Familien zwischen Raum und Zeit

Räumliche und zeitliche Voraussetzungen sind für die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben entscheidend – wobei die Entfernung zum Arbeitsplatz und zu den Betreuungsangeboten sowie die Arbeits- und Betreuungszeiten ausschlaggebend sind.
Gabriela Muri
  |  02. Mai 2024
    Forschung und Statistik
  • Familie
Besonders belastungsanfällig sind Eltern von jungen Kindern. (Keystone)

Auf einen Blick

  • Wohnort, Arbeitszeit, Alltagswege und Betreuung: Raum- und Zeitfaktoren prägen den Familienalltag.
  • Die Möglichkeiten der Familien, den Alltag zu gestalten, sind ungleich verteilt.
  • Familien mit jungen Kindern, in Schichtarbeit, mit wenig Einkommen sowie Einelternhaushalte haben am wenigsten Wahlmöglichkeiten.

Die zunehmend komplexen Familienarrangements – wie beispielsweise Einelternhaushalte oder Patchwork- und Regenbogenfamilien – haben Auswirkungen auf die Koordinationsaufgaben im Alltag. Familien sollten daher unter dem Aspekt des «Doing Family» betrachtet werden (Jurczyk 2020), sprich: Welcher Elternteil übernimmt wie viel Hausarbeit? Wer bringt die Kinder in die Kita? Wer investiert wie viel Zeit in die Berufskarriere? Wer hat einen wie langen Arbeitsweg? Und bei Patchwork- oder getrennt lebenden Familien: Wo übernachten die Kinder?

Eine Befragung von Familien in der Schweiz von Ende 2022 zeigt: Familien wünschen sich mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit, Möglichkeiten für Teilzeitarbeit, einen längeren Mutterschafts- und Vaterschaftsurlaub, mehr Verständnis von Arbeitgebenden für die Betreuung von Angehörigen und eine bessere Aufteilung der Zeit in der Partnerschaft (Gnaegi und Miller 2023: 6–20).

Wohnorte, Arbeitswege, erreichbare Betreuungsangebote für Kinder oder Angehörige oder familienfreundliche Arbeitszeiten stellen daher Schlüsselfaktoren für die Bewältigung des Alltags dar. Familiärer Stress führt zu gesundheitlichen Belastungen. Die Aufgabenverteilung zwischen Eltern und die Kinderbetreuung gehören zu den häufigsten Ursachen.

Erschöpfung nimmt zu

Besonders belastungsanfällig sind Eltern von jungen Kindern: In der «Rush Hour of Life» müssen sie Karriereziele, Arbeitszeiten und die Kinderbetreuung während der Randzeiten miteinander abstimmen (Muri und Kubat 2018). Aktuelle Daten des Job-Stress-Index der Schweizerischen Gesundheitsförderung (2022) zeigen, dass der Anteil der emotional Erschöpften unter den Erwerbstätigen deutlich höher ist als vor sechs Jahren – wobei Frauen (48%) gemäss einer weiteren Befragung (Sotomo 2018) häufiger betroffen sind als Männer (35%). Demnach leiden Frauen häufiger unter Mehrfachbelastungen und sind sowohl zu Hause als auch bei der Arbeit öfter erschöpft.

Familien mit multilokalen Wohnarrangements – insbesondere getrennt lebende Familien, Patchworkfamilien oder Einelternhaushalte – müssen zwei oder mehr Haushalte organisieren und finanzieren. Beide Elternteile benötigen eine Wohnung, die den Kindern genügend Platz bietet. Solche Familien verfügen daher meist über geringere finanzielle Mittel als Familien mit einem Wohnort. Davon betroffen sind besonders Einelternhaushalte (Bischof et al. 2023: 4–19), die aus finanziellen Gründen häufiger an periphere Lagen mit schlechter Anbindung umziehen müssen (Kaufmann et al. 2023).

Für Familien mit multilokalen Arrangements ist die Vereinbarkeit von Arbeitsweg, Arbeitszeiten und Betreuung besonders anspruchsvoll: Absprachen müssen mit mehreren Bezugspersonen organisiert werden. Das aufwendige «Balancemanagement» (Mental Load) sowie die Betreuungsarbeit bewältigen dabei nach wie vor vorwiegend die Mütter.

Besonders armutsgefährdet sind nebst Einelternhaushalten auch Familien mit drei oder mehr Kindern (BFS 2021: 51). Armutsgefährdete Familien wohnen dabei häufiger an schlecht erschlossenen Wohnlagen, da sie in Bezug auf Wohn- und Arbeitsort eingeschränkter sind als wohlhabende Familien. Sie müssen in der Folge oft längere Arbeitswege in Kauf nehmen. Sie arbeiten häufiger in Schichtarbeitsverhältnissen, haben weniger flexible Arbeitszeiten oder leisten Arbeit auf Abruf (Travailsuisse 2023: 21). Dies stellt erhebliche Erschwernisse für die Alltagsbewältigung dar (siehe auch BWO 2020: 17). Weniger Autonomie in der zeitlichen Gestaltung der Arbeit, lange Arbeitswege oder zu wenig Zeit für Familienarbeit verstärken gesundheitliche Belastungen im Alltag.

Eltern mit tiefem Einkommen oder mit Migrationshintergrund, Hilfsarbeitskräfte und Frauen arbeiten häufiger Schicht, auf Abruf und nachts (BFS 2022: 1). Häufig fehlt es dabei an öffentlichen Verkehrsmitteln für den Arbeitsweg. Dies hat weitreichende und belastende Folgen für den Familienalltag: Der dicht getaktete Zeitplan bei Arbeit auf Abruf ist nicht vereinbar mit festen Betreuungszeiten für Kinder (Travailsuisse 2023: 29). So benötigt etwa bei Mitarbeitenden von Transportunternehmen der Heimweg viel Zeit, was zulasten des Familienlebens geht. Dies beeinflusst die Balance zwischen Beruf und Erholung ebenso wie die Gesundheit.

Mehrfach belastete Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen bewältigen Herausforderungen auf mehreren Ebenen: Rund ein Fünftel aller 25- bis 80-Jährigen unterstützt mindestens einmal wöchentlich eingeschränkte Personen im Umfeld (BFS 2021: 2). Oft übernehmen Eltern von kleinen Kindern Pflegeaufgaben. Gleiches gilt für Frauen zwischen 40 und 50 Jahren, die in Beruf und Familie gleichzeitig gefordert sind.

Nicht alle Arbeitgeber nehmen auf Anliegen wie Pensumsreduktion oder kurzfristige Urlaube Rücksicht, oder Mitarbeitende kennen zur Verfügung stehende Entlastungsangebote zu wenig (Travailsuisse 2023: 47–48). So ist ein chronischer Verlauf der Belastungen häufig, und die familiären Netzwerke zeigen mit den Jahren Erschöpfungsanzeichen. Auch wenn die Vielfalt an Tages- und Nachtstrukturen für die Betreuung von Angehörigen in spezifischen Gruppen hoch ist, liegen diese oft in der Nähe von Zentrumslagen oder sind zu wenig bekannt (Neukomm et al. 2019: V).

Politik ist gefordert

Der Fokus auf eine Raum-Zeit-Politik für Familien trägt dazu bei, dass sie bei besonderen Herausforderungen im Alltag entlastet werden. Dafür braucht es gesetzliche Grundlagen, an Zielgruppen orientierte pragmatische und situative Lösungen und einen Fokus auf Belastungsspitzen im Lebenslauf, weil bestimmte Lebensphasen besonders betroffen sind. Gemeinden, Kantone, Bund und Unternehmen müssen gemeinsam Lösungen für eine bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben entwickeln.

Im Fokus stehen dabei folgende Faktoren und Gegebenheiten:

  • Raum und Zeit: Der Wohnort, die Dauer des Arbeitswegs, geeignete Arbeitszeiten und erreichbare Betreuungsangebote sind Schlüsselfaktoren für die Bewältigung des Alltags von Familien.
  • Ungleiche Bedingungen und kumulierte Belastungen: Raum und Zeit sind wichtige Ressourcen für Familien, die ungleich verteilt sind. Sie gehören als Faktoren der Lebensbewältigung auf die Agenda der Armuts- und Gesundheitsprävention.
  • Belastungsspitzen im Lebenslauf: Die biografische Perspektive ermöglicht es, den Blick auf sorgeintensive Phasen wie die «Rush Hour of Life» und den chronischen Charakter bei mehrfach belasteten Familien zu legen. Sie benötigen Unterstützungs- und Entlastungsangebote, die erreichbar sind und zeitliche Bedürfnisse abdecken.
  • Gemeinsame Ziele von Raum-Zeit- und Gender-Politik: Belastungen akzentuieren sich in multilokal lebenden Familien oder Einelternhaushalten nach wie vor zulasten der Frauen. Sie können als Chance genutzt werden, um das Arbeitsvolumen zwischen den Geschlechtern neu zu verteilen.
  • Herausforderungen des Subsidiaritätsprinzips als Chance nutzen: Dem Bund kommt eine zentrale Rolle bei der Schaffung gesetzlicher Grundlagen zu Arbeitszeiten oder bei der Umsetzung von modellhaften regionalen Pilotvorhaben mit Kantonen, Gemeinden und Wirtschaft zu.

Mit Blick auf die Zukunft zeigt sich, dass junge Erwachsene bis 35 Jahre öfter als frühere Jahrgänge erschöpft oder gestresst sind (Sotomo 2022). Frauen zwischen 18 und 30 Jahren sind mit 55 Prozent im Vergleich zu 24 Prozent der Männer stärker betroffen. Frauen leisten deutlich mehr Hausarbeit und haben einen höheren «Mental Load», beziehungsweise die Zuständigkeit für die Alltagsorganisation ist auch bei einem 100-Prozent-Erwerbspensum weitverbreitet. Eine gute Work-Life-Balance, Flexibilität und mehr Zeit sind der jungen Generation wichtiger als mehr Geld. Geeignete räumliche und zeitliche Voraussetzungen für den Alltag von Familien tragen wesentlich zur besseren Vereinbarkeit bei, wirken dem Fachkräftemangel entgegen, sparen Gesundheitskosten und sind wirtschaftlich relevant.

Dieser Text basiert auf dem Beitrag von Gabriela Muri «Raum- und Zeitpolitik für Familien – Herausforderungen und Lösungen», der am 5. Dezember 2023 in der EKFF-Sammelpublikation Familien und Familienpolitik in der Schweiz – Herausforderungen im Jahr 2040 erschienen ist.

Literaturverzeichnis

BFS (2021). Familien in der Schweiz – Statistischer Bericht 2021. Wie leben Familien in der Schweiz von heute? Medienmitteilung vom 11. Mai.

BFS (2022). Atypische Beschäftigungsformen 2010–2020, 10. November.

Bischof, Severin; Kaderli, Tabea; Liechti, Lena; Guggisberg, Jürg (2023). Die wirtschaftliche Situation von Familien in der Schweiz. Die Bedeutung von Geburten sowie Trennungen und Scheidungen. Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 1/23.

BWO (2020). Wohnforschung 2020–2023. Forschungsprogramm des Bundesamts für Wohnungswesen. März 2020.

Gesundheitsförderung Schweiz (2022). Job-Stress-Index 2022. Monitoring von Kennzahlen zum Stress bei Erwerbstätigen in der Schweiz. Faktenblatt 72.

Gnaegi, Philippe; Miller, Yvonne (2023). Schweizer Familienbarometer 2023. Was Familien in der Schweiz bewegt. Bericht im Auftrag von Pax und Pro Familia Schweiz, 4. April.

Jurczyk, Karin (2020). Doing und Undoing Family. Konzeptionelle und empirische Entwicklungen.

Kaufmann, David; Lutz, Elena; Kauer, Fiona; Wehr, Malte; Wicki, Michael (2023). Erkenntnisse zum aktuellen Wohnungsnotstand: Bautätigkeit, Verdrängung und Akzeptanz.

Muri, Gabriela; Kubat, Sonja (2018). Stadt der Zukunft II: Perspektiven der Zürcherinnen und Zürcher zwischen 30 und 39 Lebensjahren.

Neukomm, Sarah et al. (2019). Schlussbericht des Forschungsmandats G5 des Förderprogramms «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige». Studie im Auftrag des BAG.

Sotomo (2018). «Wie geht’s dir?». Ein psychisches Stimmungsbild der Schweiz. Studie im Auftrag von Pro Mente Sana.

Sotomo (2022). Wie geht es der Schweiz wirklich? Helsana-Emotionsstudie. Studie im Auftrag von Helsana, 29. August.

Travail.Suisse (2023). Stress und Erschöpfung bei Arbeitnehmenden – Ursachen, Folgen und Massnahmen für eine gesunde Arbeitswelt. Positionspapier.

Professorin für Kulturwissenschaften und Stadtforschung, ZHAW; Lehrbeauftragte, Universität Zürich
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