Auf einen Blick
- Im Auftrag der Charta Sozialhilfe Schweiz hat eine Studie die materielle Situation von Kindern und Jugendlichen in der Sozialhilfe analysiert.
- Die Autorenschaft empfiehlt, den Grundbedarf für Familien mit Kindern realitätsnaher zu definieren und die Äquivalenzskala entsprechend weiterzuentwickeln.
- Hinsichtlich der Entrichtung kinderspezifischer situationsbedingter Leistungen braucht es mehr Klarheit und Verbindlichkeit bei den entsprechenden SKOS-Richtlinien.
Kinder und Jugendliche sind besonders armutsgefährdet: Insgesamt befinden sich in der Schweiz rund 270 000 Kinder und Jugendliche unter der Armutsgefährdungsgrenze – das ist jede sechste minderjährige Person, ein wesentlich höherer Anteil als bei Erwachsenen im Erwerbsalter (BFS 2024). Entsprechend machen Kinder und Jugendliche mit rund einem Drittel einen beträchtlichen Teil der von der Sozialhilfe unterstützten Personen aus. Minderjährige sind zudem überdurchschnittlich von Nichtbezug von Leistungen der Sozialhilfe betroffen, wie Untersuchungen für Basel-Stadt zeigen (Hümbelin et al. 2023).
Für die betroffenen Kinder ist Armut mit zahlreichen und erheblichen Risiken für ihre Entwicklung und ihr Wohlbefinden verbunden: Die Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe sind eingeschränkt, gesundheitliche Probleme und psychische Auffälligkeiten treten häufiger auf. Auch die späteren Lebenschancen bezüglich Ausbildung und Beruf werden negativ beeinflusst. Um hier Gegensteuer zu geben, ist die Schweiz im Jahr 1997 der Kinderrechtskonvention der UNO beigetreten und hat sich verpflichtet, Kindern ein sicheres, würdiges Leben zu ermöglichen (vgl. Bennour 2024).
In einer Studie haben wir im Auftrag der Charta Sozialhilfe Schweiz die materielle Situation von Kindern und Jugendlichen in der Sozialhilfe untersucht (Höglinger et al. 2024). Dabei stehen folgende Fragen im Zentrum: Sind die ausgerichteten Sozialhilfeleistungen angemessen, um die soziale Existenzsicherung der armutsbetroffenen Kinder und ihrer Familien zu gewährleisten? Und: Werden kinderspezifische Bedürfnisse ausreichend abgedeckt, namentlich in den für ihre Entwicklung besonders wichtigen Bereichen der Bildung und der sozialen Teilhabe?
Für die Studie haben wir die Theorie und die Praxis der Leistungsbemessung für Familien und Kinder in der Sozialhilfe vertieft analysiert und dabei auch Fachpersonen aus Sozialdiensten, Fachstellen und Budgetberatungsstellen aus verschiedenen Sprachregionen der Schweiz befragt. Unsere rechtswissenschaftlichen Mitautoren Pascal Coullery von der Berner Fachhochschule sowie Gülcan Akkaya und Peter Mösch von der Hochschule Luzern haben verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte betrachtet. In einem Exkurs geht die Studie auch auf die Situation von Minderjährigen im Asyl- und Flüchtlingsbereich ein, wo teils die tieferen Ansätze der Asylfürsorge zur Anwendung kommen (siehe Kasten).
Asylfürsorge: Prekäre Lage von Kindern
Während Flüchtlinge im Bedarfsfall Anspruch auf reguläre Sozialhilfe haben und der restlichen Bevölkerung diesbezüglich gleichgestellt sind, werden vorläufig Aufgenommene auch nach längerem Aufenthalt wie Asylsuchende mit den tieferen Ansätzen der Asylfürsorge unterstützt. Geflüchtete aus der Ukraine (Schutzstatus S) erhalten ebenfalls nur Asylfürsorge. Im Vergleich zum Grundbedarf der regulären Sozialhilfe, der sich am empirisch-statistisch ermittelten sozialen Existenzminimum orientiert, sind die Ansätze der Asylfürsorge generell tiefer, wobei das genaue Ausmass des Abstands je nach Kanton und teils auch zwischen den Gemeinden variiert. So fällt der Grundbedarf etwa bei einer Familie mit zwei Kindern zwischen 14 und 52 Prozent tiefer aus als bei der regulären Sozialhilfe (SKOS 2023). Entsprechend wird die soziale Existenzsicherung von Kindern in der Asylfürsorge auch von den befragten Fachpersonen als höchst prekär und unbefriedigend eingeschätzt. Von der Asylfürsorge unterstützte Kinder leben faktisch unter dem sozialen Existenzminimum. Dies hat negative Auswirkungen auf das Kindeswohl und die kindliche Entwicklung, erschwert ihre soziale Teilhabe wesentlich und mindert die Zukunftsperspektiven dieser besonders vulnerablen Kinder, die aufgrund ihres Fluchthintergrunds und ihrer rechtlich unsicheren Lage zusätzlich belastet sind. Geschätzt rund drei von zehn mit Sozialhilfe unterstützte Kinder werden mit den tieferen Ansätzen der Asylfürsorge unterstützt.
Tiefer Grundbedarf von Familien?
In der Sozialhilfe ist der Grundbedarf für den Lebensunterhalt – insbesondere für Familien – deutlich tiefer als bei anderen Ansätzen der sozialen Mindestsicherung wie etwa den Ergänzungsleistungen und dem betreibungsrechtlichen Existenzminimum (siehe Grafik). Die Höhe des Grundbedarfs für Mehrpersonenhaushalte wird dabei mittels der SKOS-Äquivalenzskala aus dem Referenzgrundbedarf für einen Einpersonenhaushalt abgeleitet, der sich am empirisch-statistisch ermittelten sozialen Existenzminimum orientiert. Die genaue Ausgestaltung der SKOS-Skala bestimmt damit wesentlich die Höhe der Leistungen, welche Familien mit Kindern erhalten.
In der Studie zeigen wir verschiedene kritische Punkte bei der SKOS-Skala auf. So ist die SKOS-Skala im Vergleich zu anderen gebräuchlichen Äquivalenzskalen ausgesprochen degressiv. Sprich: Die Gewichte für die zusätzlichen Haushaltsmitglieder verringern sich stark. Weiter unterscheidet die SKOS-Skala nicht zwischen jüngeren und älteren Kindern, während etwa bei der Bemessung der Ergänzungsleistungen für AHV/IV oder bei der Grundsicherung in Deutschland altersabgestufte Ansätze zur Anwendung kommen. Mit solchen Abstufungen kann den höheren Kosten für Essen, Kleidung und Hobbys bei älteren Kindern Rechnung getragen werden.
Situationsbedingte Leistungen zur Förderung der kindlichen Entwicklung
Was die Kriterien für die Entrichtung fördernder situationsbedingter Leistungen für Kinder betrifft, etwa für ausserschulische Nachhilfe oder Vereinsaktivitäten, sind die SKOS-Richtlinien relativ knapp und offen formuliert und belassen den Sozialdiensten viel Ermessensspielraum. Dies ermöglicht im Einzelfall zwar Flexibilität, ist aber eine Ursache für die von Gemeinde zu Gemeinde stark unterschiedliche Praxis – wie sich etwa bei der Kostenbeteiligung bei Skilagern zeigt (Roulin und Hassler 2023). Während stärker professionalisierte Sozialdienste den zentralen Stellenwert fördernder situationsbedingter Leistungen für das Kindeswohl und die kindliche Entwicklung anerkennen, gibt es Sozialdienste, bei welchen dieses Bewusstsein fehlt und diese Leistungen nur selten entrichtet werden.
Die grosse Heterogenität bei den kinderspezifischen situationsbedingten Leistungen übersteigt gemäss den befragten Fachpersonen dabei oftmals den Rahmen des Ermessens und erscheint willkürlich. Als Entscheidungsgrundlage sind die entsprechenden SKOS-Richtlinien allein oftmals ungeeignet, da wenig konkret. Hilfreicher sind die teils detaillierteren kantonalen Sozialhilfehandbücher sowie entsprechende praxiserprobte interne Richtlinien, über welche vor allem grössere Sozialdienste häufig verfügen.
Den Bedürfnissen der Kinder Rechnung tragen
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Sozialhilfeleistungen für Kinder und Jugendliche in der Schweiz sind teilweise unzureichend. Um die Situation von Kindern in der Sozialhilfe zu verbessern und den kinderrechtlichen Verpflichtungen verstärkt Geltung zu verschaffen, haben wir in der Studie eine Reihe an Handlungsempfehlungen formuliert.
Drei davon betreffen den Grundbedarf und die Äquivalenzskala:
- Abstufung nach Alter: Bei der Bemessung des Grundbedarfs in der Sozialhilfe ist mittels nach Alter abgestufter Leistungen den unterschiedlichen Bedürfnissen von Kindern Rechnung zu tragen, wie dies auch anderswo üblich ist, etwa bei den Ergänzungsleistungen oder beim Regelbedarf in Deutschland.
- Beiträge für zusätzliche Kinder erhöhen: Die SKOS-Skala ist im Vergleich zu anderen Skalen ausgeprägt degressiv, wobei die wissenschaftliche Grundlage hierfür bereits älteren Datums und zudem nicht so eindeutig ist, wie dies der Tragweite der Skala bei der Bedarfsbemessung für Familien angemessen wäre. Es ist zu befürchten, dass bei Familienhaushalten die Ansätze beim Grundbedarf zu tief sind, um eine angemessene Existenzsicherung zu gewährleisten, und dass eine strukturelle Unterdeckung besteht.
- Regelmässige empirische Überprüfung des Referenzgrundbedarfs: Aus dem Grundbedarf für einen Einpersonenhaushalt leiten sich die Ansätze für alle weiteren Haushalte ab, auch für Familienhaushalte mit Kindern. Es ist deshalb sicherzustellen, dass dieser Ausgangspunkt der Bedarfsbemessung sachgerecht und aktuell ist. So ist eine Neuermittlung in einem festen Rhythmus anzustreben und dabei das verwendete methodische Verfahren kritisch zu reflektieren und weiterzuentwickeln.
Zwei Empfehlungen haben die kinderspezifischen situationsbedingten Leistungen im Blick:
- SKOS-Richtlinien stärker konkretisieren: Präzisere Formulierungen zu den kinderspezifischen situationsbedingten Leistungen dienen den Sozialdiensten und den einzelnen Sozialarbeitenden als Orientierungshilfe. Sie begünstigen eine transparentere und fairere Entscheidungsfindung.
- Kinderspezifische Pauschalen: Als Alternative zu den situationsbedingten Kostenübernahmen ist die Einführung einer monatlichen Pauschale für bestimmte kinderspezifische Leistungen zu prüfen, wie sie etwa der Kanton Genf einführt. Für die Sozialdienste sinkt dadurch der administrative Aufwand, und die betroffenen Familien werden in ihrer Autonomie gestärkt.
Weitere Empfehlungen zielen darauf ab, den Bedürfnissen und Rechten von Kindern in der Sozialhilfe generell verstärkt Geltung zu verschaffen:
- Kinderbedürfnis ins Zentrum stellen: In den Sozialdiensten ist das Bewusstsein für die Bedürfnisse wie auch die Rechte der Kinder zu schärfen, und die Mitarbeitenden sind entsprechend gezielt weiterzubilden. Bei Massnahmen, die Kinder betreffen, ist gemäss Kinderrechtskonvention das übergeordnete Kindesinteresse vorrangig zu berücksichtigen.
- Partizipation stärken: Kinder haben ein Recht darauf, bei Angelegenheiten, die sie betreffen, angehört zu werden. Sozialdienste sind gefordert, den situations- und altersgerechten Einbezug von Kindern zu fördern, und es sind entsprechende Grundlagen und Voraussetzungen zu schaffen.
- Rechtliche Anpassungen auf Kantonsebene: Die geltenden verfassungs- und völkerrechtlichen Normen zum sozialen Existenzminimum von Kindern sind im kantonalen Sozialhilferecht stärker zu verankern und bei der Weiterentwicklung des Sozialhilferechts konsequent mit zu berücksichtigen.
Die hier nicht abschliessend aufgeführten Handlungsempfehlungen der Studie streben in ihrer Gesamtheit eine nachhaltige Verbesserung der Lebensqualität und der sozialen Teilhabe von armutsbetroffenen Kindern in der Schweiz an, während gleichzeitig deren Zukunftsperspektiven gestärkt werden sollen. Dies dient nicht nur dem Wohl der betroffenen Kinder, sondern trägt auch massgeblich zum langfristigen Wohlstand und Zusammenhalt der Gesellschaft bei.
Literaturverzeichnis
Bennour, Salomon (2024). Armut in der Schweiz: Kinder häufig betroffen, Soziale Sicherheit CHSS, 5. März.
BFS (2024). Armutsgefährdung, nach verschiedenen soziodemografischen Merkmalen, 2007–2022, 26. März.
Garcia Delahaye, Sylvia; Dubath, Caroline; Patrizi, Elena; Stanić, Paola (2024). La pauvreté en héritage : une fatalité ? Donne une place aux enfants à l’aide sociale. ARTIAS Dossier du mois.
Höglinger, Dominic; Heusser, Caroline; Sager, Patrice (2024). Die materielle Situation von Kindern und Jugendlichen in der Sozialhilfe. Studie im Auftrag der Charta Sozialhilfe. Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS). Unter Mitarbeit von Pascal Coullery (BFH), Gülcan Akkaya und Peter Mösch (HSLU).
Hümbelin, Oliver; Elsener, Nadine; Lehmann, Olivier (2023). Nichtbezug von Sozialhilfe in der Stadt Basel, 2016–2020. Berner Fachhochschule.
Roulin, Christophe; Hassler, Benedikt (2023). Vergleich von Sozialhilfeleistungen in fünf Schweizer Kantonen (HarmSoz). Fachhochschule Nordwestschweiz.
SKOS (2023). Der Grundbedarf für den Lebensunterhalt in der Asylsozialhilfe. Fachliche Positionierung SKOS.