Röstigraben bei der familienergänzenden Kinderbetreuung

Die Zahl der familienergänzenden Betreuungsplätze für Kinder nimmt in allen Kantonen zu. In der Westschweiz sowie in städtisch geprägten Kantonen gibt es deutlich mehr Plätze als anderswo.
Pierre Lüssi
  |  12. Dezember 2024
    Forschung und Statistik
  • Familie
  • Kinder
In der Westschweiz ist die Zahl der familienergänzenden Betreuungsplätze pro Kind höher als in der Deutschschweiz. Kita im Kanton Waadt. (Keystone)

Auf einen Blick

  • Eine neue Studie zeigt: In der Kitabetreuung haben in den vergangenen vier Jahren alle Kantone die Zahl der Plätze ausgebaut, allerdings auf unterschiedlichem Niveau.
  • Für die schulergänzende Betreuung wurde erstmals die Anzahl der Plätze erfasst.
  • Kinder in der Westschweiz sowie in urban geprägten Kantonen nutzen die Angebote häufiger als Kinder in den anderen Kantonen.

Idealerweise sollten Eltern Familien-, Haus- und Erwerbsarbeit nach ihren eigenen Vorstellungen aufteilen können (vgl. Lüssi und Lütolf 2024). Um dieses Ziel zu erreichen, ist – neben der Elternzeit beim Start ins Familienleben – die familienergänzende Kinderbetreuung zentral. Eine aktuelle Studie im Auftrag der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) zeigt: Im Vorschulbereich stehen heute mehr Betreuungsplätze zur Verfügung als noch vor vier Jahren – sowohl absolut als auch in Bezug auf die Betreuungsquote (Lüssi 2024).

Allerdings bestehen zwischen den Kantonen grosse Unterschiede: Während in Basel-Stadt für jedes zweite Kind ein Kitaplatz vorhanden ist, liegt diese Quote in Appenzell Innerrhoden bei 6 Prozent (siehe Grafik 1). Dabei fällt grundsätzlich auf, dass urban geprägte und ressourcenstarke Kantone wie Basel-Stadt, Genf, Zürich oder Zug (vgl. EFD 2024) mehr Kitaplätze aufweisen als strukturschwächere Kantone wie Appenzell Innerrhoden, Solothurn oder Glarus.

In den vergangenen vier Jahren wurde in allen Kantonen die Zahl der Betreuungsplätze im Vorschulalter ausgebaut. Die kantonalen Unterschiede haben sich jedoch nicht reduziert, sondern tendenziell noch akzentuiert.

Ein leicht anderes Bild ergibt sich, wenn man die schulergänzende Kinderbetreuung betrachtet. Ins Auge sticht nun – zusätzlich zu den Unterschieden in Bezug auf Urbanität und Ressourcen – ein Röstigraben: In Neuenburg oder Genf wird mehr als jedes zweite Kind regelmässig schulergänzend betreut, während es in Kantonen wie Nidwalden oder Basel-Landschaft eher jedes zwanzigste Schulkind ist (siehe Grafik 2).

Finanzierung: Basel-Stadt an der Spitze

Erstmalig wurde erhoben, wie viel die Kantone (ohne Gemeinden) in die familienergänzende Kinderbetreuung investieren. Insgesamt gaben die Kantone im Untersuchungszeitraum jährlich knapp 490 Millionen Franken an Subventionen für die familienergänzende Kinderbetreuung aus.

Auch hier gibt es grosse Unterschiede: In Basel-Stadt oder im Jura werden kantonale Beiträge von über 2000 respektive 1500 Franken pro Kind und Jahr für die familienergänzende Kinderbetreuung geleistet. Demgegenüber sehen die Kantone Aargau, Basel-Landschaft, Solothurn, Thurgau, Zug und Zürich bis jetzt noch keine kantonalen Mittel zur Subventionierung vor. Sie überlassen diese Last gemäss dem Subsidiaritätsprinzip den Gemeinden (Vatter 2024), welche diese Aufgabe wiederum in unterschiedlichem Ausmass wahrnehmen.

Bei der Finanzierung der familienergänzenden Kinderbetreuung lässt sich somit ein ähnliches Muster erkennen: Westschweizer Kantone sowie urban geprägte Kantone stellen mehr finanzielle Mittel zur Verfügung als die übrigen Kantone.

Grundsätzlich fällt auf, dass die Kantone selbst deutlich mehr in den Vorschulbereich investieren als in den schulergänzenden Bereich. Dies liegt unter anderem daran, dass zwölf Kantone in ihren gesetzlichen Grundlagen ausschliesslich eine Subventionierung im Vorschulbereich vorsehen und nur fünf Kantone ergänzend oder ausschliesslich die schulergänzende Betreuung subventionieren.

Uneinheitliche Datenerhebung

Erschwert wird der schweizweite Vergleich durch uneinheitliche Messinstrumente: Trotz einer meist hohen Bereitschaft der kantonalen Ansprechpersonen, Informationen bereitzustellen, erwies sich die Erhebung von interkantonal vergleichbaren Zahlen als schwierig. Zum einen bestehen in den Kantonen unterschiedliche Definitionen und ein uneinheitliches Verständnis davon, welches die verschiedenen Formen der familienergänzenden Kinderbetreuung sind. Von grösserer Tragweite ist das Nichtvorhandensein von Statistiken und Übersichten zu den wichtigsten Elementen der familienergänzenden Kinderbetreuung in mehreren Kantonen. Selbst grundlegende Indikatoren wie die Anzahl der angebotenen Plätze und die Anzahl der betreuten Kinder werden nicht regelmässig erhoben.

Für ein schweizweites Monitoring der familienergänzenden Kinderbetreuung besteht daher ein dringender Bedarf nach Vereinheitlichung der Messindikatoren, sei es auf horizontaler Ebene durch die Kantone oder auf vertikaler Ebene durch den Bund. Im Zuge der Debatte über die parlamentarische Initiative zur familienergänzenden Kinderbetreuung (Überführung der Anstossfinanzierung in eine zeitgemässe Lösung) – und zusätzlich vor dem Hintergrund der zustande gekommenen «Kita-Initiative» – befasst sich derzeit auch der Ständerat mit der Problematik. Bundesrat und Nationalrat haben bereits eine schweizweite Statistik der familienergänzenden Kinderbetreuung unter Mitarbeit der Kantone gefordert.

Rolle des Bundes klären

In der familienergänzenden Kinderbetreuung gibt es derzeit eine grosse Dynamik: Die kantonalen Unterschiede bezüglich Angebot, Nutzung und Finanzierung haben sich in den letzten vier Jahren akzentuiert und verlaufen insbesondere entlang der Sprachgrenzen. Nebst französischsprachigen Kantonen weisen auch urban geprägte Kantone ein höheres Angebot auf (siehe auch BFS 2024: 19–21). Zudem überarbeiten derzeit mehrere Kantone die rechtlichen Grundlagen in der Kinderbetreuung. In den meisten Fällen sehen sie auch eine kantonale Mitfinanzierung vor. Immer mehr Kantone erheben entsprechende Daten.

Was bleibt, ist die Frage für Politik und Gesellschaft, welche Ziele die Politik im Bereich der Finanzierung und der Subventionierung der familienergänzenden Kinderbetreuung anstreben soll. Eine Forderung, welche wiederholt in Wissenschaft und Gesellschaft aufkeimt, ist eine bezahlbare und gut ausgebaute familienergänzende Kinderbetreuung (vgl. Hotz et al. 2024; Friedli 2024), damit Paare die Familien-, die Haus- und die Erwerbsarbeit nach ihren eigenen Vorstellungen aufteilen können.

Darüber hinaus gilt es die Kompetenzfrage zu stellen, insbesondere, welche Funktion der Bund in diesem Politikfeld übernehmen kann, soll und wird (Häusermann und Bürgisser 2022). Das Parlament hat aktuell neben der Finanzierung vor allem beim Monitoring der familienergänzenden Kinderbetreuung die Möglichkeit, zentrale Herausforderungen in der Familienpolitik anzugehen.

Literaturverzeichnis

BFS (2024). Erhebung zu Familien und Generationen 2023. Erste Ergebnisse.

EFD (2024). Nationaler Finanzausgleich.

Friedli, Daniel (2024). Das unheilige Krippenspiel. Neue Zürcher Zeitung am Sonntag. Seiten 22–23. 1. September.

Häusermann, Silja; Bürgisser, Reto (2022). Familienpolitik. In: Papadopoulos, Yannis; Sciarini, Pascal; Vatter, Adrian; Häusermann, Silja; Emmenegger, Patrick; Fossati, Flavia (Hrsg.). Handbuch der Schweizer Politik. 931–954.

Hotz, Anna; Gisiger, Jasmin; Bade, Stephanie (2024). Familie und Beruf: Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Soziale Sicherheit CHSS. 20. Februar.

Lüssi, Pierre (2024). Überblick zur Situation der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung in den Kantonen. Studie im Auftrag der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK).

Lüssi, Pierre; Lütolf, Meret (2024). Ein neues Familienmodell als Standard für Politik und Gesellschaft. Soziale Sicherheit CHSS. 30. Januar.

Vatter, Adrian (2024). Das politische System der Schweiz.

Doktorand und Assistent am Institut für Politikwissenschaft (IPW), Universität Bern
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