motion von SP-Nationalrätin Estelle Revaz beauftragt haben, die Nationale Plattform gegen Armut zu verlängern und mit ausreichenden Mitteln auszustatten sowie eine nationale Strategie gegen Armut zu verabschieden.
Nun müssen Bund, Kantone und Gemeinden eine gemeinsame Armutsstrategie mit messbaren Zielen und verbindlichen Massnahmen entwickeln. Damit könnten sie zeigen, dass sie ihre Verantwortung gegenüber all jenen Menschen in der Schweiz ernst nehmen, die ihren Lebensunterhalt kaum finanzieren können.
Literaturverzeichnis
Hümbelin, Oliver; Lehmann, Olivier Tim (2022). Schätzung der Zahl der Menschen in finanziell schwierigen Lebenslagen knapp oberhalb der Armutsgrenze. Berner Fachhochschule.