Auf einen Blick
- Die Reform AHV 21 ermöglicht einen gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand.
- Realistische Einkommensmöglichkeiten von Personen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung werden bei der Bemessung des Invaliditätsgrades stärker berücksichtigt.
- Wenn ein Elternteil kurz nach der Geburt eines Kindes stirbt, verlängert sich der Mutterschafts- bzw. der Vaterschaftsurlaub für den hinterbliebenen Elternteil.
- Ein Kostenmonitoring in den Tarifverträgen verpflichtet Leistungserbringer und Versicherer, Massnahmen zur Steuerung der Gesundheitskosten vorzusehen.
Anfang 2024 treten im Sozialversicherungsbereich neue Bestimmungen in Kraft. Dieser Artikel gibt Versicherten, Arbeitgebenden und Fachpersonen einen Überblick über die anstehenden Änderungen (Stand Mitte November 2023).
Stabilisierung der AHV (AHV 21)
Die Reform zur Stabilisierung der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV 21) tritt gestaffelt in Kraft (siehe Grafik). Ab Anfang 2024 können Versicherte den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand fliessender und flexibler gestalten. Insbesondere können sie in der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) und in der beruflichen Vorsorge einen Teil der Altersrente vorziehen und den anderen Teil aufschieben (vgl. Sauvain 2023).
Künftig steht Versicherten, die über das Referenzalter von 65 Jahren hinaus erwerbstätig bleiben, frei, ob sie auf dem gesamten Lohn Beiträge bezahlen wollen. Wer auf den monatlichen Freibetrag von 1400 Franken verzichtet, kann Beitragslücken schliessen. Weiter sinkt die Wartezeit für den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der AHV von einem Jahr auf sechs Monate.
Im Zuge der AHV-Reform wird der Mehrwertsteuer-Normalsatz um 0,4 Prozentpunkte auf 8,1 Prozent angehoben. Der reduzierte Satz (Güter des täglichen Bedarfs) und der Sondersatz (Beherbergung) steigen um 0,1 Prozentpunkte auf 2,6 Prozent beziehungsweise auf 3,8 Prozent. Die dadurch erzielten Zusatzeinnahmen gehen – ebenso wie die Einnahmen aus dem Demografieprozent – vollständig an die AHV.
Die AHV 21 wird gestaffelt eingeführt
IV: Realistischere hypothetische Einkommen
In der Invalidenversicherung (IV) spielt der Invaliditätsgrad eine Schlüsselrolle: Aus ihm lässt sich ableiten, ob ein Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung (IV) besteht und wie hoch die Rente allenfalls sein wird. Die IV-Stellen ermitteln den Invaliditätsgrad, indem sie das Einkommen der versicherten Person vor und nach Eintritt der Invalidität vergleichen. Ist die Person nicht mehr erwerbstätig, greifen sie auf hypothetische Einkommen zurück, die auf statistischen Lohntabellen beruhen (BSV 2023a).
Ab Anfang 2024 werden die hypothetischen Einkommen bei Invalidität pauschal um 10 Prozent verringert. So können die tatsächlichen Einkommensmöglichkeiten von Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen besser berücksichtigt werden. Denn ihre Löhne liegen oft unterhalb der Referenzbeträge der Lohntabellen. Diese Anpassung dürfte einen höheren Invaliditätsgrad zur Folge haben und zu höheren IV-Renten und vermehrten Umschulungen führen.
Der neue pauschale Abzug von 10 Prozent wird ab 2024 in allen neuen Rentenfällen angewendet, in denen wegen eines fehlenden Einkommens ein hypothetisches Einkommen zu Tragen kommt. Innerhalb von drei Jahren müssen die IV-Stellen bereits laufende Renten nach den neuen Regeln revidieren. Die anderen Methoden zur Berechnung des Invaliditätsgrads sind nicht betroffen.
EO: längerer Urlaub für den hinterbliebenen Partner
Der Tod eines Elternteils unmittelbar nach der Geburt ist für die Familie und das Neugeborene ein Schicksalsschlag. Um dieser Situation Rechnung zu tragen, wird die Erwerbsersatzordnung (EO) per Anfang 2024 angepasst. Hinterbliebene Partner haben künftig Anspruch auf einen längeren Mutterschafts- beziehungsweise Vaterschaftsurlaub. Stirbt eine Mutter innerhalb von 14 Wochen nach der Geburt, wird dem Vater des Kindes ein 14-wöchiger Urlaub gewährt – und zwar zusätzlich zu den bereits bestehenden zwei Wochen Urlaub für den anderen Elternteil. Parallel dazu hat die Mutter im Falle des Todes des Vaters innerhalb von sechs Monaten nach der Geburt des Kindes Anspruch auf einen zweiwöchigen Urlaub.
Diese Regelungen gelten neu auch für die Ehefrau der Mutter bei gleichgeschlechtlichen Paaren. Die Ehepartnerin wird dabei auch als rechtlicher Elternteil anerkannt, wenn das Kind mittels Samenspende gezeugt wurde. Im Erwerbsersatzgesetz (EOG) wurden deshalb die Begriffe «Vaterschaftsurlaub» und «Vaterschaftsentschädigung» in «Urlaub des anderen Elternteils» beziehungsweise «Entschädigung für den anderen Elternteil» geändert.
EL: Ende der Übergangsperiode
Bei den Ergänzungsleistungen (EL) laufen Anfang 2024 die Übergangsbestimmungen der 2021 in Kraft getretenen Reform aus. Diese Bestimmungen zielten auf Personen, die bereits EL bezogen und deren Situation sich durch die Reform verschlechtert hätte. Während drei Jahren galten für die Betroffenen die alten (vor 2021 bestehenden) Regeln. Ziel war es, ihnen zu ermöglichen, ihre persönliche Situation anzupassen, insbesondere in Bezug auf die Miete.
Neu gelten auch für diese Personen die Vorgaben zum Vermögen beziehungsweise dem Vermögensverzicht. Die 2021 eingeführte Vermögensgrenze (100 000 Franken für Alleinstehende; 200 000 Franken für Ehepaare) kann beispielsweise dazu führen, dass Personen mit einem über diesen Höchstbeträgen liegenden Vermögen keinen Anspruch mehr auf EL haben. Nicht berücksichtigt wird der Wert von selbstbewohnten Liegenschaften.
Modernisierung der Aufsicht
Im Zuge der «Modernisierung der Aufsicht» nutzen die Durchführungsstellen der AHV, der EL, der EO sowie der Familienzulagen in der Landwirtschaft ab Anfang 2024 moderne Instrumente für das Risiko- und Qualitätsmanagement und setzen ein internes Kontrollsystem ein. Weitere Ziele sind die Verstärkung der Governance sowie die zweckmässige Steuerung und Aufsicht der Informationssysteme in der ersten Säule. Dazu werden die Aufgaben und Pflichten der Durchführungsstellen wie auch der Aufsichtsbehörde präzisiert.
Punktuell wird auch die Aufsicht in der zweiten Säule optimiert. Die Anpassungen zielen in erster Linie auf die Übernahme von Rentnerbeständen; zudem werden die Aufgaben von Expertinnen und Experten für berufliche Vorsorge präzisiert (Baumann 2020).
KVG: Prämienerhöhung und Massnahmen zur Kostendämpfung
Anfang 2024 treten vier Bestimmungen in Kraft, mit denen der Kostenanstieg auf das medizinisch begründbare Mass beschränkt werden soll. Sie bilden den sogenannten Teil 1b eines umfassenderen Kostendämpfungspakets, wobei das Teilpaket 2 – einschliesslich der Frage der Netzwerke zur koordinierten Versorgung – derzeit im Parlament behandelt wird:
- Erstens wird in den Tarifverträgen zwischen Leistungserbringern und Versicherern ein Kostenmonitoring eingeführt: Die Tarifpartner werden verpflichtet, Massnahmen zur Überwachung der Mengen, Volumen und Kosten vorzusehen. Im Falle eines übermässigen Kostenanstiegs müssen sie Korrekturmassnahmen zur Steuerung der Kosten vorsehen.
- Zweitens legt das Krankenversicherungsgesetz (KVG) neu fest, dass Apotheken ein preisgünstigeres Arzneimittel abgeben können, wenn mehrere Arzneimittel mit gleicher Wirkstoffzusammensetzung auf der Spezialitätenliste aufgeführt sind. Die Versicherten profitieren dabei von einem Selbstbehalt von nur 10 Prozent.
- Drittens können Versichererorganisationen beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde gegen kantonale Entscheide zu den Spitallisten führen. Legitimiert sind jedoch nur Organisationen, denen eine nationale oder regionale Bedeutung zukommt und die sich gemäss ihren Statuten dem Schutz der Interessen ihrer Mitglieder widmen.
- Die vierte Massnahme betrifft schliesslich parallelimportierte Arzneimittel: Ihre Kennzeichnung und die begleitenden Informationstexte sollen vereinfacht werden.
Darüber hinaus will der Bundesrat den Einsatz kostengünstigerer Generika mit mehreren Massnahmen fördern. Zu diesem Zweck hat er verschiedene Verordnungen angepasst.
In der obligatorischen Krankenpflegeversicherung kommt es 2024 zu einem starken Prämienanstieg: Gegenüber dem Vorjahr steigt die mittlere Monatsprämie um 28.70 Franken (+8,7%) auf 359.50 Franken. Die Durchschnittsprämie für Erwachsene beträgt neu 426.70 Franken (+ 8,6 %), jene für junge Erwachsene beläuft sich auf 300.60 Franken (+ 8,6 %) und jene für Kinder auf 111.80 Franken (+ 7,7%). Alle Prämienangaben sind abrufbar unter Open Data.
Eine weitere KVG-Anpassung zielt auf den Schuldenabbau von Minderjährigen: Minderjährige können nicht mehr betrieben werden, weil ihre Eltern die Krankenkassenprämien nicht bezahlt haben. Diese Änderung setzt der derzeitigen Regelung ein Ende, wonach jede versicherte Person, ob minderjährig oder volljährig, die sie betreffenden Krankenversicherungsprämien persönlich schuldet.
BVG: Erhöhung Mindestzinssatz
Schliesslich hat der Bundesrat auf Empfehlung der Eidgenössischen Kommission für berufliche Vorsorge den Mindestzinssatz in der obligatorischen beruflichen Vorsorge (BVG) per Anfang 2024 um 0,25 Prozentpunkte auf 1,25 Prozent angehoben (BSV 2023b). Der Mindestsatz legt fest, wie hoch das Vorsorgeguthaben der Versicherten im BVG-Obligatorium mindestens verzinst werden muss. Die Erhöhung erfolgt vor dem Hintergrund der gestiegenen Renditen der Bundesobligationen sowie der Entwicklung von Aktien, Anleihen und Liegenschaften.
Literaturverzeichnis
Baumann, Magali (2020). Modernisierung der Aufsicht, CHSS. 11 März.
BSV (2023a). Bemessung des Invaliditätsgrades. Hintergrunddokument. 18. Oktober.
BSV (2023b). Beträge gültig ab dem 1. Januar 2024.
Sauvain, Mélanie (2023). Gleitender Übergang in den Ruhestand: Mehr Flexibilität ab 2024, Soziale Sicherheit, 21. November.