Auf einen Blick
- Der Bundesrat hat einen Postulatsbericht zur sozialen Absicherung von Selbstständigerwerbenden veröffentlicht.
- Eine Arbeitslosenversicherung für Selbstständige wäre mit grossen versicherungstechnischen Hürden verbunden.
- Selbstständige sollen das unternehmerische Risiko selber tragen.
Wie können Selbstständigerwerbende sozial besser abgesichert werden? Der Bundesrat hat diese Frage in einem im Dezember 2024 publizierten Bericht untersucht. Anlass ist ein Postulat des Walliser Mitte-Nationalrats Benjamin Roduit.
Im Bericht hat der Bundesrat analysiert, ob und allenfalls wie das Risiko eines Einkommensverlusts wegen mangelnder Auftragslage beziehungsweise Arbeitslosigkeit von Selbstständigerwerbenden versichert werden könnte. Zur Erinnerung: Selbstständige können bislang keine freiwillige Arbeitslosenversicherung abschliessen.
Personen in arbeitgeberähnlicher Stellung sind im Bericht nicht miterfasst. Denn so gelten beispielsweise Geschäftsführende einer eigenen Firma sozialversicherungsrechtlich als Arbeitnehmende. Ihrer nimmt sich die parlamentarische Initiative des Zürcher FDP-Nationalrats Andri Silberschmidt an. Er fordert einen besseren Versicherungsschutz bei Arbeitslosigkeit für diese Personengruppe. Der Bundesrat lehnt diese parlamentarische Initiative jedoch ab, da er das Missbrauchsrisiko als zu hoch einschätzt.
Geschäftsrisiko lässt sich kaum versichern
Der Postulatsbericht zeigt: Das Geschäftsrisiko von Selbstständigen – oder anders gesagt der Einkommensverlust infolge eines Auftragsmangels, der zu Arbeitslosigkeit führen kann – lässt sich kaum versichern. Dafür gibt es zwei Hauptgründe:
Erstens besteht bei einer freiwilligen Versicherung die Gefahr einer negativen Risikoselektion («adverse selection»). Da die Versicherungen nicht über ausreichend Informationen zur Risikoeinschätzung verfügen, müssen sie standardisierte Prämien festlegen, um die Gesamtkosten decken zu können. Selbstständige mit stabilen Auftragslagen neigen dazu, keine Versicherung abzuschliessen, weil sie die Prämien für zu hoch halten. Jene mit höherem Risiko hingegen – etwa aufgrund unsicherer Auftragslage – schliessen eine Versicherung ab, was zu einem Kreislauf von steigenden Prämien und sinkendem Interesse auch für die «schlechten Risiken» führt.
Zweitens besteht ein moralisches Risiko («moral hazard»), das sowohl bei obligatorischen als auch bei freiwilligen Versicherungen auftreten kann: Versicherte passen ihr Verhalten an, wenn sie davon ausgehen können, dass eine Versicherung im Risikofall den Schaden deckt. In der Folge betreiben sie weniger Aufwand, um den Schaden zu verhindern oder das Ausmass zu minimieren. Bei Selbstständigen, die ihren Geschäftsgang selbst steuern, sind die Fehlanreize und die Missbrauchsgefahr systemimmanent. Für die Versicherungen ist es schwierig, einzuschätzen, ob die Einkommensverluste durch konjunkturelle Schwankungen oder durch mangelndes Engagement herbeigeführt worden sind. Es fehlen hierfür Kontrollmöglichkeiten.
Wie machen es andere Länder?
Ein Vergleich zwischen verschiedenen Ländern ist anspruchsvoll. So ist die Absicherung von Selbstständigerwerbenden in einigen Ländern teils steuerfinanziert, was nicht einer Versicherung entspricht. In anderen Ländern wiederum sind nur Selbstständigerwerbende einer bestimmten Branche obligatorisch versichert.
Vor diesem Hintergrund zeigt ein länderübergreifender Vergleich der Systeme von 15 europäischen Staaten, dass nur zwei der untersuchten Länder (Spanien und Irland) über eine obligatorische Arbeitslosenversicherung für Selbstständigerwerbende verfügen, und zwei weitere Länder (Deutschland und Österreich) kennen eine freiwillige Arbeitslosenversicherung für Selbstständige. Andere Länder wiederum verfügen zwar über keine Arbeitslosenversicherung für Selbstständige, gewähren aber Leistungen an Stellensuchende, die Ansprüche aus einem früheren Arbeitsverhältnis erworben haben.
Alle untersuchten Staaten sind dabei mit den eingangs genannten Problemen «moralisches Risiko» und «negative Risikoselektion» konfrontiert. Sie reagieren darauf mit unterschiedlichen Massnahmen und versuchen die Fehlanreize einzuschränken:
- Pflicht zur Aufgabe der Selbstständigkeit vor Leistungsbezug: In den meisten Ländern müssen Selbstständigerwerbende ihre Tätigkeit vollständig aufgeben, bevor sie Arbeitslosenleistungen beziehen können.
- Begrenzung des Versicherungsschutzes: Einige Länder schränken den Versicherungsschutz ein, indem Taggelder im Verhältnis zu jenen der Arbeitnehmenden verringert oder die Bezugsdauer verkürzt oder die Beitragsdauer verlängert wird.
- Einkommensunabhängige Leistungen: In einigen Ländern besteht der Versicherungsschutz unabhängig vom tatsächlich erzielten Einkommen. Entweder gibt es eine einheitliche Grundsicherung, oder die Selbstständigen können die Höhe des versicherten Einkommens selber wählen. Ein auf Pauschalen (Beiträge und Leistungen) basierendes System vereinfacht grundsätzlich die Umsetzung. Aktuell wenden zum Beispiel Österreich und Deutschland ein solches System an. Bis 2023 praktizierte auch Spanien ein entsprechendes Versicherungssystem; dieses hat sich aber nicht bewährt: Die meisten Versicherten wählten einen Mindestschutz, der nicht dem tatsächlich erzielten Einkommen entsprach.
Administrativer Aufwand nimmt zu
Die Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, dass Kontrollmechanismen notwendig sind, um Missbrauch zu verhindern. Sie verursachen für Versicherungen jedoch zusätzliche administrative Kosten und erhöhen den bürokratischen Aufwand. Und die Überprüfung der Einhaltung dieser Regeln ist ressourcenintensiv. Für die Selbstständigerwerbenden führen die Einschränkungen des Versicherungsschutzes schliesslich zu einem schlechten Kosten-Nutzen-Verhältnis.
Für eine Arbeitslosenversicherung für Selbstständigerwerbende in der Schweiz besteht zwar eine Verfassungsgrundlage, doch die bereits erwähnten Umsetzungsschwierigkeiten und der hohe administrative Aufwand überwiegen die Vorteile.
Denkbar für die Schweiz wäre auch eine Integration der Absicherung bei Arbeitslosigkeit in die Erwerbsersatzordnung. Der Bericht zeigt: Auch dieses Modell hat den Nachteil hoher administrativer Komplexität und bedeutender Fehlanreize.
Ein von der Gewerkschaft Syndicom entwickeltes Modell wiederum schlägt vor, dass Selbstständigerwerbende und ihre Kunden gemeinsam eine obligatorische Reserve bilden. Diese Reserve soll die Auftragsmängel finanziell überbrücken. Zwar können Fehlanreize bei diesem Modell reduziert werden, aber das individuelle Ansparen einer Reserve und eine dreijährige Wartezeit vor einem Leistungsanspruch machen das System unattraktiv.
GmbH als Ausweg?
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Bericht in Erfüllung des Postulats Roduit zeigt die versicherungsökonomischen Hürden und Umsetzungsschwierigkeiten auf und schlägt keine Massnahmen vor. Selbstständigerwerbende sollen weiterhin die Gewinnchancen und Verlustrisiken, die mit ihrer Tätigkeit verbunden sind, selber tragen. Sie tun gut daran, bei gutem Geschäftsgang finanzielle Reserven aufzubauen, um schlechte Auftragslagen auszugleichen, ohne die selbstständige Erwerbstätigkeit aufgeben zu müssen. Geben sie ihre selbstständige Erwerbstätigkeit dennoch in einer Anfangsphase auf, können sie unter Umständen bereits heute als Stellensuchende Leistungen der Arbeitslosenversicherung erhalten.
Angesichts der Erkenntnisse aus dem Postulatsbericht stellt sich die Frage, ob Selbstständigerwerbende nicht besser fahren, wenn sie eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder eine Aktiengesellschaft gründen. Denn als Arbeitnehmende einer Firma sind sie bei Arbeitslosigkeit besser abgesichert und obligatorisch in der Unfallversicherung und der beruflichen Vorsorge versichert. Diese Lösung bietet eine umfassendere soziale Absicherung, stellt jedoch höhere Anforderungen an rechtliche und finanzielle Verpflichtungen.
Es bleibt abzuwarten, ob und allenfalls wie der Gesetzgeber in der Schweiz Lösungen für die Absicherung von Selbstständigerwerbenden findet. Die Debatten zu diesem Thema sind politisch und ökonomisch komplex, und die bisherigen Ansätze haben gezeigt, dass der Weg zu einer tragfähigen Lösung mit vielen Herausforderungen verbunden ist.