«Es ist nicht genug zu wissen, man muss es auch tun»

Wie soll ein möglicher Rat für Armutsfragen in der Schweiz aussehen? Der Basler Pierre Bayerdörfer hat an einem Forschungsbericht mitgearbeitet, der die Schaffung eines solchen partizipativen Gefässes vorschlägt. Dieser Bericht ist im August 2024 an der Nationalen Konferenz gegen Armut präsentiert worden.
Gabrielle D’Aloia, Mélanie Sauvain
  |  22. August 2024
    Interview
  • Armut
Der 65-jährige Pierre Bayerdörfer hat am Forschungsbericht zur Schaffung eines Rates für Armutsfragen mitgewirkt. (Foto: BSV)

Herr Bayerdörfer, Sie gehören zu den 50 Personen mit Armutserfahrung, die an der Entwicklung einer ständigen Beteiligungsstruktur im Bereich Armut auf nationaler Ebene mitgewirkt haben. Wie sind Sie zu diesem Projekt gekommen?

Im Jahr 2016 habe ich den Verein Workfair 50+ gegründet, der sich um Menschen kümmert, die nach dem 45. Lebensjahr arbeitslos werden und im Alter von 65 Jahren in Armut leben, weil ihnen die zweite Säule fehlt. Die Nationale Plattform gegen Armut hat mich gefragt, ob ich an einer Arbeitssitzung teilnehmen möchte. So hat es angefangen.

Was hat sie zur Teilnahme am Projekt bewogen?

Zunächst war ich skeptisch. Doch dann hielt ich es für sinnvoll, mir zuerst anzuschauen, worum es geht, und mich erst dann zu entscheiden. Ich habe mich von Anfang an wohl gefühlt, deshalb bin ich geblieben. Dazu muss man wissen, dass Menschen mit Armutserfahrung in der Regel zu Hause bleiben und nicht gerne in der Öffentlichkeit stehen. Ich fand es interessant, wie sich Betroffene offen engagieren und alles dafür tun, damit sich etwas bewegt.

Worin genau bestand Ihre Arbeit? Hatten Sie besondere Aufgaben?

Die Sitzungen waren sehr offen gehalten. Alle konnten sich frei an den Diskussionen beteiligen. Ich befasste mich vor allem mit Fragen in Zusammenhang mit dem ersten Arbeitsmarkt und habe mich für Menschen eingesetzt, die ihre Arbeit verlieren und bei denen das Risiko gross ist, mit 65 Jahren von Armut betroffen zu sein. Denn mit einer durchschnittlichen AHV-Rente von 1800 Franken pro Monat kommt man nicht weit. Man kann gerade mal die Miete bezahlen. Grundsätzlich versuche ich immer, meine politischen und wirtschaftlichen Kenntnisse überall dort einzubringen, wo es sinnvoll ist und wo ich gebraucht werde. Am Ende habe ich sogar den Workshop zum Rat für Armutsfragen an der Nationalen Konferenz gegen Armut mitorganisiert.

Welche persönliche Bilanz ziehen Sie nach der Zusammenarbeit von Armutserfahrenen und Fachpersonen aus dem Armutsbereichs?

Es war eine weitere Erfahrung, nachdem ich mittlerweile seit über 20 Jahren in diesem Bereich tätig bin. Bei der ehrenamtlichen Tätigkeit in meinem Verein arbeite ich direkt mit Armutsbetroffenen zusammen. Der partizipative Prozess des Projekts war neu für mich: Hier trafen Menschen, die wie ich aus Selbsthilfeorganisationen kommen, auf teilweise sehr arme Menschen sowie Fachleute. Meine Beteiligung am Projekt hat mir gezeigt, dass es immer mehr Armutsbetroffene gibt, die hinstehen und proaktiv über ihre Probleme sprechen. Und das, obwohl Armut in der Schweiz immer noch versteckt gelebt wird. Rückblickend sehe ich die beeindruckende Arbeit, die die armutserfahrenen Personen geleistet haben.

«Es gibt immer mehr Armutsbetroffene, die hinstehen und proaktiv über ihre Probleme sprechen»

Welche Vorteile sehen Sie darin, wenn armutserfahrene Personen an Projekten zur Armutsbekämpfung mitwirken?

Ich finde es gut, den persönlichen und den fachlichen Ansatz miteinander zu verknüpfen. Das ermöglicht ein umfassendes Bild. Es ist wie mit dem Matterhorn: Von der Schweiz aus sieht man das tolle Fotomotiv, von Italien aus einen gewöhnlichen Berg. Man hat das Gefühl, zwei verschiedene Sachen zu sehen, obwohl man in Wirklichkeit auf das gleiche Objekt blickt. In der Armutsbekämpfung muss man zunächst einmal die wichtigsten Probleme erkennen, danach allerdings auch an konkreten Lösungen arbeiten. Wie heisst es so schön? «Es ist nicht genug zu wissen, man muss es auch tun.» Und die Beteiligung von armutserfahrenen Personen am Projekt darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass daneben zu viele Personen nicht gehört werden.

Voraussichtlich Ende Jahr soll darüber entschieden werden, ob der Rat für Armutsfragen geschaffen wird. Mit welchen Argumenten würden Sie den Bundesrat davon überzeugen, dass es diesen Rat braucht?

Der Bundesrat hat sich zum Ziel gesetzt, die Armut in der Schweiz bis 2030 zu halbieren. Das wären rund 350 000 Armutsbetroffene weniger als heute. Wenn der Bundesrat nichts unternimmt, wird sich wenig ändern. Es ist wichtig, die Menschen ernst zu nehmen und ihnen eine echte Chance auf Teilhabe zu ermöglichen. Ein funktionierender Rat für Armutsfragen könnte einiges bewirken. Voraussetzung ist jedoch, dass es sich nicht um eine Alibi-Struktur handelt und dass der Rat über die nötigen Ressourcen verfügt.

«Die meisten Menschen wissen nicht, was Armut ist»: Pierre Bayerdörfer. (Foto: BSV)

Wird Armutsfragen in der Schweiz genug Bedeutung beigemessen?

Nein. Die meisten Menschen wissen nicht, was Armut ist. In Fernsehdebatten zum Thema sieht man Gäste, die völlig an der Realität vorbei reden. Sie haben keine Ahnung, was es bedeutet, mit 1800 Franken im Monat auszukommen und über keinerlei Polster für unerwartete Rechnungen zu verfügen. Es kommen nur Menschen zu Wort, die selber nicht betroffen sind oder die das Problem leugnen. Dabei ist das Problem riesig. Nur, weil sich eine Statistik verbessert, gibt es nicht weniger Armutsbetroffene. Aktuell ist es wichtig, die Nationale Plattform gegen Armut zu unterstützen, denn sie macht Armut sichtbar. In der Schweiz gibt es Armutsbetroffene, und wir werden nicht locker lassen.

Wenn der Rat für Armutsfragen tatsächlich geschaffen wird, würden Sie dann gerne Einsitz nehmen?

Da bin ich offen. Mir liegen organisatorische Aufgaben. Als Logistikleiter und Hockeytrainer verfüge ich über Erfahrung in der Wirtschaft und im Sportbereich. Ich sehe meine Rolle nicht auf, sondern hinter der Bühne.

Ein Forschungsbericht, der von der nationalen Plattform gegen Armut in Auftrag geben wurde, schlägt vor, in der Schweiz einen Rat für Armutsfragen einzurichten. Eine solche Struktur würde es ermöglichen, das Fachwissen von Menschen mit Armutserfahrung in die gesellschaftspolitische Debatte einzubringen. Der Bericht wurde im Rahmen eines partizipativen Prozesses erstellt, an dem über 50 Personen mit Armutserfahrung sowie Fachleute aus der Verwaltung und der Sozialen Arbeit beteiligt waren.

Redaktorin, Öffentlichkeitsarbeit, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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Projektleiterin,
Öffentlichkeitsarbeit, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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