Auf einen Blick
- Der soziale Schutz von Selbstständigerwerbenden ist geringer als derjenige von Arbeitnehmenden.
- Diverse parlamentarische Vorstösse befassen sich mit der sozialen Absicherung von Selbstständigen – sie zielen zum Teil jedoch in die entgegengesetzte Richtung.
- Für eine zweckmässige Lösung ist politischer Konsens nötig.
Selbstständigerwerbende und Arbeitnehmende sind in Bezug auf die soziale Absicherung nicht gleichgestellt. So sind Selbstständige nicht gegen Arbeitslosigkeit versichert. Und wenn sie sich gegen krankheits- oder unfallbedingten Erwerbsausfall schützen möchten, bestehen zwar Lösungsmöglichkeiten, die aber kostspielig sein können. Demgegenüber sind Arbeitnehmende durch die Lohnfortzahlungspflicht – sowie häufig auch durch eine kollektive Krankentaggeldversicherung – des Arbeitgebers abgesichert.
Selbstständige können sich zwar einer freiwilligen Unfallversicherung anschliessen – einen gleichwertigen Versicherungsschutz wie Arbeitnehmende erlangen sie aber nur, wenn sie pro Jahr mehr als 66 690 Franken verdienen (Stand 2023). Zudem bezahlen sie die Prämien für Berufsunfall selbst. Bei Arbeitnehmenden übernimmt diese der Arbeitgeber.
Auch in der beruflichen Vorsorge besteht keine gesetzliche Versicherungspflicht. Selbstständige können sich aber freiwillig versichern, wobei ihnen nur ein beschränktes Angebot zur Verfügung steht. Bei der Stiftung Auffangeinrichtung BVG können sie sich in jedem Fall nach den Vorgaben der obligatorischen beruflichen Vorsorge versichern, sofern sie jährlich mindestens ein Einkommen von 22 050 Franken erzielen (Stand 2023). Das Angebot wird aber nur wenig genutzt: Im Jahr 2020 waren gemäss einem Bericht des Bundesrats lediglich 537 Selbstständigerwerbende der Stiftung angeschlossen. Viele Selbstständige, insbesondere solche, die keine Mitarbeitenden beschäftigen und kleine, gering bezahlte Aufträge ausführen, können sich keine zweite Säule leisten und haben im Alter entsprechend weniger angespartes Alterskapital.
Verfassung verlangt sozialen Schutz für alle
Angesichts dieser Schlechterstellung von Selbstständigen stellt sich die Frage: Kommt die Schweiz mit dieser Absicherung von Selbstständigen dem Verfassungsauftrag genügend nach?
Gemäss der Bundesverfassung müssen sich Bund und Kantone dafür einsetzen, «dass jede Person gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Invalidität, Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Mutterschaft, Verwaisung und Verwitwung gesichert ist». Unter Berücksichtigung der persönlichen Verantwortung sollen alle an der sozialen Sicherheit teilhaben können.
Letztlich ist die Antwort eine politische. Denn programmatische Verfassungsnormen sind weit gefasst und bieten Konkretisierungsspielraum.
Zahlreiche Vorstösse und Postulatsberichte
Wenig überraschend fordern Parteien mit einer sozialpolitischen Agenda einen umfassenderen sozialversicherungsrechtlichen Schutz für Selbstständigerwerbende. Aber auch branchenübergreifende Verbände sehen Verbesserungsbedarf. So lancierte ein Initiativverein, dem unter anderem Suisseculture und Gastrosuisse angehören, im Jahr 2022 eine – mittlerweile wieder aufgegebene – Volksinitiative mit dem Ziel, den Erwerbsausfall von Selbstständigerwerbenden in einem erneuten Epidemiefall staatlich abzusichern (Entschädigungsinitiative).
Im Gegensatz dazu verlangen politisch liberale Stimmen, die Selbstständigkeit im Zuge des digitalen Wandels und den damit einhergehenden neuen Geschäftsmodellen zu stärken.
Verfechter von grösserer Parteiautonomie fordern in ihren Vorstössen insbesondere mehr Rechtssicherheit. So soll gemäss einer Motion von FDP-Nationalrat Philippe Nantermod bei der Antwort auf die Frage, ob jemand als angestellt oder selbstständig gilt, der von den Parteien gewählten Vertragsart (Arbeitsvertrag oder Auftrag) mehr Bedeutung zukommen: Behörden würden die Dienstleistenden derzeit zu vorschnell als Arbeitnehmende einstufen, weshalb sie in der Vertragsfreiheit eingeschränkt würden. GLP-Nationalrat Jürg Grossen will mit einer parlamentarischen Initiative den «Parteiwillen» als drittes Kriterium zur Bestimmung des Status im Bundesgesetz über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts verankern. Derzeit wird der Status nach den Kriterien wirtschaftliche Abhängigkeit und unternehmerisches Risiko beurteilt. In eine ähnliche Richtung zielte eine Motion von Andrea Caroni, Ständerat der Fraktion FDP-Liberale.
Der Bundesrat hat sich aufgrund von zahlreichen parlamentarischen Vorstössen jüngst wiederholt mit der sozialen Absicherung von Selbstständigen befasst. Unter anderem analysierte er die Vorsorgesituation von Selbstständigerwerbenden und prüfte angesichts der Zunahme der Zahl von Plattformbeschäftigten eine Flexibilisierung des Sozialversicherungsrechts («Flexitest»). Und derzeit untersucht er aufgrund eines Postulats von Mitte-Ständerätin Marianne Maret die soziale Absicherung von Kulturschaffenden, die häufig selbstständig erwerbstätig sind.
Im Herbst 2022 beauftragte der Nationalrat in einem Postulat von Benjamin Roduit (Mitte) den Bundesrat schliesslich, «eine umfassende Untersuchung über die Modalitäten der sozialen Absicherung der Selbstständigerwerbenden» durchzuführen. In einem Bericht wird er sich mit den Lücken und mit den Verbesserungsoptionen auseinandersetzen.
GmbH als Ausweg?
Während politische Akteure in unterschiedliche Richtungen ziehen, helfen sich die Betroffenen selbst und versuchen, die für sie passende Unternehmensform zu finden.
Selbstständigerwerbende und solche, die auf dem Weg zur selbstständigen Erwerbstätigkeit sind, haben einen Handlungsspielraum, sich gegen gewisse Risiken besser abzusichern. Manche gründen eine Firma (zum Beispiel eine GmbH) und stellen sich selber an. Man nennt sie Arbeitnehmende in arbeitgeberähnlicher Stellung. So erreichen sie denselben Unfallversicherungsschutz wie andere Arbeitnehmende und sind obligatorisch bei einer Vorsorgeeinrichtung angeschlossen.
In der Arbeitslosenversicherung bezahlen diese Personen zwar Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-Beiträge, aber sie können nicht denselben umfassenden Leistungsschutz wie andere Arbeitnehmende geltend machen. Die Gründung einer Firma ist aufgrund der obligatorisch geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge nicht kostengünstig und es ist denkbar, dass diese Unternehmensform für Erwerbstätige in Branchen mit geringer Gewinnmarge nicht geeignet ist.
Das heikle Modell der Lohnträgerschaft
Diese teilweise unbefriedigende Situation hat findige Anbieter auf den Plan gerufen, die Selbstständigen ein «einzigartiges Anstellungs- und Abrechnungsmodell samt Versicherungsschutz» versprechen. Diese Anbieter verfügen häufig über eine Bewilligung als Personalverleiher und richten sich als Lohnplattform an Freelancer. Doch aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht ist dieses sogenannte Lohnträgerschaft-Modell heikel.
Wenn Selbstständigerwerbende mit Hilfe eines Arbeitsvertrags zu Arbeitnehmenden «umgespritzt» werden, laufen sie Gefahr, dass im Fall von Arbeitslosigkeit oder im Fall eines Unfalls die Versicherungsleistungen verweigert werden, weil die Versicherungsträger den Status des Arbeitnehmenden nicht akzeptieren.
Ob Erwerbstätige den Status «Arbeitnehmende» oder «Selbstständigerwerbende» innehaben, hat somit unbestritten Auswirkungen auf deren soziale Absicherung. Nach dem derzeitig gültigen Recht können die Parteien diesen Status nicht selber bestimmen. Das hat auch ein jüngst vom Bundesgericht erlassenes Urteil betreffend des Fahrtenvermittlers Uber gezeigt. Das Gericht beurteilte die Fahrerinnen und Fahrer, die ihre Dienstleistungen über die Uber-Plattform anbieten, sozialversicherungsrechtlich als Arbeitnehmende und nicht wie von Uber gewollt, als Selbstständigerwerbende.
Eine Frage des politischen Willens
Wie kann es gelingen, diese Spannungsverhältnisse aufzulösen? Die laufenden Analysen des Bundesrates zeigen bisher: Selbstständigerwerbende in der Schweiz bilden keine homogene Gruppe. Der Schutzbedarf von jenen mit geringen Einkommen ist zweifellos höher als von jenen mit hohem Einkommen. Erstere können sich häufig keine freiwilligen Versicherungen leisten und es bestehen Eintrittshürden.
Nach einer Bedarfsanalyse und den teils bereits bestehenden Verfassungsgrundlagen – namentlich im Bereich der beruflichen Vorsorge, der Kranken- und Unfallversicherung sowie der Arbeitslosenversicherung – müsste in einem zweiten Schritt in den jeweiligen Gesetzen eine Grundlage für eine bessere soziale Absicherung für Selbstständigerwerbende geschaffen werden.
Der Ausbau hängt aber, wie erwähnt, vom politischen Willen ab. Kann eine politisch mehrheitsfähige Lösung gefunden werden? Ist es angesichts des rasanten Wandels der Arbeitswelt und den neuen digitalen Erwerbsmöglichkeiten an der Zeit, den sozialen Schutz für Selbstständige beziehungsweise einzelnen Gruppen anzupassen? Diese Fragen werden Politikerinnen und Politiker sowie die Verwaltung noch einige Zeit umtreiben.