Auf einen Blick
- Das heutige Steuersystem betrachtet Ehepaare als Wirtschaftsgemeinschaft – und verletzt damit den Grundsatz der Zivilstandsneutralität.
- Der vom Bundesrat vorgeschlagene Wechsel zur Individualbesteuerung erhöht den Anreiz für verheiratete Zweitverdienende, das Arbeitspensum zu erhöhen.
- Daraus resultiert ein positiver Beschäftigungseffekt, der vor allem Frauen betrifft.
Das historisch gewachsene Steuersystem sieht eine gemeinsame Besteuerung von Ehepaaren und eine individuelle Besteuerung von unverheirateten Personen vor. Dies gilt sowohl bei der direkten Bundessteuer als auch bei den kantonalen Einkommens- und Vermögenssteuern.
Der Bundesrat schlägt nun einen Wechsel zur Individualbesteuerung vor – und zwar auf allen Staatsebenen. Der Gesetzesentwurf soll als indirekter Gegenvorschlag zur Steuergerechtigkeitsinitiative dienen, die der Bundesrat ablehnt.
Prinzip der Gleichbehandlung
Die Einkommensbesteuerung muss sich gemäss der Bundesverfassung an das Leistungsfähigkeitsprinzip halten: Steuerpflichtige mit dem gleichen Einkommen müssen auch die gleiche Steuerbelastung haben. Gleiches muss gleichbehandelt werden.
Das klingt so weit unstrittig. Doch wen vergleicht man überhaupt? Zählen alle Personen als Individuen, oder zählen Ehepaare als Wirtschaftsgemeinschaft? Da die Einkommenssteuer progressiv ausgestaltet ist, ist diese Unterscheidung relevant.
Das heutige System der gemeinsamen Besteuerung betrachtet Ehepaare als Wirtschaftsgemeinschaft. Zwei Ehepaare mit dem gleichen Gesamteinkommen haben grundsätzlich dieselbe Steuerbelastung. Dasselbe gilt für zwei unverheiratete Personen mit gleichem Einkommen. Der Preis für die Wahrung dieses Grundsatzes der sogenannten Globaleinkommensbesteuerung bei Ehepaaren ist die Verletzung der Zivilstandsneutralität: Die Steuerbelastung des Ehepaars weicht in aller Regel von derjenigen eines unverheirateten Paars in gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen ab.
Im Gegensatz dazu stellt die Individualbesteuerung unabhängig vom Zivilstand auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Individuums ab. Bei der Individualbesteuerung tragen somit Personen mit gleichem Einkommen grundsätzlich auch die gleiche Steuerbelastung. Weil dies unabhängig vom Zivilstand gilt, haben auch Ehepaare die gleiche Steuerbelastung wie unverheiratete Paare in gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen. Der Preis für die somit erreichte Zivilstandsneutralität ist die Verletzung der Globaleinkommensbesteuerung. Dies bedeutet, dass zwei Ehepaare mit gleichen Gesamteinkommen nicht dieselbe Steuerbelastung haben, wenn die Einkommensaufteilung zwischen den Eheleuten unterschiedlich ist.
Zielkonflikt entsteht durch Progression
Zwischen der Globaleinkommensbesteuerung und der Zivilstandsneutralität besteht also ein Zielkonflikt: Je progressiver der Steuertarif ist, desto stärker spielt es für die Steuerbelastung eine Rolle, ob das Individuum oder das Paar Einheit der Besteuerung ist. Diesen Zielkonflikt kann man ausschliesslich durchbrechen, indem man die Progression zugunsten einer proportionalen Einkommensbesteuerung aufgibt, die für alle Steuerpflichtigen unabhängig vom Einkommen denselben Steuersatz vorsieht. Der Preis dieser Lösung ist die Aufgabe der Umverteilungswirkung der Einkommenssteuer.
Zweiverdienerehepaare profitieren von der Reform
Der Wechsel von der gemeinsamen zur individuellen Besteuerung wirkt sich vor allem bei Ehepaaren auf die Steuerbelastung aus. Ehepaare haben heute gegenüber unverheirateten Personen den Nachteil, dass die beiden Einkommen für die Bestimmung der Steuerbelastung zusammengerechnet werden (Faktorenaddition) und dass sie dadurch in eine höhere Progressionsstufe geraten. Dem steht der Vorteil gegenüber, dass auf das zusammengerechnete Einkommen ein günstigerer Tarif zur Anwendung kommt als bei unverheirateten Personen (bei der direkten Bundessteuer ist es der sogenannte Verheiratetentarif, in den Kantonen kommt oft das eng damit verwandte «Splitting-Modell» zur Anwendung). Insbesondere bei der direkten Bundessteuer schafft auch der Zweiverdienerabzug bei niedrigen Zweiteinkommen eine Entlastung.
Mit dem Übergang zur Individualbesteuerung würden diese Vor- und Nachteile wegfallen, wobei je nach Konstellation das eine oder das andere überwiegen würde. Vor allem Ehepaare, bei denen beide Partner zu etwa gleichen Teilen zum Gesamteinkommen beitragen, profitieren vom Übergang zur Individualbesteuerung. Der Grund dafür ist, dass der Wegfall der Faktorenaddition gegenüber dem Verlust des günstigeren Tarifs überwiegt. Bei Ehepaaren mit einem Einkommen oder bloss einem kleinen Zweiteinkommen kommt es je nach Konstellation zu Mehrbelastungen. In diesen Konstellationen wiegt der Wegfall des günstigeren Verheiratetentarifs schwerer als derjenige der Faktorenaddition. Um solche Mehrbelastungen zu mildern, sieht die Vorlage des Bundesrates bei der direkten Bundessteuer eine Absenkung des Tarifs bei den tiefen und mittleren Einkommen vor. Die Tarifanpassung ist jedoch mit Mindereinnahmen verbunden.
Fachkräftepotenzial besser ausschöpfen
Gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS) waren 2022 in der Schweiz 83 Prozent der 15- bis 64-Jährigen erwerbstätig. Betrachtet man die Geschlechter getrennt, so sind es 87 Prozent bei den Männern und 79 Prozent bei den Frauen. Diese Quoten liegen über dem Durchschnitt der Staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).
Allerdings arbeiten 36 Prozent der erwerbstätigen 25- bis 54-jährigen Frauen Teilzeit. Bei den Männern sind es 15 Prozent. Betrachtet man nur Mütter, die in einer Partnerschaft leben, dann beträgt die Teilzeitquote 77 Prozent – während sie bei den Vätern bei 14 Prozent liegt.
Die Teilzeitquoten bei den Frauen sind im OECD-Vergleich hoch. Um das inländische Arbeits- und Fachkräftepotenzial stärker auszuschöpfen, besteht bei Frauen also noch ein grosses Potenzial. Eine Schlüsselrolle spielen – neben anderen Aspekten wie Wertvorstellungen oder Kinderbetreuungsmöglichkeiten – steuerliche Anreize. So deutet die empirische Literatur darauf hin, dass Zweitverdienende elastischer auf Veränderungen der Steuerbelastung reagieren als Erstverdienende. Massgebend ist dabei der sogenannte Grenzsteuersatz: die Steuerbelastung, die auf einen zusätzlich verdienten Franken anfällt.
Im Status quo ist die Grenzsteuerbelastung auf dem Zweiteinkommen tendenziell umso höher, je grösser das Ersteinkommen ist (siehe Abbildung). Diese Konsequenz resultiert aus der gemeinsamen Besteuerung, welche das Paar als Wirtschaftsgemeinschaft betrachtet und deshalb das Zweiteinkommen ausgehend vom Ersteinkommen besteuert.
Bei Ehepaaren ist der Tarifvorteil gegenüber unverheirateten Personen am grössten, wenn nur eine Person erwerbstätig ist. Mit jedem Franken Zweiteinkommen wird die Einkommensaufteilung gleichmässiger, womit der Tarifvorteil kleiner und der Nachteil der Faktorenaddition grösser wird. Man kann den Sachverhalt auch damit veranschaulichen, dass heute das Zusammenrechnen der beiden Einkommen oft zu einer hohen Grenzsteuerbelastung des Zweiteinkommens führt, weil das Zweiteinkommen ausgehend von der mit dem Ersteinkommen erreichten Progressionsstufe besteuert wird.
Mit der Individualbesteuerung fällt dieser Effekt weg, weil die Besteuerung des Zweiteinkommens unabhängig vom Ersteinkommen erfolgt. Aus diesem Grund ist die Grenzsteuerbelastung bei einer Ausweitung des Zweiteinkommens bei der Individualbesteuerung niedriger. Die Individualbesteuerung bietet somit im Vergleich zur gemeinsamen Besteuerung bessere Anreize für Zweitverdienende, das Arbeitspensum zu erhöhen.
Ausgehend von der Reduktion der Grenzsteuerbelastung schätzt der Bundesrat in seiner Botschaft, dass der Übergang zur Individualbesteuerung auf allen Staatsebenen einen Beschäftigungseffekt von 10 000 bis 44 000 Vollzeitstellen (Vollzeitäquivalente) hat. Bei derzeit 4,3 Millionen Vollzeitstellen entspricht dies einer Zunahme von 0,2 bis 1 Prozent. In der Schätzung enthalten ist auch ein leichter Rückgang bei der Erwerbstätigkeit der Erstverdienenden aufgrund des Wegfalls des Tarifprivilegs. Mit dem Beschäftigungseffekt bei den Zweitverdienenden ist auch das Ziel einer Stärkung der finanziellen Unabhängigkeit beider Eheleute verbunden, was die Vorsorge für das Alter und bei Scheidungen verbessert. Dies soll letztlich zur Gleichstellung von Frau und Mann beitragen.
Für Literaturhinweise siehe Botschaft des Bundesrates vom 21. Februar 2024.