«Das Bundesgericht kann die gesellschaftliche Realität nicht im Alleingang ändern»

Das Bundesgericht hat die Bedingungen für nacheheliche Unterhaltszahlungen verschärft. Dies treffe insbesondere ältere geschiedene Hausfrauen und Mütter mit gutverdienenden Ex-Ehemännern, sagen die Forschenden Heidi Stutz und Severin Bischof vom Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS).
Barbara Lienhard
  |  28. November 2023
    Forschung und StatistikInterviewRecht und Politik
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Severin Bischof und Heidi Stutz vom Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS). (Bild: BASS, Fotomontage: CHSS)

Herr Bischof, Sie haben den Einfluss von Ereignissen wie Geburten, Trennungen und Scheidungen auf die wirtschaftliche Situation von Familien in der Schweiz untersucht. Wie steht es um die finanzielle Situation von Familien?

Severin Bischof: Grundsätzlich sehen wir, dass die wirtschaftliche Situation von Familien schwieriger ist als jene von alleinlebenden Personen oder Paarhaushalten ohne Kinder. Einerseits muss bei Familien das Einkommen für mehrere Personen reichen, andererseits reduziert sich die Erwerbsarbeit und somit das Einkommen in der Regel, weil Kinderbetreuung geleistet werden muss.

Und was passiert bei einer Trennung oder Scheidung?

Bischof: Wenn Eltern getrennt sind, sind sie häufiger in einer schwierigen finanziellen Situation. Besonders betroffen sind Einelternhaushalte mit Kindern unter 25 Jahren.

Und das sind vor allem Mütter?

Bischof: Ja. Gerade bei besagten Einelternhaushalten sehen wir einen starken Geschlechtereffekt. 80 Prozent der Mütter leben nach der Trennung allein mit den Kindern. 16 Prozent von ihnen sind auf Sozialhilfe angewiesen. Der hohe Sozialhilfeanteil hat auch mit der fehlenden Mankoteilung zu tun: Wenn das Einkommen der Eltern nicht ausreicht, um in beiden Haushalten die Existenz zu sichern, trägt die anspruchsberechtigte Person – meistens die Mutter – dieses Manko alleine. Sprich: Sie muss Sozialhilfe beantragen. Direkt nach der Trennung lebt knapp die Hälfte der Mütter, meist mit ihren Kindern, in einer Situation mit geringen oder sehr geringen finanziellen Mitteln. Das ist eine markante Verschlechterung gegenüber ihrer Situation vor der Trennung und betrifft nach unseren Hochrechnungen knapp 9000 Mütter pro Jahr. Väter befinden sich hingegen nach der Trennung nicht häufiger als vorher in prekären finanziellen Situationen.

«80 Prozent der Mütter leben nach der Trennung allein mit den Kindern»

Verändert sich das über die Zeit?

Bischof: Wir sehen, dass sich die Situation der Mütter ein bis zwei Jahre nach der Trennung in der Regel deutlich verbessert. Einerseits erhalten sie zu diesem Zeitpunkt meist Unterhaltszahlungen des Ex-Partners, andererseits können sie teilweise ihr Erwerbseinkommen etwas erhöhen. Die Situation dieser Frauen ist aber immer noch doppelt so oft prekär wie vor der Trennung. Bei den Vätern sieht die Situation ganz anders aus: Vor der Trennung verdienen Väter in der Regel wesentlich mehr als ihre Partnerinnen und wir sehen, dass sie sich auch ein bis zwei Jahre nach der Trennung kaum häufiger in prekären Situationen befinden. Dabei haben wir Unterhaltszahlungen einberechnet. Aus den Daten nicht ersichtlich sind allfällige Kosten, die für Väter entstehen, die einen Teil der Kinderbetreuung nach der Scheidung übernehmen. Das kann zum Beispiel die Miete für eine grössere Wohnung sein, damit die Kinder einen Teil der Zeit bei ihnen wohnen können.

Welche Erklärung haben Sie für die bessere finanzielle Situation der Väter?

Bischof: Dafür müssen wir weiter zurückschauen, und zwar zur Geburt des ersten Kindes. Es sind grösstenteils die Mütter, die ihr Pensum zugunsten der Kinderbetreuung reduzieren und dann vom Einkommen des Partners abhängig sind. Bei jeder zweiten Mutter gab es 2014 mindestens eine Halbierung ihres Einkommens bei der Geburt des ersten Kindes. Väter hingegen reduzieren ihr Erwerbspensum kaum. Was bemerkenswert ist: Auch wenn die Kinder älter werden, ändert sich daran wenig.

Heidi Stutz: Seit einigen Jahren bleiben Mütter häufiger erwerbstätig, aber die Pensen sind oft klein und werden über die Zeit nicht stärker erhöht. Das gilt auch für geschiedene oder getrennt lebende Mütter. 15 bis 20 Prozent der Mütter mit schulpflichtigen Kindern würden gerne mehr arbeiten, finden aber keine Stelle mit höherem Pensum und machbarem Arbeitsweg.

Mütter tragen also in der Regel die grösseren finanziellen Nachteile nach einer Scheidung oder Trennung. Auch unter Einberechnung der Unterhaltszahlungen durch den Ex-Partner bleibt dieser Effekt bestehen. Sie haben Daten zwischen 1987 und 2015 ausgewertet. Nun hat das Bundesgericht in den letzten Jahren die Bedingungen für den «nachehelichen Unterhalt», also Zahlungen für den Unterhalt der Ex-Partnerin beziehungsweise des Ex-Partners nach der Scheidung, verschärft. Was werden die finanziellen Folgen sein für geschiedene Mütter und Väter?

Bischof: Die finanziellen Folgen einer Trennung für die Person mit dem geringeren Einkommen waren bereits vor den neuen Regelungen zum Unterhalt einschneidend. Es ist also kein gänzlich neues Problem.

Stutz: Das Problem betrifft fast nur Eltern mit einseitiger Arbeitsteilung, aber das sind nach wie vor ziemlich viele. Wenn Mütter vom Einkommen des Partners mitfinanziert wurden, müssen sie sich nach der Trennung darum kümmern, wie sie zurechtkommen. Dieses Problem haben Väter in der Regel nicht. Das Recht ist Richtung Gleichstellung vorangegangen. Bereits mit der Revision des Unterhaltsrechts 2017 wurde neu ein Betreuungsunterhalt eingeführt, also eine Entschädigung für die Betreuungsarbeit, die damit aus dem nachehelichen Unterhalt ausgegliedert wurde. Der Betreuungsunterhalt ist Teil des Kindesunterhalts. Es ist an sich richtig, die Zahlung an der unbezahlten Arbeit festzumachen und nicht an der Ehe. Nur ist der Betreuungsunterhalt rudimentär ausgestaltet und das Bundesgericht hat den Anspruch darauf mit einem Schulstufenmodell verbunden, das regelt, zu wieviel Prozent die Mutter erwerbstätig sein muss, um zum Familienunterhalt beizutragen. Stand früher der sogenannte Ausgleich ehelicher Nachteile im Vordergrund, also die Idee, dass die Folgen der während der Ehe gelebten Rollenverteilung von den Eheleuten gemeinsam getragen werden sollen, so werden diese Folgen mit den neuen Entscheiden viel weniger berücksichtigt und somit unterschätzt.

Was sind die Folgen?

Stutz: Es handelt sich um eine Änderung der Regeln im laufenden Spiel, um einen Ausdruck der Rechtsprofessorin Andrea Büchler zu verwenden. Mit der Änderung wird klargestellt, dass eine Ex-Gattin grundsätzlich selbst für sich aufkommen muss. Aber Mütter, die vor Jahren beruflich zurücksteckten und den Hauptteil der Betreuungsaufgaben übernahmen, durften davon ausgehen, dass sie über den Ehemann finanziell abgesichert sind. Sie können ihren Entscheid nicht nachträglich rückgängig machen. Allerdings haben die Finanzen für einen nachehelichen Unterhalt schon vorher oft nicht ausgereicht, weil Kindesunterhalt und Betreuungsunterhalt rechtlich vorgehen. Es sind insbesondere die älteren geschiedenen Hausfrauen und Mütter mit gutverdienenden Ex-Ehemännern, die stark betroffen sind.

Das Bundesgericht regelt ja auch, zu welchem Zeitpunkt die Wiederaufnahme der Erwerbsarbeit zu welchem Pensum neben der Kinderbetreuung zumutbar ist. Zuvor bestand nach einer Scheidung keine Verpflichtung zur Erwerbsarbeit, bevor das jüngste Kind zehn Jahre alt war. Nun gilt es für die betreuende Person grundsätzlich als zumutbar, fünfzig Prozent erwerbstätig zu sein, wenn das Kind eingeschult wird. Beim Eintritt in die Oberstufe ist eine Erwerbstätigkeit von achtzig Prozent zumutbar. Ist das Kind 16 Jahre alt, sind es hundert Prozent. Ist diese Regelung angemessen?

Stutz: Die alte Regel war von der gesellschaftlichen Realität längst überholt und eine Anpassung naheliegend. Der Anstieg ab der Oberstufe scheint mir jedoch ziemlich steil. Er berücksichtigt die Schwierigkeiten der Stellensuche und die eingeschränkten Verdienstchancen nach längeren Erwerbsunterbrüchen oder tiefen Teilzeitpensen kaum. Zudem müsste generell sichergestellt sein, dass die Möglichkeiten für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch tatsächlich gegeben sind.

Die Grundsatzentscheide des Bundesgerichts zur Änderung des nachehelichen

Unterhalts wurden von einem rein männlichen Richtergremium getroffen. Wäre das Resultat anders, hätten Frauen mitentschieden?

Stutz: Ich denke, bei einem gemischten Gremium wäre dieser Entscheid möglicherweise etwas näher an der Lebensrealität der Frauen ausgefallen. Bemerkenswert scheint mir, dass man sich bei solch weitreichenden Entscheiden offenbar nicht auf empirische Daten stützte, die diese Arbeitsmarktschwierigkeiten deutlich aufzeigen, sondern auf theoretische Überlegungen.

Diese Änderungen wurden mit dem Argument der Gleichstellung von Frauen und Männern eingeführt. Tragen sie tatsächlich zu mehr Gleichstellung bei?

Stutz: Es ist klar, dass es eine Modernisierung des Scheidungsrechts brauchte, da sich dieses stark am alten Eherecht und einer traditionellen Rollenteilung orientierte. Das Bundesgericht kann aber die gesellschaftliche Realität nicht im Alleingang ändern. Wie in allen Gleichstellungsthemen ist auch hier die Unterscheidung zwischen rechtlicher und tatsächlicher Gleichstellung entscheidend. Die rechtliche Gleichstellung hat dann diskriminierende Auswirkungen, wenn sie Frauen und Männer systematisch unterschiedlich betrifft, weil ihre realen Situationen ungleich sind. Das ist in der familiären Arbeitsteilung klar der Fall. Deshalb ist die Politik gefordert: Wenn man die gleiche Verantwortung von Müttern und Vätern für den Lebensunterhalt der Familie will, dann muss man die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür schaffen.

Das heisst?

Stutz: Schul- und Kindergartenzeiten müssten so ausgestaltet sein, dass für die Eltern Beruf und Familie tatsächlich vereinbar sind. Zudem bräuchte es flächendeckend erreichbare und bezahlbare Kinderbetreuungsangebote. In den Städten sind diese vielerorts vorhanden, aber in ländlicheren Gebieten fehlen Betreuungsstrukturen teilweise nach wie vor – oder es gibt Lücken, zum Beispiel bei der Betreuung während den Schulferien. Es bräuchte auch eine Elternzeit: Die grosse Mehrheit der jungen Mütter sagt, dass der bezahlte Mutterschaftsurlaub zu kurz sei. Nur knapp ein Fünftel aller Mütter ist 14 Wochen nach der Niederkunft bereits wieder erwerbstätig. Die Verlängerung finanzieren viele selbst, was bereits einen wirtschaftlichen Nachteil schafft. Wenn sie den Mutterschaftsurlaub nicht verlängern oder ihr Pensum nicht reduzieren können, sehen sich viele Frauen gezwungen zu kündigen. Das schafft einen Bruch in der Erwerbsbiografie. Mit einem für die Väter reservierten Anteil der Elternzeit hätten auch Männer die Chance, sich schon früh an der Betreuung zu beteiligen. Zudem werden heute Paare, wenn sie die Erwerbs- beziehungsweise die Familienarbeit egalitär aufteilen, immer noch finanziell bestraft, zum Beispiel in der Pensionskasse.

«Es bräuchte eine Elternzeit»

Was raten Sie Müttern?

Bischof: Sie sollen ihre finanzielle Unabhängigkeit möglichst bewahren, um bei einer allfälligen späteren Trennung nicht in eine schwierige Situation zu geraten. Trennungen und Scheidungen sind eine Realität: Die Scheidungsrate beträgt gut vierzig Prozent und bei jedem dritten Paar mit Kindern unter 25 Jahren kommt es zu einer Trennung. Eine egalitäre Arbeitsteilung mag kurzfristig im Hinblick auf höhere externe Kinderbetreuungskosten oder Steuerbeträge bei Verheirateten nicht lohnenswert sein, zahlt sich aber langfristig aus.

Stutz: Frauen brauchen ein stärkeres finanzielles Bewusstsein und es ist wichtig, dass sie beruflich ihr Leben in die Hand nehmen. Zusammen mit Alliance F haben wir den Simulationsrechner «Cash or Crash» entwickelt. Damit können die Effekte von Lebensentscheiden auf das kurzfristig verfügbare Einkommen und auf die langfristigen Verdienstchancen bis hin zur eigenen Altersrente berechnet werden. Noch ein Tipp, den man unverheirateten Müttern unbedingt mitgeben muss: Entweder ihr habt ähnliche Verdienstchancen wie eure Partner oder heiratet wenigstens! Die Person mit dem geringeren Einkommen ist in einer Ehe trotz allem immer noch deutlich besser abgesichert als ohne.

Severin Bischof und Heidi Stutz

Der Ökonom Severin Bischof ist beim Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) verantwortlich für Datenanalysen, Modelle und Prognosen. Im Februar 2023 erschien unter seiner Leitung die Studie «Die wirtschaftliche Situation von Familien in der Schweiz. Die Bedeutung von Geburten sowie Trennungen und Scheidungen» im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV). Heidi Stutz hat bei BASS lange Jahre die Bereiche «Familien» und «Gleichstellung von Frau und Mann» verantwortet. Sie war Co-Leiterin eines grösseren Forschungsprojekts zu getrennten Eltern und ihren Kindern, aus dem unter anderem 2022 ein Bericht für die Eidgenössische Familienkommission (EKFF) und das Bundesamt für Justiz (BJ, noch nicht publiziert) resultierten.

Dieses Interview ist am 28. November 2023 in der Fachzeitschrift «Frauenfragen» der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen (EKF) erschienen. Weitere Interviews, Fachartikel, Porträts und Infografiken zum Schwerpunktthema Geld aus einer Geschlechterperspektive sind unter Frauenkommission.ch zu finden.

Ehemalige Hochschulpraktikantin bei der EKF, Projektleiterin bei der Fachstelle für Gleichstellung Stadt Zürich
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